Friedrich Gerstäcker
Irrfahrten
Friedrich Gerstäcker

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3. Im Nichtrauchcoupé.

Mit dem Reisen in einem Eisenbahnzug ist es eine ganz wunderliche Sache, und man muß es in der Tat erst lernen, ehe man es ordentlich kann. Manche Leute werden mir das nicht glauben und sagen: »was ist aber dabei zu lernen? Ich löse mir eben ein Billett, gebe meine Sachen auf, setze mich ein und fahre dann mit fort – das kann ein jeder«. – Das allerdings und er reist dann ebenso rasch als die übrigen – aber wie? Zehn gegen eins, daß er in ein dichtgefülltes Coupé kommt, wo er nicht einmal die Füße ausstrecken kann; möglicherweise hat er auch eine Dame, mit einem schreienden Kind auf dem Schoß, gegenüber, während ein kleiner, ihr ebenfalls gehörender Bursche von fünf oder sechs Jahren ununterbrochen über seine Hühneraugen fort nach dem Fenster klettert und ihm dabei ein angebissenes Butterbrot mit der gestrichenen Seite auf die Knie drückt. Er möchte rauchen, aber es geht nicht – eine Dame an seiner Seite erklärt, daß sie keinen Tabaksdampf, ebensowenig aber auch Zug vertragen könne; und er darf deshalb das Fenster nicht herunterlassen, obgleich im Coupé eine drückende Schwüle herrscht, während geöffnete Weinflaschen, warme Bratwürste und andere Familiendünste ein unbeschreibliches Potpourri von Gerüchen ausströmen.

Und das ist noch nicht alles. Er möchte gern ein wenig einschlafen; aber es geht nicht, denn er muß auf Wacht bleiben, da der Herr ihm schräg gegenüber die sehr fatale Gewohnheit hat, fortwährend auszuspucken, aber natürlich nicht zum Fenster kommen kann. Er spuckt also, anfangs vorsichtig, später halb im Schlaf an seinem Knie nieder und unser »armer Reisender« muß dann rasch sein eigenes Knie beiseite schieben und den Fuß einbiegen. – Endlich fällt er trotzdem in einen leichten Schlummer – das heißt, er ist eben im Einnicken, als eine Hutschachtel aus Leder, mit Messing beschlagen und zu dem umfangreichen Gepäck der Dame gehörend, der Gesellschaft droben im Netz überdrüssig scheint und mit einer ihrer scharfen Ecken herunter und direkt auf seinen Hut schlägt. – Die Dame entschuldigt sich für die Schachtel und hat gerade noch Zeit, den Jungen aufzufangen, der fast aus der Tür gestürzt wäre, weil der Zug eben hält und der Schaffner dieselbe plötzlich aufreißt.

Endlich erreicht er sein Ziel, aber in einem Zustand der Auflösung begriffen, körperlich abgespannt, geistig vollständig totgeschlagen; und wie leicht hätte er das alles, nur mit einem kleinen Studium der Eisenbahnfahrt vermeiden können!

Allerdings sollen die Schaffner unparteiisch gegen die Reisenden verfahren und sie gleichmäßig in die für verschiedene Halteplätze bestimmten Coupés verteilen, auch dürfen sie keine »Trinkgelder« annehmen; aber, du lieber Gott, es sind Menschen, und noch dazu sehr schlecht besoldete, und von denen widersteht jeder wohl Wind und Wetter, Kälte und Hitze, aber sehr selten einem Zehngroschenstück und einer Hand voll Zigarren. So kommt es denn, daß wir Coupés finden, wo ein einzelner alter Reisender bequem mit seinem wenigen Gepäck auf vier Sitzen liegt und seine Zigarre raucht und auf den anderen Vieren seine Sachen ausgebreitet hat, während dicht daneben kein Apfel zur Erde könnte und die eingeschlossene Luft den unglücklich Eingepferchten jeden Atemzug zu Gift verwandelt.

