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Oskar Steinert war umgezogen. Es hatte ihn erst eine gewisse Selbstüberwindung gekostet. Denn er hatte die hübschen Räume mit ihrer weiten Aussicht liebgewonnen und verließ nur ungern den Ort, wo er sich seit Jahren so wohl gefühlt hatte. Aber die Sorge für seine Frau überwog alle Bedenken. Und als sie ihn beim letzten Besuch bat, sie möchte die alten Räume nicht wiedersehen, kam der Rechtsanwalt diesem Wunsch um so lieber entgegen, als er selber glaubte, eine neue Umgebung müsse für seine Gattin besser sein als die alte mit all ihren traurigen Erinnerungen. In seinem fieberhaften Warten war es ihm ganz willkommen, daß er etwas für seine Frau tun konnte, und er war nicht leicht zufriedenzustellen. Schließlich aber fand er doch eine Wohnung auf der Südseite des Narvawegs. Die Zimmer waren modern ausgestattet, die Aussicht frei. Vom Erker des Salons aus sah man sogar noch ein Stück Wasser und eine Strecke der südlichen Hügel.
Als endlich der Tag gekommen war, an dem er seine Frau zurückerwarten durfte, wanderte der Rechtsanwalt den ganzen Morgen in seiner neuen Wohnung herum und betrachtete sich alles genau. Er war voller Spannung und Unruhe. Seine Frau hatte den Wunsch geäußert, er möge lieber nicht anwesend sein, wenn sie zum erstenmal wieder in ihr Heim zurückkehrte. Und obgleich ihm diese Anordnung einen qualvollen Vormittag der Erwartung eintrug, hatte er sich gefügt, wie er sich überhaupt in dieser Angelegenheit in alles fügte. Es war ihm allerdings nicht lieb, daß die Kinder seine Frau vor ihm sehen sollten. Und seine Empfindungen waren darum nicht so froher Natur, als er selber erwartet hatte, während er jetzt über die Bäume der Allee hinblickte, die sich in der kühlen Oktobersonne vor dem Wind bogen. Draußen wirbelten die ersten Blätter von den sterbenden Bäumen; und innen war zum erstenmal Feuer im Kamin angezündet. Der Rechtsanwalt warf einen letzten Blick auf die Wohnung, um sich zu vergewissern, daß alles in Ordnung sei. Das einzige, was noch fehlte, war eine alte Wanduhr, die ihm auf heute sicher versprochen und die doch nicht gekommen war. Ein bißchen nervös ging er zum Telephon und klingelte an. Die Uhr war für Frau Ellen zur Überraschung bestimmt, und das Herrichten hatte viel Zeit in Anspruch genommen. Daß sie jetzt noch nicht auf ihrem Platz stand, wo er doch ausgehen mußte, war ihm höchst unangenehm; und er war keineswegs geneigt, des Uhrmachers Versicherung, ein Unfall habe sich ereignet, für bare Münze zu nehmen.
Hastig sah er auf seine Taschenuhr und fand, es sei Zeit für ihn zu gehen. Noch ehe eine halbe Stunde um war, konnte seine Frau kommen. Und um keinen Preis wollte er riskieren, ihrem Wunsch entgegen jetzt mit ihr zusammenzutreffen. Er wechselte rasch ein paar Worte mit den Kindern, denen er auf der Treppe begegnete, bat sie ganz kurz, die Mutter zu grüßen, und ging.
Robin und Ebba wanderten müßig in der Wohnung umher. Unbeschreiblich feierlich kam ihnen dieser Tag vor, feierlich und doch auch unheimlich, als könne irgend etwas Schreckliches sich ereignen. Der Vater bedeutete für sie, wie für so viele Kinder ihres Alters, nicht viel. Papa hatte zu arbeiten; wenn er daheim war, war er eigentlich immer auf seinem Zimmer. Mit ihnen spielen hatte er nie können, mit ihnen reden – darauf verstand er sich nicht. Letzten Sommer hatte er sie einfach Tora überlassen und war froh gewesen, daß sie ihm die Last abgenommen hatte, die ihn ja doch nur drückte. Er hatte sich zu Hause gewissermaßen ruhig und sicher gefühlt, weil er überall ihre feste, ordnende Hand spürte, die für alles da zu sein schien. Bei ihr, das wußte er, waren die Kinder gut aufgehoben. Und dies Bewußtsein gestattete ihm, sich selbst zurückzuziehen, zu leben wie ein Einsamer, der von der Arbeit zur Ruhe und von der Ruhe wieder zur Arbeit ging. Und Robin und Ebba hatten das in ihrer Weise auch verstanden, und mehr als je hatte es sie dem Vater entfremdet. Mehr und mehr ward er für sie, was er für die meisten Menschen war, ein Sonderling, der sich von anderen und andere von sich fern hielt. Daß der Vater jetzt, in dieser Stunde, fortging, wunderte sie gar nicht. So sehr waren sie daran gewöhnt, sich ihr Zuhause ohne ihn zu denken.
