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Fünfzehntes Kapitel

Unter der jungen Sonne, die Antje Klähns Frohmut in die niederen Stuben warf, gingen die folgenden zwei Jahre still ihren Gang. Jedes trug sein Bündel Leid, jedes sein Hücklein Glück.

Jochen Klähn war den dritten Winter auf der Schifferschule zu Flensburg und stand vor dem Steuermannsexamen. Die Vorbildung, welche er seitens des Pfarrers erfahren, und die zielsichere Willenskraft, die ihm – ein Erbteil Knudt Klähns – geworden, hatten eine glückliche Grundlage gebildet, auf welche der Lernende mit Erfolg gebaut hatte.

Die Prüfung ging vorüber, und die wenigen Tage, welche zwischen dieser und dem stillen Auszug aus dem Elternhause lagen, forderten die Vorbereitungen für die lange Seereise für sich.

Der Ostwind erwachte wieder, der dem Frühling voraufläuft, jagte die winterlichen Nebel fort und trieb die letzten Schollen des Eises von den Watten in See.

Wie das Gras noch unter den Sohlen knisterte, weil der Grund vom Frost noch nicht völlig freigegeben war, machten Knudt und Jochen Klähn drunten am Priel das Segelboot seefertig. Es hatte die Wintermonate hindurch kieloben verankert auf dem Vorland gelegen.

Das war ein schweigsam Wirken und war ein stummes, rasches Segeln vor dem klingenden Ostwind gegen Hallig Habel, deren Umrisse mit der Einsiedelei Ketel Klähns scharf und klar in dem harten Lichte des Vorfrühlings standen.

Als der Mann auf Habelwerft das Boot der Klähns mit vollem Segel heranfliegen sah, schritt er aus seinem Hause und schritt an die morsche Kante der Insel, die das Treibeis über Winter wieder mitleidlos zerfressen hatte.

Frau Sikke teilte die Stille von Habel wortkarger denn je schon längst von neuem mit Ketel Klähn und hatte sich widerwillig in das immer versonnenere Schweigen des alten Mannes gefunden, der seinen Lebenszweck in dem Kampfe gegen die See erkannte, die er ohne Waffen zu schlagen gedachte. Deshalb nahm Frau Silke hartnäckig die Partei jener, die in wehmütiger Gleichgültigkeit dem Zerstörungswerke der Wogen zuschauten und ihren Trost in der Hoffnung fanden: »Uns überdauert diese Scholle noch!«

Nun legte das Boot an Ketels Hallig an, und die drei Männer schritten der Werft entgegen.

Als sie an dem braunen Tische beim Tee saßen und schwiegen, dachte Jochen Klähn: Es ist alles hart in diesem kleinen Hause, hart und blank, als hätte der Ostwind hindurchgeblasen. Die Stühle sind ohne Lehnen und die Bänke sind ohne Polster. Und es sind nur Dinge vorhanden, die jeder Tag fordert – nirgends ein Schmuck, nirgends ein farbiges Band, nichts, das einen sanften Ton, eine weiche Stimmung hier hereinzutragen vermöchte. Das ist so, weil der alte Mann nichts von diesem Hause fordert, als daß es ihn in seinen Nächten schütze. Auch das Harmonium, auf dem Ketel Klähn manchmal spielt, muß die Sanftheit seiner Stimmen zwischen diesen kalten Wänden verlieren. Das Choralbuch steht aufgeschlagen dort. »O Ewigkeit, du Donnerwort« ist zuletzt erklungen. Das ist ein starkes Lied und ist die Weise, die auch aus dem stürzenden Treibeis klingt, wenn Flut und Sturm die Scholle durcheinanderwerfen. Daheim ist es anders, da blühen schon die Fuchsien in den Scherben auf den Fensterbänken, und die flammenroten Storchschnäbel drängen ins Licht und schauen nach dem Frühling ...

Frau Sikkes Stricknadeln fingen an zu lispeln und weckten Jochen Klähn aus seinem stillen Sinnen: »Ich bin gekommen, Abschied zu nehmen.« –

»Ja. – Nun, Knudt Klähn?« Des alten Mannes Stirn verfinsterte sich, als er diese Frage dumpf und karg an den Schiffer richtete.