Der Zug hält: »Station Marburg.«

»Nach Frankfurt!«

»Hier herein, meine Herrschaften!«

»Aber da ist ja alles besetzt.«

»Wie viel Personen sind Sie?«

»Drei Personen und das Kind.«

»Gerade noch Platz für drei Personen – die Dame dort muß ihr Gepäck aus dem Weg schaffen.«

»Aber daneben das Coupé ist ja noch ganz leer – es sitzt nur ein einziger Herr darin.«

»Coupé für Gießen; darf niemand anders dort hinein tun. Bitte, steigen Sie ein, denn der Zug geht ab, oder Sie bleiben da! Ich kann doch wahrhaftig nicht für jede Gesellschaft ein besonderes Coupé geben.«

Das sind kleine Szenen, die bei jedem Zug und auf jeder Bahn vorfallen und so lange vorfallen werden, als es noch Zehngroschenstücke und Zigarren gibt – zum Besten für Reisende und – Schaffner.

Fritz saß nicht zum erstenmal in einem Coupé, und wenn er sich anfangs mit seiner gewöhnlichen Indolenz auch nicht besonders darum gekümmert hatte, wohin er gerade und in welche Gesellschaft er kam, so wurde ihm das allmähliche Anfüllen des Coupé doch zuletzt lästig. Es waren auch zwei ältere Damen eingestiegen, die sich miteinander in französischer Sprache, aber laut, über die rohe Sitte des Rauchens bei den Deutschen unterhielten. Das wurde ihm zuletzt unbequem; er wollte ungestört sein, warf deshalb seine Zigarre fort und stieg in der nächsten Station, Gießen, mit seinem Reisesack und Schirm aus, um einen anderen und bequemeren Platz zu suchen.

Eigentlich hatte er die Absicht gehabt, direkt nach Köln und von da ab den Rhein aufwärts zu fahren, auch zu dem Zweck vorsichtigerweise – und einen anderweitigen Entschluß immer vorbehaltend – nur ein Billett bis Gießen genommen. Unterwegs war ihm aber fortwährend die Familie Raspe im Kopf herumgegangen. Es kam ihm gar so sonderbar vor, daß sie ihm von zwei ganz entgegengesetzten Seiten zu gleicher Zeit empfohlen werden sollte, und seine Neugierde erwachte natürlich, die beiden jungen Damen kennen zu lernen, die er schon als Kinder gesehen und über deren Liebenswürdigkeit Claus jetzt so viel berichtet. Was lag überhaupt daran, ob er zuerst nach Mainz oder Köln fuhr, und dann machte es ihm auch Spaß, wenn er daran dachte, was für ein Gesicht sein alter Freund Claus ziehen würde, sobald er erfuhr, daß Fritz vor ihm in Mainz bei der Familie gewesen und die Damen besucht hätte.

Mit dem Gedanken löste er sich in Gießen, anstatt nach Köln, ein Billett nach Frankfurt und schritt dann zu dem nämlichen Zug, mit dem er bis hierher gefahren, zurück. In das nämliche Coupé wollte er aber nicht wieder hinein, und einem Unterschaffner ein Stück Geld in die Hand drückend, sagte er:

»Ein Nichtrauchcoupé, lieber Freund, wo ich ein wenig ungestört sein kann – Sie verstehen mich schon.«

»Mit dem größten Vergnügen, lieber Herr,« sagte der Mann ungemein artig, – »und so lang's angeht, aber der Zug ist heute so stark besetzt – denken Sie nur, all die Badereisenden, die sich abwaschen wollen – es ist manchmal partout unmöglich.«

»Nun also, so lange es geht, alter Freund,« lachte Fritz, »und dann – wenn ich bitten darf – angenehme Gesellschaft. Es soll Ihr Schaden nicht sein.«

Es läutete draußen; die Lokomotive pfiff und fort brauste der Zug seine glatte Bahn, bis er endlich wieder in Butzbach vor einem Gedränge von Menschen auf dem Perron anhielt.