»Glaubst du, Mama ist wie sonst?« sagte Ebba, als der Vater fort war.
»Wie kann ich das wissen?« erwiderte Robin. Es klang fast ärgerlich. Robin war, als der ältere, fast in noch größerer Spannung als die Schwester, aber weil sie doch jünger war, glaubte er, ihr gegenüber eine gewisse Vorsicht zur Schau tragen zu müssen.
Doch Ebba ließ sich nicht so leicht abspeisen.
»Glaubst du, Mama hat Heimweh nach uns gehabt?« fragte sie wieder.
»Freilich,« sagte er.
»Aber warum hat sie dann nicht ein einziges Mal geschrieben? Und warum hat sie uns nicht einmal Adieu gesagt?«
»Sie durfte nicht, verstehst du nicht?«
Robin saß zusammengekauert auf einem Stuhl am Fenster. Er hatte ein volles, rundes Gesicht, kleine, lebhafte Augen und gut gekämmtes und frisiertes Haar. Über seinem ganzen Wesen lag etwas Alltägliches, Banales, eine Andeutung des künftigen Snobs.
»Wenn jemand so krank ist, wie Mama, darf er keinem Menschen schreiben und zu keinem Menschen sprechen«, erklärte er. »Er wird einfach eingeschlossen und darf nicht einmal heraus, wenn er will.«
Ebba schauderte.
»Glaubst du, so ist's mit Mama gewesen?«
»Freilich. Das weiß ich.«
»Aber warum denn?«
»Damit sie nichts Schlimmes tun!«
Ebbas Augen wurden ganz groß. In diesem Augenblick war es nicht das Kind, das die Mutter bemitleidete. Es war der wache, wißbegierige Mensch, der Antwort wollte auf seine Fragen.
»Glaubst du, Mama hätte uns etwas Schlimmes antun können?«
Robin dachte nach.
»Das ist wohl möglich, weil sie doch nicht bei Verstand war.«
»Ja, aber jetzt?«
Er setzte eine verächtliche Miene auf.
»Jetzt ist sie wieder gesund. Sonst dürfte sie doch nicht heim kommen.«
So fuhren die Kinder fort von der Mutter zu reden. Niemand hatte ihnen etwas gesagt; der Vater nicht, weil er nicht konnte, Tora Ljung nicht, weil sie nicht wollte. Die Antipathie, die sie im geheimen gegen Steinerts Frau hegte, hatte sie daran gehindert. So oft sie mit den Kindern über diesen Gegenstand hatte reden wollen, war es ihr gewesen, als stünde sie im Begriff, schlecht von ihrer Mutter zu sprechen. Die Kinder fragten Tora auch gar nicht. Sie war gut zu ihnen, und sie mochten sie gern. Aber es widerstrebte ihnen, mit ihr von der Mutter zu sprechen; denn wenn Mama zu Hause war, kam Tante Tora nie, das wußten sie, und darum vermieden sie instinktiv das heikle Thema. Die Dienstmädchen waren die einzigen, von denen irgend etwas zu erfahren war; und diese Quelle des Wissens hatten die Kinder auch fleißig benutzt. Was Ebba jetzt fragte und was der Bruder antwortete, waren alte Fragen und Antworten, die sich nur zwischen ihnen wiederholten. Sie kehrten immer wieder darauf zurück, nicht weil sie fürchteten, die Mutter zu verlieren – sie wußten ja, sie würde heim kommen, und diese Gewißheit war ihnen genug – sondern sie redeten bloß, um die eigene Spannung zu mildern, während sie auf das Läuten der Vorzimmerklingel warteten, und weil sie auf das erste große Rätsel in ihrem Leben gestoßen waren, das keiner ihnen lösen helfen wollte . . . Im Sommer hatten sie es zeitweilig vergessen. Aber das Thema war doch oft zwischen ihnen aufgetaucht, und von dem Moment an, da die Schule wieder begann und sie wieder in der Stadt waren, hatten sie davon gesprochen, so oft sie überhaupt allein waren.