Der fuhr sich mit der Hand durch das leis gewellte Blondhaar über der freien Stirn, der strich sich mit der breiten Hand langsam über den kurzen vollen Bart: »Du meinst, ob kein Platz für Jochen Klähn daheim sei? Du meinst, ob wir aufgegeben haben, was wir mit festem Mut begannen?« Knudt Klähn blies den blauen Rauch des Tabaks sinnend über die Lippen: »Nicht aufgegeben! Aber aus eigener Tasche läßt sich nichts mehr schaffen, keine Buhnenpfähle und kein Reisholz zum flechten. Darum heißt es, sich bescheiden und die gebauten Dämme flicken! Darum heißt es: warten, bis der Staat uns hilft! Aber bis dahin wird's noch weit sein; und das gäbe faule und müßige Tage, zu schlecht, einem jungen Menschen die Arme hart und das Herz mutig zu machen, mutig für eine andere Zeit. Nur auf See ist Kampf und ist Stärke, auf Klähns Hallig dagegen ist jetzt nur untätiges Zuschauen und zages Harren.«

Da ward Frau Sikke auf ihrem Sitze länger: »Willst Du mehr, Knudt Klähn?«

Ketel warf ihr einen häßlichen Blick zu; aber Frau Sikke blieb mutig und wartete auf den Angriff.

»Mehr? Ja. Aber wir dürfen nicht schneller laufen wollen als die Zeit!«

Ketel Klähn schlug mit harter Faust auf den Tisch: »So geh, Jochen Klähn, geh! Ich hatte viel von Dir gehofft, von Dir und Deinem Vater ...« Ketel Klähn war ans Fenster getreten: »Viel – von Euch – gehofft ... Wenn Ihr Euch aber auch fürchtet ...«

Frau Sikkes Augen wendeten sich gegen den alten Mann: »Siehst Du, Klähn! Siehst Du!«

Nun kehrte Ketel Klähn denen am Tische den Rücken, stützte die Hände auf die Fensterbank und schaute über See. Er dachte: der Schiffer Knudt ist der erste gewesen, der die starke Hand zum Schlage gegen die See erhoben hat. Die Leute haben Ketel Klähn und Knudt Klähn schon oft verglichen und gesagt: Ketel sucht immer mit den Augen im Schlamm, Knudt aber sieht weit hinaus, als säh' er anderen Jahren ins Herz. Wenn das wahr ist – könnte Knudt Klähn nicht auch jetzt recht haben? Vielleicht!

Und als der Alte sich wieder vom Fenster wandte und zu seinem Schemel zurückkehrte, reichte er dem Neunzehnjährigen die harte Hand: »Fahr gut, Jochen Klähn, und komm stark heim!«

Da stellte der Urenkel Olk Eikes sich neben ihn, und sie sahen: er ist eines halben Hauptes länger als der Alte. Und jetzt sprach er – sein Wort war still und klar, wie seine Stirn und seine Augen still und klar waren: »Das will ich, Onkel Ketel, und ich denke, wenn die Heimat mich braucht und mich ruft, will ich nicht säumen.«

»Das tue. Und nun leb wohl!«

Auch Frau Sikke schüttelte dem Scheidenden die Rechte: »Du hast frohe Augen, Jochen Klähn, und Du hast ein hochgemutes Herz. Leb wohl!« –

Wie die Männer wieder dem Boot entgegengingen, und weil kein Wort die Stille störte, die seit dem Abschied ihnen sich zugesellt hatte, dachte Jochen Klähn: Das ist ein ehrliches treues Wünschen gewesen, das mir die Hand vorhin im Scheiden geschüttelt hat!

Und er versann sich schier darüber, warum er in voriger Zeit das niemals erkannt hatte: in der Inselstille von Habel verleben zwei Menschen ihr Dasein ohne Glück und ohne Stern. Ihr ganzes Eiland mißt nicht mehr als drei Steinwürfe; sie leben unter einem Dach, und ihre Herzen haben sich in dieser kleinen Welt dennoch nicht gefunden. Es ist ein seltsames Ding um die Herzen dieser Menschen, sie sind trutzig und hart, und doch lauert vor ihren Türen ein Glück. Aber sie erkennen dies Glück nicht, weil sie sich einbilden, ein Glück müsse anders aussehen und müsse ihnen von ganz anderswo kommen. – Wenn nicht in mir, wo möcht' ich sonst ein Glück zu finden mir getrauen? – Da waren sie an die Kante gekommen.

Jochen Klähn stand zuerst im Boot und schlang das Tau aus dem Ringe. Der Schiffer Knudt stieg hinterdrein; und als das Segel stand, riß der Ostwind das Fahrzeug herum und trieb's quer über See – einer andern Stelle von Klähns-Hallig entgegen, als jenem Priel, aus dessen Mündung sie ihre Fahrt angetreten hatten.

