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Wie der graue Morgen nach einer verstürmten Nacht im Nebelmantel gekommen war, befand sich Knudt Klähn mit seinem jüngeren Sohne Jens bereits unten am breiten Priel, an dem Jochen gestern abend das Boot verankert hatte. Der Nebel schlug sich nieder, und das Segel des Bootes wurde gehißt. Ein günstiger Wind trieb das Schifflein vor sich her, jener Stelle entgegen, an welcher im Frühlichte die verschwommenen Umrisse der kleinen Hallig Habel mit der einzigen Werft sichtbar wurden.
Währenddem saß Jochen Klähn mit Urgroßmutter Eike in der Stube, nähte ein Segel aus rotbraunem Linnen und erzählte der greisen Frau, die zeitweilig das Spinnrad in Bewegung setzte, von der Sorge des Kapitäns.
»Olk,« sagte Jochen, »Ocke Frerksen ist bis Mitternacht geblieben.«
Wie die Alte von Ocke Frerksens Leid erfuhr, zerbrach ihr der Faden zwischen den zitternden Fingern; sie legte die Hände in den Schoß und sann mit geschlossenen Augen zurück in eine ferne Zeit. Unter der schwarzen Friesenhaube hervor fielen die dünnen schneeweißen Strähnen ihres Haares, liefen um die faltenreiche Stirn und ringelten sich vor den Ohren zu silbernen Schnecken, deren jede von einer schwarzen Nadel durchstochen war.
Wie schlummernd saß die Greisin lange gegen die Rückenstütze des Holzstuhles gelehnt. Um ihre Lippen kam jenes Zucken, das die tiefen Falten ihres Gesichts in seltsamem Spiele bewegte.
»Was sinnt Olk Eike?« fragte Jochen Klähn, dessen Nähfaden durch das braune Segeltuch glitt.
Da faltete die greise Frau die Hände. »Ich denke daran, daß Dein Großvater und der Kapitän zusammen Kinder waren und daß beide die blaue Ader über der Stirn hatten. Die Leute sagen, sie sind gezeichnet gewesen. Deinen Großvater, den ältesten meiner Söhne, hat die See verschlungen, und von den Halligleuten ist keiner unglücklicher gefahren als Ocke Frerksen ...«
Dann verfiel die Alte in stummes Sinnen, und als sie wieder zu ihrem Urenkel herüberblickte, der auf der Schiffskiste saß, da war's, als besinne sie sich auf etwas. Jochen Klähn wunderte sich darüber nicht. Die Alte sprach oft zusammenhanglos, zerrissen, und jetzt sagte sie: »Hast Du Nägel aus dem Schränklein bei dem Wandbrette geholt?«
Jochen Klähn merkte, daß die Neunzigjährige sich wohl noch nicht recht aus der anderen Zeit zurückgefunden hatte, in der sie soeben mit ihren Gedanken gewesen war.
»Nägel?« fragte Jung Jochen. »Wann hat denn Großmutter das wahrgenommen?«
»In dieser Nacht.«
»Nein, Olk.«
»So war's Dein Vater?«
»Nein.«
»So hat Urgroßmutter geträumt.«
Aber Olk Eike sträubte sich: »Nein, Kind, nein; denn ich saß wach im Bette, saß lange wach; der Husten kam so oft und weckte mich immer von neuem. Es war längst Mitternacht vorüber. Ich hörte den Wind und wußte: er läuft nun aus Nordwest. Ich meine, wenn ich deutlich vernommen habe, daß der Wind sich wendet – denn er hat eine andere Stimme, wenn er über die See her läuft – so wird das mit den Nägeln wohl auch richtig sein.«
Jochen Klähn suchte die Alte auf andere Wege zu führen. »Ocke Frerksen hat das Nordlicht gesehen,« berichtete er geschäftig, »und Frerksen sagt: wenn das Nordlicht steht, wechselt das Wetter. Der Kapitän hat recht gehabt.«
Jochen hoffte, Großmutter Eike werde nun vergessen haben, was sie in der Nacht gehört haben wollte. Aber die Alte begann von neuem: »Und wie ich so wach saß und den Schein aus Frerksens Fenster gehen sah, der bis hinunter über die Fenne lief, da sah ich auch, daß sie mir das Sterbehemd anzogen.«
Die Alte sprach leise, sprach aber mit der Ruhe und Sicherheit, mit welcher sie immer berichtete, wenn sie das »zweite Gesicht« gehabt hatte.