»Es klingelt«, sagte Ebba plötzlich und sprang auf.
»Nein«, erwiderte Robin. »Das war auf der Straße.«
Beide saßen eine Weile schweigend da und horchten auf die Straßenbahn, die vorüber fuhr.
Dann sagte Ebba: »Glaubst du, wer so krank gewesen ist, wie Mama, kann wieder ganz gesund werden?«
»Freilich«, erwiderte Robin.
»Ja, aber ganz richtig, mein' ich. Daß man ganz gewiß weiß, sie wird nie wieder krank, wie früher.«
Ebba fühlte eine Unruhe, die ihr eine seltsame Furcht einjagte. Robin war eine weit positivere Natur als die Schwester. Er sah seine Welt mit nüchternem Blick an und war darum kritisch.
»Ich bin bang!« sagte die Schwester.
»Warum denn?«
»Denk' – wenn Mama doch nicht so ganz gesund ist!«
Gegen seinen Willen ward Robin ängstlich. So hatte die Schwester noch nie gesprochen. Die Einsamkeit begann auch ihn zu bedrücken.
»Du mußt dich nicht fürchten«, sagte er mit einer Art ungeschickter, verlegener Knabenfreundlichkeit.
»Nein, nein«, erwiderte Ebba. »Ich werd' schon nicht.«
Wieder saßen die Kinder schweigend da, jedes auf seinem Stuhl, ohne Beschäftigung.
Zuletzt sprang Robin auf.
»Jetzt klingelt es!« rief er.
Mit heißen Wangen ging er ins Vorzimmer und öffnete. Da stand die Mutter. Er streckte ihr die Hand entgegen und trat dann zurück, damit sie eintreten konnte. Die Mutter umfing die Kinder mit beiden Armen und zog sie mit sich ins Eßzimmer. Die Vorzimmertür ließ sie offen. Sie trug einen langen, dunkeln Mantel und einen neuen Hut. Die Kinder standen neben ihr, jedes auf einer Seite, und wußten nicht, sollten sie etwas sagen oder lieber anfangen zu weinen. Die Mutter legte den Mantel ab, nahm sie beide aufs neue in den Arm, küßte sie und zog sie mit sich in den Salon. Da sank sie auf einen Stuhl und begann, zu ihnen zu sprechen, kurze, abgerissene Worte, Worte der Freude, der Rührung, wie noch nie. Und die Spannung der Kinder wich der Freude – – jetzt wußten sie es: Mama war wieder da! Im Eßzimmer hörte man die Schritte der Jungfer, die leise hinausging und die Korridortür schloß.
Ellen Steinert wanderte durch die Wohnung, besah sich alles, was ihr neu war, alles, was sie schon kannte . . . Sie ging in die Küche und begrüßte die Mädchen, dann ins Kinderzimmer, in ihr eigenes Zimmer. Da blieb sie lange. Nachdem sie gegangen war, sahen die Kinder einander an; beide waren erstaunt, daß dies bißchen, was da geschehen war, wirklich alles sein sollte. Sie hatten so unendlich viel mehr erwartet. Inzwischen wurde es Zeit zur Schule zu gehen, und Ebba wagte endlich an die Schlafzimmertür zu klopfen. Fortgehen ohne der Mutter Adieu zu sagen, das, meinte sie, sei doch nicht möglich.
Als sie ins Zimmer traten, stand Mama am Fenster, und sie sahen, daß sie geweint hatte. Und in ihnen erwachte plötzlich ein Verstehen dafür, wie die Mutter gelitten, wie einsam sie sich gefühlt haben mußte. Aber keins von ihnen vermochte etwas zu sagen. Viel erregter, als sie selber begreifen und ausdrücken konnten, gingen sie, ohne ein Wort zu wechseln, liefen die Treppe hinunter und riefen die Elektrische an, die eben vorüberfuhr.