Fritz hatte sich in aller Behaglichkeit in seinem Coupé eingerichtet und in dem Nichtrauchcoupé schon eben seine zweite Zigarre angezündet. Jetzt hielt der Zug und er beugte sich aus dem Fenster mit dem doppelten Zweck, einmal das Leben und Treiben da draußen zu beobachten, und dann auch einsteigende Passagiere an einem Überblick seines Coupés zu verhindern. Er erleichterte dadurch das Liebeswerk des Schaffners, der sich in der Tat im Schweiße seines Angesichts Mühe gab, die verschiedenen Partieen von einem »belegten« Coupé abzulenken, ohne daß der Oberschaffner etwas davon merkte. Aber er vermochte doch nicht jede Begleitung von sich abzuwenden, denn die Passagiere drängten in zu großer Masse zu, und es begann an Wagen zu fehlen.

»Es geht nicht länger!« stöhnte der kleine, dicke Mann in seiner blauen Uniform, als er wieder einmal an ihm vorüberglitt; – »der blanke Deubel ist heute los – da kommt noch ein Schwarm.«

»Frankfurt! Nichtrauchcoupé!« rief eine ältliche, etwas starke und sogar ein wenig männlich aussehende Dame, der ein junges Mädchen folgte.

»Hier ist noch Platz, meine Damen!« sagte der Oberschaffner, der mit einem Kennerblick das fast leere Coupé überflogen hatte und zugleich die Tür öffnete; – »Nichtrauchcoupé! – Wollen Sie gefälligst schnell einsteigen; es ist die höchste Zeit.«

»Schade um die Havanna!« stöhnte Fritz, indem er seine kaum erst angebrannte Zigarre durch das entgegengesetzte Fenster hinaus- und sich selber in die eine Ecke hineinwarf. Es half jetzt nichts mehr, er mußte sich in sein Schicksal fügen und sah nur, wie hintereinander drei Damen einstiegen – die ältere mit zwei jüngeren – die Billette wurden abgenommen, die Tür war wieder zugeschlagen und der Zug setzte sich auch wirklich schon, kaum wenige Sekunden danach, in Bewegung.

Die Damen brauchten noch einige Zeit, bis sie das ihnen nachgeschobene, nicht unbedeutende Gepäck untergebracht und ihre eigenen Sitze eingenommen hatten, und das letztere war besonders mit einiger Schwierigkeit verbunden, der außergewöhnlich bauschigen Krinolinen wegen. Die ältere Dame setzte sich gleich rückwärts dicht zur Tür – es war nicht das erste Mal, daß sie die Eisenbahn benützte.

»Willst du dich nicht in die Ecke setzen, Olga?« fragte sie die Jüngste in französischer Sprache.

»Ich danke dir, Mama,« erwiderte diese, »ich fahre auch lieber rückwärts, der Funken wegen, und wir zwei haben nicht nebeneinander Platz – ich werde jene Abteilung einnehmen.«

Sie wählte ihren Platz Fritz schräg gegenüber, der, mit dem Gesicht nach vorn, am offenen Fenster saß und sich leicht verbeugte, als sie ihren Sitz einnahm. Sie dankte freundlich und außerordentlich graziös. Die dritte Dame plazierte sich der älteren gegenüber, so daß die vier Personen jede ein Vierteil des Wagens behaupteten.

Während dies Arrangement stattfand, hatte Fritz Zeit und Gelegenheit, seine neue weibliche Reisegesellschaft etwas näher zu beobachten.

Deutsche waren es keinenfalls, soviel sah er auf den ersten Blick, also wahrscheinlich Russen, wie der Name Olga verriet. – Olga! – es klang zu reizend, und was für ein bildhübsches Mädchen war es, die ihn trug, mit hellkastanienbraunen, fast blonden Haaren und so lieben, guten Augen! – er konnte nur noch nicht herausbekommen, ob sie dunkelblau oder hellbraun wären, da sie ihm dieselben nur flüchtig bei der ersten Begrüßung zuwandte. Sie trug ein schwarzes Barett, mit einem brennend roten Flamingobusch darauf, eine Krawatte von derselben Farbe, ein grauwollenes, enganschließendes Kleid und eine chinesische rotseidene Schärpe statt Gürtel.