»Olk hat geträumt,« warf Jochen Klähn ein, legte das Segellinnen beiseite und trat ans Fenster.
»Nein, ich habe das gesehen. Dort hab' ich gesessen, dort stand ein Stuhl, dort das Waschwasser, dort lag die Seife ...«
Die Alte deutete und erzählte umständlich, sie erzählte immerfort, und in ihre Augen kam der Glanz, der sommertags in ihnen war, wenn sie einen Sonnennachmittag von dem Stuhl an der Rückwand des Hauses über die blendende See geschaut hatte. Dann lag die Bibel auf ihrem Schoße, und sie blätterte in dem alten Buche; aber sie las nicht darin. Sie konnte das Evangelium auswendig. Und ihre Augen taugten längst nicht mehr, Gedrucktes zu sehen. So dämmerte sie auch jetzt vor sich hin, als sie ihre Augen nach dem Berichte über die Erscheinung der letzten Nacht geschlossen hatte.
»Wo ist Dein Vater?« fragte sie Jochen Klähn nach einer Weile.
»Er ist nach Hallig Habel gesegelt und hat Jens mitgenommen. Sie wollen schauen, wie's drüben steht; denn die Leute haben gestern erzählt, Tante Sikke sei fort.«
Da ließ die greise Frau den Faden ihren Händen abermals entgleiten: »Sikke ist fort – von meinem Sohne Ketel?«
Jochen Klähn nickte lachend: »Olk sagt recht – von Onkel Ketel. Aber nun muß Vater bald zurück sein; denn sie sind schon mit dem Frühlichte fort und haben guten Segelwind.«
Olk Eike hatte den Faden, der ihr vorhin zwischen den Fingern zerbrochen war, noch nicht wieder aufgenommen. Und nun, da sie erfahren, was man ihr gestern verheimlicht hatte, da sie erfahren, daß die Frau Ketel Klähns den einsamen greisen Mann auf dem kleinen Eilande Habel verlassen habe, mit dem sie die Inselstille über dreißig Jahre geteilt hatte, nun schloß sie ihre müden Augenlider. Es war, als wolle sie das Leid vorübergehen lassen, das ihr in dieser Nachricht entgegenkam. Dann legte sie die zitternden Hände auf die Knie: »Es hat kein guter Stern über meinen Kindern geschienen: Deinen Großvater nahm mir die Flut; und Ketel ist der letzte meiner Söhne und hat ein Menschenalter mit der See gekämpft. Sie hat ihn nicht verschlungen; aber sein Kampf gegen sie war lang und vergeblich. Sein Leben war ein Leben voll Mühe und Arbeit – ich weiß, sie sagen: das wär' ein köstlich Leben. Die See hat sein Land gefressen, und er hat ihr nicht wehren können. O, die Macht der See ist größer als Menschenmacht; und die Weisheit Gottes ist höher denn Menschenweisheit. Er vertilgt Deine Hallig und, Ketel, mein Sohn, Du hältst sie nicht!«
Die Alte hob die Hände wie eine Seherin. –
Wie Jochen Klähn einen Blick durchs Fenster tat, erkannte er die Umrisse der einzigen Werft auf Habel noch deutlicher; denn der Tag war sonnenklar geworden. Aber die Alte sah nicht mehr in diese Fernen.
Und jetzt redete sie mit sich: »In dem Jahre nach der großen Flut ist er geboren. Wie alt ist Onkel Ketel dann?«
»Fünfundsechzig Jahre,« rechnete Jung Jochen.