Einsam wanderte Frau Ellen durch die neuen Räume, in denen ohne ihre Hilfe ihr Heim geschaffen worden war. Sie betrachtete noch einmal alles, und ihr war, als könne sie sich selber nicht klar darüber werden, was eigentlich fehlte. Zuletzt ging sie ins Zimmer ihres Mannes. Sie begann den Schreibtisch aufzuräumen, legte sorgfältig die Papiere aufeinander, ohne an ihrer Reihenfolge etwas zu ändern, staubte das Schreibzeug ab, stellte allerlei Kleinigkeiten auf ihren Platz . . . Zuletzt setzte sie sich in den Stuhl, wo sie früher immer zu sitzen pflegte, wenn sie Steinert erwartete. So recht klar und wirklich war ihr das Ganze noch nicht. Das Gewesene überschattete sie – aber ohne Bangen, fast auch ohne Wehmut. Langsam begann die Tatsache, daß sie wieder daheim war, auf sie zu wirken und erweckte in ihr eine Art unbestimmter Angst, als gehe sie Pflichten entgegen, die Anstrengung und Ruhe forderten. Ihr war, als hätte sie noch nie so empfunden, was eigentlich die Einsamkeit für sie bedeutete, die Ruhe dieser langen Einsamkeit, die sie so widerwillig auf sich genommen hatte, und während deren doch Klarheit in sie zurückgekehrt war . . .
Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß das, was gewesen, wiederkehren könnte. Schwermut, Zwangsgedanken, Krankheit, alles war fort; sie hatte sich selber wieder in der Gewalt. Wie um sich von ihrer Kraft zu überzeugen, ging sie in die Küche und sprach mit der Köchin wegen des Mittagessens. Ein bißchen länger, als just notwendig gewesen wäre, sprach sie darüber. Als sie wieder im Eßzimmer war, ging sie ans Klavier und prüfte dessen Ton. Es klang gut und rein. Sie merkte – ihr Mann hatte nicht vergessen, das Instrument stimmen zu lassen. Etwas wie Wärme und Dankbarkeit blühte in ihr auf; als sie sich umsah, sah sie auf einmal auch die Blumen. Auf dem Eßzimmertisch stand eine riesige Aster, ein Topfgewächs, und im Salon war eine ganze Vase voll Rosen. Man erwartete sie daheim, alles war für sie geordnet und geschmückt . . .
Plötzlich kam ihr der Gedanke, sie hätte doch gern ihren Mann hier gehabt; dann hätte sie nicht diesen ganzen ersten Vormittag allein und voller Unruhe zu sein brauchen.
Ohne weiter zu überlegen, ging sie ans Telephon und klingelte an – die alte Nummer. Sie fühlte sich ganz enttäuscht, als sie den Bescheid erhielt, der Herr Rechtsanwalt sei ausgegangen. »Sagen Sie ihm, seine Frau hätte angeläutet«, bat sie. Als sie in den Salon zurückkam, blieb sie zufällig vor dem alten Spiegel im Mahagonirahmen stehen, vor dem sie sich einst noch im Elternhaus als Braut angekleidet hatte. Außer dem Empiresofa und dem Kronleuchter aus altem französischen Glas war dies die einzige Erinnerung aus der Seine-Heimat. Lange blieb sie stehen und musterte aufmerksam ihre Züge und die hohe volle Gestalt, die an Umfang zugenommen hatte, dank der Mastkur und dem vielen Schlaf. Sie war unzufrieden, daß ihre Haut alle die feinen Falten noch immer hatte, die doch, wie sie gehofft, fortgehen sollten. Kühl begegnete sie ihrem eigenen Blick in dem klaren Glas.
Inzwischen wartete Oskar Steinert voller Unruhe. Arbeiten konnte er nicht, mit Menschen zusammen sein noch weniger. Ziellos trieb er sich in der Stadt umher, nur damit die Zeit vergehen sollte. Ehe seine Frau es wünschte, wollte er nicht heimkommen, und die Stunden wurden ihm lang. Er versuchte, durch die engen Straßen der Stadt zwischen den Brücken herumzuschlendern und sich einzureden, daß ihn die schönen alten Häuser dort interessierten, und daß er einen Haß hätte auf die pietätlosen Neubauten, daß er sich in vergangene Zeiten zurückträumte und in die Gedanken verstorbener Menschen. Aber der Versuch wollte nicht glücken. Die pittoresken Ausblicke auf die engen Gassen, deren Düster ab und zu durch einen Blick auf die Kais unterbrochen ward, wo plötzlich blau das Wasser aufleuchtete, ließen ihn kalt. Die krummen Straßen selber mit ihrem Reichtum an eigentümlich fesselndem Leben harmonierten nicht mit seinem Gedankengang, der sich so entschieden mit der Gegenwart, mit ihm selbst, beschäftigte. Oskar Steinert hatte ganz einfach Sehnsucht, wie der allerunvernünftigste Jüngling, Sehnsucht nach seiner Frau, Sehnsucht, zu sehen, was er aus dem Wesen der Wiedergekehrten für die Zukunft hoffen durfte. Es war, als hielte seine Frau sein Leben in ihrer Hand und als müsse diese erste Begegnung über die ganze Zukunft entscheiden. Um die Zeit totzuschlagen, ging er in ein Restaurant, wo er nicht fürchten mußte, auf Bekannte zu stoßen. Beim Verlassen des Lokals sah er nach der Uhr. Es war Zwei, erst in drei Stunden war seine Essenszeit. Mit raschen Schritten ging er über die Nordbrücke und schlug den Weg nach seinem Bureau ein, als hätte er endlich einen Entschluß gefaßt und sich davon überzeugt, daß die Zeit schneller gehen würde, wenn er sie mit Arbeit ausfüllte.