Die ältere Dame ging in Weiß gekleidet, den Überwurf von oben bis unten gestickt; eigentlich ein schlechter oder wenigstens unpraktischer Reiseanzug, da man auf der Eisenbahn dem Ruß nicht ausweichen kann. Natürlich sah das Kleid nicht mehr ganz sauber aus. Sonst trug sie das nämliche Barett wie die Tochter, und was für einen entschlossenen Zug die Dame um die etwas starken, mit einem leichten Anflug von Schnurrbart versehenen Lippen hatte, und wie entschieden sie gleich die Füße gegen den Sitz vis-à-vis stemmte! Man sah es ihr an, daß sie sich in dem Coupé wie zu Hause fühlte.

Die dritte Dame hielt sich etwas zurück und ging auch außerordentlich einfach und lange nicht so reich gekleidet – es war jedenfalls die Gesellschafterin, vielleicht gar die Kammerfrau der älteren Dame, die entweder eine russische oder polnische Gräfin sein mußte, denn unter dem Grafenstand – wenn auch oft nur nominell – erhalten wir selten etwas von daher.

Fritz hätte mit seiner Beobachtung recht gut zu Ende sein können; aber sein Blick flog immer wieder zu dem reizenden Wesen zurück, das ihm schräg gegenüber saß, sonst aber gar nicht so tat, als ob er überhaupt auf der Welt wäre. Die Damen schienen sich allerdings den Umständen entsprechend eingerichtet zu haben; aber sie verkehrten noch sehr lebhaft miteinander, jetzt aber in einer vollkommen fremden Sprache – jedenfalls russisch oder polnisch – von der er keine Silbe verstand. Aber unterhielten sie sich denn über ihn? – sie warfen wenigstens, während sie miteinander sprachen, manchmal einen forschenden Blick nach ihm herüber und lachten und kicherten nachher miteinander. Fritz wurde blutrot im Gesicht, denn plötzlich kam ihm der Gedanke, daß er, aller Wahrscheinlichkeit nach, auch einem russischen Müller oder Meier ähnlich sehen müsse, was dann jedenfalls die Heiterkeit der Damen erweckt haben konnte. – Es war rein zum verzweifeln, wenn er sich nur die Möglichkeit einer solchen Tatsache dachte.

Er drückte sich auch, diesen Verdacht erst einmal erweckt, ärgerlich über sich und die ganze Welt, in seine Ecke zurück. Rauchen durfte er nicht – ausgelacht wurde er dazu und verstand dann noch nicht einmal, was die Fremden miteinander sprachen. – Und was für ein freches, hochnäsiges Gesicht die alte Dame hatte – und die jüngste! Er erschrak, denn wie sein düsterer Blick diese eben suchte und augenscheinlich entschlossen schien, selbst in ihren lieben Zügen einen Fehler oder wenigstens eine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter zu finden, bog sich das reizende Geschöpf plötzlich zu ihm über und sagte in deutscher Sprache, wenn auch mit etwas fremdartigem Akzent und einer gar so herzigen, silberklingenden Stimme:

»Geniert es Sie vielleicht, wenn wir rauchen, mein Herr?«

Fritz mußte in dem Moment ein außerordentlich dummes Gesicht gemacht haben, denn er sah die junge Dame so verdutzt an, daß sich im Nu ein paar allerliebste Grübchen in ihren beiden Wangen bildeten. Das brachte ihn aber zu sich selber; er wurde feuerrot und stammelte, indem er verlegen nach seiner eigenen Zigarrentasche griff:

»O, mein gnädiges Fräulein, gewiß nicht. Wenn Sie mir vielleicht erlauben wollten, Ihnen eine Zigarre anzubieten –«

»Nein, danke vielmals,« lachte aber jetzt das junge Geschöpf, indem sie abwehrend die kleine Hand vorstreckte, – »wir führen unsere eigenen Zigarren mit!«

Und sich wieder mit ein paar Worten zu ihrer Begleiterin wendend, holten beide sehr niedlich geflochtene Zigarrentaschen heraus und Fritz bemerkte dabei zu seinem Erstaunen, daß sie selbst nicht ohne Feuerzeug, also völlig ausgerüstet waren. Sie lachten und plauderten dabei wieder in ihrer eigenen, unentwirrbaren Sprache, ohne von dem Fremden weiter Notiz zu nehmen oder ihn doch wenigstens dabei anzusehen, denn dem jungen Maler kam es immer noch so vor, als ob sie sich über ihn unterhielten. Selbst in der fremden Sprache, von der sie doch nicht vermuten konnten, daß er sie verstehe, flüsterten sie ein paarmal einige Worte, daß er nicht einmal die Laute hören konnte. Die Kammerfrau oder Gesellschafterin, (Fritz konnte nicht recht klug daraus werden) nahm übrigens keinen Teil an der Unterhaltung, sondern sah still und schweigend aus dem entgegengesetzten Fenster. Möglich, daß sie selber nicht der fremden Sprache mächtig war.