Die Alte wiederholte die Zahl dieser Jahre mit einem verwunderten Schütteln des Kopfes. »So mag er es nicht mehr erleben, daß seine Heimatscholle unter ihm fortbricht, daß ihn auch die Heimat verläßt, wie ihn die Liebe verlassen hat. Wie lang ist's doch, daß sie sich hatten – Ketel und sein Weib Sikke? Dänisch waren wir noch – ganz richtig, noch lange dänisch.«
Jochen Klähn rechnete: »So mögen's mehr denn dreißig Jahre sein.«
Da lachte die alte Frau, und das Lachen war doch schon seit einem Menschenalter auf ihrem welken Antlitz gestorben gewesen.
»Wir hören immer die See rauschen,« pflegte Urgroßmutter Eike zu sagen, »und wir hören, wie der Wind weht und sich mit den Wogen beredet; und Wind und Wogen führen sonderen Zwiespruch. Der stimmt sich unsere Seelen, und wer ihn versteht, bei dem hat die laute Freude hinfort keine Statt.«
Aber heute lachte Eike Klähn, deren Enkel der Schiffer Knudt Klähn war, der vierzigjährige, trutzige, tapfere Mann, dem der Seewind das Herz hart gemacht hatte, hart wie Erz mit seinem Mut, aber weich – und rein und blank wie eine Kirchenglocke: so läutete dies Herz durch Knudt Klähns Tage, und Jochen Klähn, der Sohn, ging dieser Glocke nach und ließ sich von ihr den Weg weisen.
Wie der Junge jetzt gegen den Strand blickte, sah er, daß drunten ein braunes Segel inselwärts flog.
»Das Boot ist in Sicht, Olk!« verkündigte Jochen.
Und nicht lange, so hatte es an der Halligkante angelegt und das Klüwer fuhr dal.
Der zehnjährige Jens stürmte alsbald die Werft herauf und sprang durch die Tür. Sein Auge strahlte eine lustige Botschaft vor ihm her.
»Sie ist wahrhaftig fort, Tante Sikke ist fort! Und was sie getan hat? Einen Brief hat sie an Onkel Ketel geschrieben, in dem steht: ›Du brukst mi gor ni to bitten, ik komm doch ni!‹« So berichtete er hastig und lachend.
»Und Onkel Ketel?« unterbrach Jochen den stürmischen Jungen.
»O, Onkel Ketel hat gesagt, sie hätt' ihren Witz nicht mehr, hat die weißen Haare aus seiner Stirn gestrichen und gemeint: ›Ik hev ihr schrewen: Bitten tu ik Dich ni; wenn ik Di langen kunt, wull ik Di bieten (beißen)!‹«
So schrieb Ketel Klähn im fünfundsechzigsten Jahr seines Lebens, im sechsunddreißigsten seiner Ehe. Bei Ketel Klähn war der Humor zu Gast, nachdem der Mann ein Menschenalter hindurch mit seiner Mühe und mit seiner Sorge Götzendienst getrieben hatte.
Weltverloren lag das Eiland Habel draußen in Wind und See, auf dem Ketel Klähn, Olk Eikes jüngster Sohn, seine Siedlung sich gebaut hatte. Er hatte auf dem flachen Grasland, das kaum ein halbes Meter über den Spiegel der See herausragte, die Werft aufgeworfen und seine Hütte auf diese Werft gestellt.
Keiner hatte ihm dabei geholfen; und keinen hatte nach Ketel Klähn noch gelüstet, die verlorene Stille von Habel mit ihm zu teilen.
Und als er vor einem Menschenalter seine Werft und sein Haus auf die Scholle inmitten der rollenden Flut gestellt hatte, die ihn von Stund' an zum Kampfe herausforderte, da warb er um Sikke. Mit Frau Sikke und mit der endlosen Einsamkeit hatte er seine Tage verlebt und war darüber ein alter Mann geworden.
Manchmal, wenn Ketel Klähn an der Kante seiner Hallig dahinschritt und über die blanke See schaute, tauchten die Umrisse von Klähns Hallig aus der Klarheit des Tages: dort drüben lebte Eike Klähn, seine Mutter, ihr Leben zu Ende.