Als er in sein Zimmer trat, teilte ihm sein Laufjunge mit, daß Frau Steinert angeklingelt hatte.
»Es ist gut«, sagte der Rechtsanwalt, so ruhig er konnte. Als er allein war, überfiel ihn ein eigentümliches Zittern; er war im ersten Augenblick gar nicht Herr über seine Gedanken. Sein erster Impuls war, sich zum Apparat zu wenden, der neben ihm auf dem Schreibtisch stand. Aber es widerstrebte ihm, daß die Stimme seiner Frau, wenn er sie zum erstenmal wieder daheim hörte, mit dem fremden, fernen Klang an sein Ohr tönen sollte, den die Stimme im Telephon annimmt.
Seine Frau war voll Ungeduld, ihn zu sehen; soviel war sicher. Und indem er hastig durch das äußere Zimmer schritt, gab er im Vorübergehen mit ein paar Worten zu verstehen, er würde heute nicht mehr aufs Bureau kommen. Als er auf der Straße war, rief er eine Droschke an und stieg ein. Er lächelte selber über sich, lächelte mitten in all den erregten Gedanken, die über ihn hinwogten. Ihm war zumute wie einem Liebhaber, der zu einer ersten Zusammenkunft eilt – beklommen und doch glücklich, ungewiß, was ihn erwartet, voll Furcht und Hoffnung. Die Fahrt in der Droschke beruhigte ihn etwas. Eine Droschke ist wie ein Schutzzelt. Wer drin sitzt, braucht nicht zu fürchten, daß er von den Vorübergehenden angesprochen wird. Als der Rechtsanwalt jetzt aufsah, merkte er plötzlich, wie schön es war ringsum. Die Luft, das Wasser, die Holzkähne am Kai, Skeppsholmen mit seinen kahlen Bäumen, die Südvorstadt mit dem Sonnenglanz über den steilen Hängen, der Tiergarten der im Schmuck des Herbstes stand, der Dampfer der mit gefälltem Schornstein eben unter der Brücke durchglitt – alles hatte auf einmal Glanz und Farbe von seiner eigenen Gemütsstimmung.
»Ein neues Stockholm ist emporgewachsen«, dachte Steinert. »Ein neues Stockholm, das ich nicht kenne, dem ich mich aber nähern will von dem Tag an, an dem das Unglück mich nicht mehr zu Boden drückt.« Ein unbestimmtes Gefühl wie von etwas lang Versäumtem, etwas, das an ihm vorübergegangen war und ihn einsam zurückgelassen hatte, überkam ihn und überschattete einen Augenblick seine Freude, wie eine Wolke, die über die Sonne zieht und sie eine Weile verdunkelt. Jetzt fuhr er den Narvaweg hinauf, jetzt sah er die Sonne wieder, jetzt vergaß er alles über dem Bewußtsein, daß er zum erstenmal wieder seit langer, langer Zeit heim fuhr.
Als er eben zur Haustür hinein wollte, begegnete ihm ein ärmlich gekleideter Mann mit einem Vollbart, der ihm bekannt vorkam. Der Mann zog den Hut und grüßte.
Da sah Steinert, daß der kleine Mann im Vollbart der Uhrmachergehilfe war; jedenfalls war er erst jetzt mit der Uhr gekommen. Das Gesicht des Rechtsanwalts verfinsterte sich.