Es ist das übrigens ein sehr unbehagliches Gefühl, sich in einer Gesellschaft unter dem Verdacht zu befinden, selber der Gegenstand einer geheimen Unterhaltung zu sein; noch dazu, wenn ein junges liebenswürdiges Mädchen dazu gehört, das sich trefflich darüber zu amüsieren scheint; und es wurde dem jungen Maler auch zuletzt so lästig, daß er beschloß, dem unter jeder Bedingung ein Ende zu machen.

»Mein gnädiges Fräulein,« wandte er sich wieder an seine ihm schräg gegenübersitzende Nachbarin, diesmal aber in französischer Sprache, um dadurch vielleicht eine allgemeine Verbindung herzustellen, – »vielleicht erlauben Sie auch mir, eine Zigarre anzuzünden?«

»O sicher, sicher!« rief die junge Dame aus, »wie könnten wir es Ihnen wehren wollen, da wir selber rauchen! – aber,« fügte sie, über und über errötend, hinzu, »ich muß vorher wohl recht schlecht deutsch gesprochen haben, daß Sie mich jetzt französisch anreden?«

Jetzt war Fritz an der Reihe, rot zu werden, und er besorgte das gründlich, sah sich auch kaum imstande, einige ungeschickte Entschuldigungen zu stammeln, daß es sicher nicht der Fall wäre und er sie, nach ihrer deutschen Aussprache, kaum für eine Fremde gehalten hätte. Seinen Zweck schien er aber doch erreicht zu haben, denn die ältere Dame, wie sie fand, daß sie sich mit ihm unterhalten könne, knüpfte jetzt richtig ein Gespräch mit ihm an und fragte ihn, wohin er reise.

Nun wußte das unser junger Freund eigentlich selber noch nicht und kannte nur sein erstes Ziel: Frankfurt, von wo aus es sich ja dann entscheiden sollte, ob er dort vielleicht einige Zeit bliebe oder möglicherweise auch gleich nach Mainz weiter ginge. Er erwiderte also, daß er nur auf einer Vergnügungsreise begriffen wäre und es ganz von den Umständen abhängig gemacht habe, welche Richtung er in der nächsten Zeit einschlüge.

»Nicht wahr, Sie haben Warschau schon einmal besucht?« fragte die Alte wieder und Fritz fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg – dahinter stak wieder der verwünschte polnische Meier.

»Woher vermuten Sie das?« fragte er auch gleich mißtrauisch. »Ich kenne Warschau gar nicht und war nie dort.«

»In der Tat? – und ich hätte doch darauf geschworen, Sie dort schon einmal gesehen zu haben.«

Richtig, wie er vermutet! Es war rein zum Totschießen!

»Nein,« sagte er kopfschüttelnd, »gnädige Frau haben sich da geirrt; ich kenne Polen gar nicht und habe auch noch eigentlich, außer Italien und der Schweiz, den Fuß nie über die deutsche Grenze gesetzt.«

»Es ist merkwürdig!« versicherte die Dame und geriet wieder in das unselige Polnische hinein, in dem sie sich mit ihrer Gesellschaft weiter unterhielt, ohne von dem jungen Mann mehr Notiz zu nehmen. Die junge Dame mochte aber doch wohl fühlen, daß das nicht ganz schicklich sei; und sich wieder freundlich zu ihm wendend sagte sie ihm, daß sie dann jedenfalls bis Frankfurt zusammen reisen würden, da sie die Absicht hätten, nach Mainz zu gehen, dort einige Zeit zu bleiben und dann die Rheinfahrt abwärts zu machen.