Und oft war ihm, als sei ein Rufen in dem Licht über der Flut: das Rufen einer Mutter, die dem einzigen Sohn, den ihr die See gelassen hatte, noch ein Wort zum Abschied aus dem Leben sagen wolle.
Und in solchen Stunden zog der Einsiedler von Habel das Segel seines Bootes hoch und steuerte gegen Klähns-Hallig.
Aber so oft er kam – immer fand er die Alte in gleicher Stetigkeit und Stille am Spinnrad sitzen. Oder er fand sie an der Sonnenwand von Knudt Klähns Hause, wie sie über die See schaute, als erwarte sie noch eine späte Freude. Und wenn sie auch immer ein wenig müder geworden war, an das Sterben dachte Eike Klähn nicht.
Und mählich bleichten die Jahre Ketel Klähns blondes Haar und machten es silbern wie das der Mutter. Aber seinen Mut im Kampfe gegen die See und seinen Willen brachen sie ihm nicht.
Immer fraß die Flut gierig an der Scholle Landes, die Ketel Klähns Armut und ganzer Reichtum war. Die trug ihm jährlich eine Dieme Heu und ein wenig Grünfutter für die zwei Kühe. Die Milch der Kühe, die übrig war, nährte zwei Schweine. Und was er sonst brauchte, tauschte Ketel Klähn im Herbst, ehe See und Wind ihm den Weg nach dem Festlande wehrten, gegen das eine der gemästeten Schweine ein. Und die Möwen legten ihm in jedem Frühling ihre Eier in den Sand der Halligkante; und in den Herbstnächten oder in dem stillen Mondlichte des Spätsommers ging er auf das trockenliegende Watt und schlug die schlummernden Wildenten mit dem Netze.
Aber jahraus, jahrein fraß die Flut gierig an der Scholle Landes, die Ketel Klähns Eigen und Hoffnung war. Darum stand der breitschulterige starke Mann vom Frühling bis in den späten Herbst tagsüber in dem Kleigrunde des Wattenmeeres und versuchte der See wieder zu entreißen, was sie ihm über Nacht von seinem Lande genagt hatte.
Allein die Kraft der Wogen war gewaltig, und der Kampf, den Ketel Klähn ein Leben lang kämpfte, war ungleich. Die See nagte mit tausend Zähnen und schlug mit hundert starken Fäusten – und Ketel Klähns Waffe war nur eine Schaufel.
Da ward sein Dasein Sorge, und war doch vordem ein freudiger Kampf gewesen.
Dieser grämlichen mitleidlosen Sorge lebte nun Ketel Klähn. Die schlug ihm Falten in die Stirn und um den Mund; die verschloß sein Herz der Liebe und Teilnahme, die blies ihm einen Nebel auf den Glanz seiner Augen, die beugte ihm die Schultern. Und mit dieser Sorge trieb Ketel Klähn Götzendienst.
Daran trug die Liebe zur Heimaterde die Schuld. Er sah diese Erde unter seinen Füßen fortbrechen, und er wollte sie halten. Er sah die See ihre Zähne täglich tiefer in den Leib seiner Hallig schlagen, und er wollte die karge Scholle dem gierigen Rachen entreißen.
Aber die Menschen sahen fremden Auges des Alten Beginnen, und die davon erfuhren, sagten: das sei eitel Mühen.
Der Kampf mit der See ist verloren; denn die See ist übermächtig in ihrer Kraft. Die See ist stark wie Gott: sie fegt Länder und Menschen von hinnen und läßt Länder erstehen, wie sie will, und keiner wehrt ihr. Und die See greift mit gewaltigen Armen über die Inseln und führt von dannen, was sie mag. Und keiner wehrt ihr. Und sie formt sich die Menschen in ihrem Bereich, löscht die laute Freude auf ihren Lippen und legt auf ihre Stirnen den schweigsamen Ernst. Sie allein hat das Wort; sie zeichnet ihren Menschen die Bahn, und keiner wirkt ein Werk, ohne sich zuvor mit ihr zu bereden – mit ihr und mit Gott, dem auch die See dumpfgrollend gehorchen muß.