»Haben Sie die Uhr erst jetzt gebracht?« sagte er kurz.
»Es ist ein Unglück geschehen, Herr Rechtsanwalt«, erwiderte demütig der Mann.
»Ein Unglück? Was wollen Sie damit sagen? Sie hatten sie doch ganz bestimmt zu gestern versprochen.«
Er kämpfte mit seiner Heftigkeit, die nahe daran war auszubrechen. Seit langer Zeit stand diese Uhr als eine Kostbarkeit bei ihm im Haus, ohne hergerichtet zu sein. Es war ein seltenes, altes Stück, eine alte Morauhr, die seine Frau von einer Verwandten geerbt hatte. Steinert hatte jetzt ein neues Werk bestellt, das Gehäuse frisch herrichten lassen und freute sich, bis seine Frau sehen würde, daß er mit dieser kleinen Überraschung ihrer gedacht hatte. Wenn sie heim kam, sollte die Uhr dastehen, und ihr weicher Schlag sollte sie froh machen, grade in diesen ersten Stunden, solang sie allein war im neuen Heim. In der Verzögerung lag etwas so Verfehltes, daß es ihn erschreckte wie eine böse Vorbedeutung; voll Empörung gegen den Mann, der seine Absicht durchkreuzt hatte, wartete er jetzt auf die Antwort.
Der Mann verstand natürlich nicht, warum der Rechtsanwalt so zornig war, sah nur seinen Ärger und seine Ungeduld und antwortete:
»Man kann beim besten Willen nicht immer alles halten, was man verspricht.«
»Nein, freilich«, lautete die höhnische Antwort.
»Mein kleiner Junge ist gestern aus dem Fenster gestürzt«, fuhr der Mann fort. »Wir wohnen ganz oben unterm Dach. Darum habe ich gestern nicht arbeiten können.«
Des Rechtsanwalts Zorn machte einem Gefühl des Mitleids und der Scham Platz.
»Was sagen Sie da?« rief er und griff nach des Mannes Hand. »Das hab' ich nicht wissen können!«
Das Gesicht des andern zuckte.
»Nein«, sagte er. »Das begreif' ich auch gut.«
»Wie ist es denn geschehen?« fragte Steinert.
In diesem Augenblick hatte er sich selbst ganz vergessen; er dachte bloß noch an den Mann, der da so arm und traurig vor ihm stand.
»Meine Frau war aus dem Zimmer gegangen«, erwiderte dieser. »Es war kaum eine Minute. Da hört sie jemand schreien und stürzt hinein. Aber es war schon zu spät.«
»War er tot?« fragte hastig der Rechtsanwalt.
»Nein«, war die Antwort. »Das ist's eben – er war nicht tot. Ich mußte ihn ins Spital tragen. Und das nahm den ganzen Nachmittag; darum bin ich mit der Uhr nicht fertig geworden.«
Der Rechtsanwalt konnte nichts erwidern. Das kam alles so unerwartet mitten in seine Gedanken hinein, daß er keine Worte fand für das, was er hatte sagen mögen. »Wo wir gehen, treten wir auf andere«, dachte er. »Unser Weg ist voll vom Unglück anderer, über das wir vorwärts müssen.« Im selben Augenblick fiel ihm die Szene vor Gericht wieder ein, die unglückliche Frau, die bei ihm Hilfe gesucht hatte und verurteilt worden war ohne den Beistand eines sachkundigen Verteidigers.
»Lebt der Kleine?« fragte er endlich.
»Ich weiß nicht«, antwortete der Vater. »Heute morgen lebte er noch – merkwürdigerweise. Die Mutter ist bei ihm.«
»Und Sie haben weggehen können, an Ihre Arbeit?« rief der Rechtsanwalt, als wäre dieser Gedanke etwas ganz Neues für ihn.
»Man tut eben seine Pflicht«, antwortete der Mann.
Langsam steigt Steinert die Treppe empor. Diese letzten Worte hatten ihn stärker gepackt als das ganze Geschehnis, das ihm der Mann erzählt hatte. Er glaubte die ganze Szene vor sich zu sehen –: die kleine Dachstube, die Mutter, die hinausgeht, der tiefe Hof des fünfstöckigen Hauses mit dem Steinpflaster unten, das Kind, das hinabstürzt und nicht einmal tot ist, der Vater, der heimkehrt und das zerschmetterte Kind fortträgt, eilig, rasch, um nicht die paar Kronen Verdienst zu verlieren, die doch nicht einmal fürs Begräbnis ausreichen würden.