Ketel Klähn schaute ihnen nicht lange nach.

Wie sie an die Insel gekommen waren, die Ruder gebraucht hatten, um endlich doch in das Priel einzulaufen, und wie Jochen Klähn das Boot mit dem Haken an die Landungsstelle gebracht hatte, sagte er: »Laß mich heut alles allein tun, was um das Boot geschehen muß, Vater!«

Da sah Knudt Klähn seinen Sohn an, dann ging er.

Er will Abschied nehmen, dachte er.

Und Jochen Klähn legte die Sitzbretter um, ließ das Segel nieder und barg es. Dann machte er das Boot doppelt fest; denn er meinte: es ist noch früh im Jahr, die Stürme sind noch nicht dagewesen, und die anderen Fahrzeuge liegen noch auf dem Sande.

Er tat alles mit sorgender Liebe, wie einer, der vor dem Scheiden sein Haus bereitet.

Während des Nachmittags traten die Leute in den Häusern manchmal an ihre Fenster: sie warten auf Jochen Klähn, der morgen früh fortgeht.

Und Jochen Klähn kam. Er trat in jedes Haus; und sie sagten ihm dort ein liebes Wort und einen treuen Wunsch. Manche weinten um ihn, manche taten froh und mutig; denn sie dachten, sie müßten ihm ihr Herz verbergen.

Als er dann mit Uwe Nomsen noch auf ein Wort in Nomsens Tür stand, lief Binne Bonken den Steindamm entlang. Der Ostwind spielte mit ihren goldenen Haaren, und sie mühte sich, dem wilden mit beiden Händen zu wehren. Sie kam heran: »Nun gehst Du auch fort, Jochen Klähn!«

Ihre Stimme war weich und war wie die einer Jungfrau, ein volles Herz klang hinein. Daran dachte Jochen und schüttelte ihr die Hand: »Wenn ich wiederkomme, bist Du ein großes Mädchen geworden, Binne Bonken.«

»Ja, Jochen Klähn, und wir werden Dich nicht vergessen und werden oft von Dir reden. So geh und komm gut wieder heim. Ich weiß, es werden viele auf Dich warten.«

Da ging sie hin; und auch Uwe Nomsen schaute ihr nach, wie sie bei Witwe Bonken im Hause verschwand: »Sie ist nun doch erst elf gewesen; aber die redet klug. Sie hat ein ruhiges Gesicht und hat ein stilles, feines Herz.« –

Dann schloß sich der Ring der Häuser; bloß bei Ocke Frerksen und seinen Leuten mußte noch kurze Einkehr gehalten sein. Der Kapitän saß rauchend auf der blauen Schiffskiste, die er in die Stube an der Vordiele getragen hatte, und nähte mit steifem Zwirn ein steifes Segel.

»Du willst fort, Jochen Klähn?«

»Morgen früh.«

Der Kapitän war aufgestanden und hüllte sich in eine dichte Wolke Tabakrauches: »Fahr gut – hörst Du?«

»Ja, Kapitän!«

Er sah dem Jungen fest in das Gesicht, und sein Herz schlug lauter. Und sein Herz hieß dem schweigsamen Munde: rede!

Aber Ocke Frerksen sprach nicht. Er wandte sich ab – es sollte ihm in dieser Stunde, in der er an die eigene Ausfahrt dachte, keiner in die Augen sehen ...

Lüdde Lürsen im Pesel war frohen Muts, war aber noch bleicher als erst. Er saß im Rohrstuhl, und seine Arme lagen kraftlos auf den Seitenlehnen.

»Wenn erst die Sonne wieder da ist, Jochen Klähn, das wird schön! Da will ich hineinlaufen und will hinter dem tückischen Ostwinde herlachen, der mir so hart in die Brust greift! Und – paß auf: wenn Du wiederkommst – vielleicht hat sich dann auch Lüdde Lürsen besonnen! Und wir stehen dann gemeinsam und stark drunten bei Pipenwarf und schwingen die schweren Eisenhämmer, Jochen Klähn – Du und ich! Und wir schlagen der See die Zähne ein – Du und ich!«

Da nickte Jochen Klähn dem Kranken froh zu und dachte: in allen Häusern haben sie von mir und meiner Zukunft gesprochen; Lüdde Lürsen spricht von sich und der seinen.