»Der Mann versteht's, seine Pflicht zu tun«, dachte er. Ein Gefühl der Schwäche, der Minderwertigkeit erfüllte ihn.
Jetzt drückte er auf die Klingel und trat ein. Er kam ins Eßzimmer; da stand die Uhr, neu und fertig, und tickte sachte den Takt zur verinnenden Zeit . . . Der Rechtsanwalt ging vorbei, in sein Zimmer. Die ganze Zeit über mischte sich in ihm der Eindruck der Szene, die er soeben erlebt hatte, mit dem Gefühl gespannter Erwartung, das ihn den ganzen Tag erfüllte. Fast zögernd trat er über die Schwelle. Da saß seine Frau im Sessel vor dem Schreibtisch. Auf den ersten Blick glaubte er, er habe gut daran getan, zu kommen. Seine Frau erhob sich und ging ihm entgegen. Sie sah müde aus, wie erschöpft vom langen Warten.
»Ich habe nicht gewußt, daß du mich so bald schon sehen wolltest«, sagte Steinert.
»Das Alleinsein ist mir lang geworden«, erwiderte sie.
Die Antwort klang kühler in Steinerts Ohren, als er sie sich erhofft hatte; mit einem forschenden, fragenden Blick sah er die Gattin an. Sie war verändert, ohne daß er sich gleich klar zu machen vermochte, wieso, und er mußte gegen die Enttäuschung ankämpfen, die in ihm aufstieg, um wenigstens etwas von der erträumten Freude zu retten. Das Gespräch zwischen den beiden war anfangs ziemlich scheu, gleichsam zögernd. Hinter den Worten, die gesprochen wurden, ahnten sie beide andere, unausgesprochene; unter allem, was sie berührten, lag etwas anderes, über das man stillschweigend hinwegglitt . . . Es war für beide eine Erleichterung, als Steinert schließlich sagte:
»Und du bist wieder gesund, Ellen! Das ist doch das allerbeste!«
Ellen rückte auf dem Sofa näher zu ihm hin und blickte auf, ihm ins Gesicht.
»Du hast es recht schwer gehabt mit mir«, erwiderte sie, ihn voll ansehend.
Steinert fuhr sich mit einer ihm eigentümlichen Gebärde übers Gesicht, als wollte er etwas verstecken oder wegwischen, was niemand sehen sollte.
»Wenn etwas Schweres vorüber ist, sieht es immer leichter aus«, erwiderte er mit einem Versuch, einen leichteren Ton anzuschlagen. »Der Sommer hat mir auch gut getan, wie dir.«
Er hatte die Worte noch kaum gesagt, als er sie auch schon bereute. Über das Gesicht seiner Frau zog eine Wolke; sie kniff die Augen zusammen, wie um zu verbergen, was sie empfand.
»Tora Ljung hat dir gut getan«, sagte sie bitter.
Und wie um ihre Worte wieder gut zu machen, fügte sie hinzu: »Ich bin ihr auch dankbar.«
Steinert zögerte einen Augenblick, ob er noch mehr sagen sollte. Da jedoch das heikle Thema einmal angeschlagen war, fuhr er fort: »Ich allein hätte den Kindern keinen so guten Sommer verschaffen können.«
Jetzt polterte es draußen im Vorzimmer. Die Kinder waren aus der Schule gekommen. Wieder wurde die Atmosphäre um die beiden leichter; der gespannte Ausdruck im Gesicht der Frau wich. Langsam kamen die Kinder herein, feierlich fast; auch sie empfanden es als Erleichterung, daß sie nicht allein waren mit der Mutter. Zum erstenmal seit langer Zeit war wieder die ganze Familie versammelt. Und in allen vieren war etwas von dem geheimnisvollen Ganzheitsgefühl, das eine Familie schafft, das aus mehreren eine Einheit macht. Zusammen gingen sie ins Eßzimmer, wo das Mittagessen wartete. Wie voller Freude über eine neu gewonnene, verheißungsvolle Zukunft lächelten sie einander freundlich zu. Das weiße Tischtuch mit seinem Läufer aus grün gewässertem Papier war mit Blumen geschmückt wie zu einem Fest.
Aber Oskar Steinert war zumute, als säße er als Zuschauer vor einem Ereignis, das ihn gar nichts anging.