Aber Jocken Klähn konnte nicht ohne verräterische Wehmut in Lürsens bleiches Gesicht sehen, deshalb suchte er die Uhr, als er sagte: »Ja, Lüdde Lürsen, das wollen wir!«

Dann ging er hinaus, und das Herz zitterte ihm; denn er wußte: ich habe in dieser Stunde allem Leid und Glück auf Klähns-Werft in die Augen gesehen.

Nun trat er daheim durch die Tür.

Es war anders als sonst. Die Dämmerung des Abends legte sich leise an die Fenster, und eine letzte Nacht trat in die Stube.

Wie sie Jochen heimkehren hörten, begannen sie in Stall und Küche über ihren Pflichten zu hasten, die noch heute ihrer warteten.

Es war niemand in der Stube als Olk Eike, die im weichen Stuhle hinter dem Ofen träumte.

Dann kam Knudt Klähn von draußen, und wie er sah, daß sein Sohn schon da sei, nahm er die kaum gefüllte Kalkpfeife aus dem Munde und legte sie auf das Wandbrett, damit sie dort oben verlösche. Heut sollte Sonntag sein im Hause Klähns.

Nur die Uhr sprach in die schummerige Stille, und Jochen Klähn fühlte: es ist hier viel heimliche Liebe um mich.

Früher als sonst erschien Mutter Goede Klähn mit dem Tee und dem Abendbrote. Sie trug viel volle Teller auf den Tisch. Und früher als sonst war Antje Klähn mit der Besorgung des Viehes fertig.

Goede Klähn hatte das schwarze Kopftuch für diesen Abend noch einmal sorgsam zur Haube gebunden. Sie hatten ihre Kleider und ihre Herzen bereitet und waren gekommen als zu einer stillen, ernsten Feier.

Und wie sie gegessen hatten, der Tisch abgetragen war und Olk Eike schon wieder im verdämmerten Winkel hinter dem Ofen saß und an die vielen schweren der vierundneunzig Jahre dachte, durch die sie gelaufen war, gingen auch die anderen schweigsam an ihre Plätze.

»Wir stehen wieder einmal am Abschiednehmen,« sagte Olk Eike. »Ich habe vielmal Abschied genommen – und zweimal für immer. Das ist in dem Jahre gewesen, in dem mir die See den Gatten und den Sohn gefressen hat ...«

Sie hörten die Alte sprechen und wußten: Urgroßmutter Eike redet laut, aber sie redet nur mit ihrem Herzen.

Und wie die Alte schwieg, dachten sie auch daran, daß sie eine Welt von Glück hatte sterben sehen.

Da redete Olk Eike wieder: »Das war ein großes Leid in jenem Jahr; es ist keins größer gewesen. Wie ich damals die Nacht hindurch geweint habe und die Kissen unter meinem Haupte am frühen Morgen feucht waren, weil die Tränen der Nacht darauf geronnen waren, von da an ist es gewesen, als wäre das Weinen in mir gestorben ...«

Und sie schloß die Augen und tastete mit ihren Händen vor sich im Dunkel, in das der sanfte rote Schein durch den Schirm der Lampe rann. Da ging Jochen Klähn hinzu und kniete zu Olk Eikes Füßen. Und die Alte legte ihm die welken Hände auf das blonde kurzgeschnittene Haar: »Mein Sohn Jochen, ich werde Dich nicht wiedersehen, wenn Du morgen früh hinausgegangen sein wirst. Aber ich weiß, Du wirst wiederkommen, und Du wirst ihnen eine Freude sein. Du wirst wiederkommen, wenn sie lange auf Dich gewartet haben, und die Heimat wird Dich rufen, und Du wirst ein Held sein.«

Wie bei einem Seherworte hob sich ihr Blick, und ihre Hände hoben sich und schwebten über dem Scheitel des Knienden.

Es war, als sähe sie, als greife sie hinein in die Jahre, die noch künftig waren, weil sie die nicht mehr erleben konnte und gleichwohl in dieser Stunde noch an ihnen teilhaben wollte.

Olk Eike schaute weithin – wie die Klähns alle. Und ihr Blick war selten rückwärts gerichtet, selten rückwärts auf den weiten Weg, den sie gegangen war; denn auf diesem Wege hatte ihr das Leben zuviel Leid getan, als daß sie es der Mühe wert hielt, noch einmal nach ihm sich umzuschauen. Was sie erwartete, lag vor ihr, lag in einer anderen Welt.

Olk Eike, siehst Du hinüber über die Grenzen, über die noch kein sterbliches Auge zu blicken vermochte?


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