»Auch ich werde wahrscheinlich direkt nach Mainz durchgehen,« sagte Fritz rasch entschlossen, denn die junge Dame machte einen gar so angenehmen Eindruck auf ihn, und in Frankfurt hatte er doch nichts weiter zu tun. Er bediente sich jetzt auch wieder des Deutschen, um ihr zu beweisen, daß sie ihn vorhin in einem falschen Verdacht gehabt.

»Aber weshalb sprechen Sie nicht französisch?« fragte sie ihn; »ich komme viel besser darin fort.«

»Gewiß nicht besser als im Deutschen, mein gnädiges Fräulein,« erwiderte jetzt Fritz galant, – »ich spreche es selber nicht korrekter.«

»Sie sind sehr liebenswürdig,« lächelte das junge Mädchen und zeigte dabei ein Paar wunderbare Reihen von Perlenzähnen, – »meine Schwächen so vollkommen zu übersehen. Aber ich liebe das Deutsche und benutze es gern; – doch, was ich Sie fragen wollte: Sind Sie in Frankfurt bekannt und können Sie uns vielleicht ein gutes Hotel empfehlen? Man soll da so geprellt werden.«

»Ich habe bis jetzt immer im Landsberg gewohnt,« sagte Fritz, »und werde auch diesmal dort übernachten; es ist ein gutes Hotel mit mäßigen Preisen. Sie brauchen nicht zu fürchten, dort überfordert zu werden.«

»Sehr schön – Landsberg, sagten Sie?«

»Jawohl.«

»Ich werde mir den Namen merken und bin Ihnen sehr dankbar. Aber noch eine Frage gestatten Sie mir – Sie sind Künstler, nicht wahr?«

»Maler, mein gnädiges Fräulein.«

»Ich dachte es mir – es ist doch sonderbar, daß man den meisten Menschen gleich von außen ansehen kann, welchem Beruf sie folgen. Es muß etwas an ihnen haften, was uns gleich in der Richtung hin anspricht.«

»Der Staub des Gewerbes,« lächelte Fritz, der kaum die Worte hörte, weil er so ganz auf den lieblichen Klang derselben lauschte. Es war gar so entzückend, wie kurz abgestoßen und doch so glockenrein die einzelnen Silben aus dem Mund hervorquollen, und er hätte volle Stunden lang dabei sitzen mögen. Es war ihm auch wirklich nicht zu verdenken, denn ihm als Maler mußte schon die vollkommen tadellose Gestalt des schönen Mädchens eine liebe und willkommene Erscheinung sein, und dazu kam noch der Zauber, den ihr freies und doch dabei höchst anständiges, ja sogar vornehmes Wesen über ihn heraufrief.

Hätte sich ein deutsches Mädchen je so ungezwungen, so wirklich freundschaftlich nach kaum minutenlanger Bekanntschaft und ohne vorher vorgestellt zu sein, mit einem fremden Mann unterhalten? Gewiß nicht – oder doch nur in seltenen und Ausnahmefällen, und hier kam das wie von selber. Und wie allerliebst sah das aus, wenn sie dazu den Dampf ihrer kleinen Papierzigarre in zierlichen Kräuselwölkchen zwischen den Lippen vorstieß – und diese Lippen!

Wieder hielten sie an einer Station – es war Hanau, und jetzt wurden sämtliche Waggons in Anspruch genommen, um eine wahre Völkerwanderung israelitischer Familien aufzunehmen und nach Frankfurt in ihre Heimat zu befördern.

»Hier gehen noch vier Personen herein!« rief der Oberschaffner, der die Tür öffnete und selber nachsah, – »steigen Sie rasch ein!«

»Aber mer sind fünf, Herr Kondokteur,« sagte eine ältliche Dame, die am linken Arm einen riesigen Arbeitskorb und auf dem rechten ein schreiendes Kind hatte.

»Das Kind zählt ja doch nicht,« sagte dieser, »machen Sie nur rasch!«

»Aber der Jakob muß aach herein – mer kennen uns doch nicht trennen – Jakob, wo bist de?«

»Machen Sie's, wie Sie wollen!« rief der Kondukteur, »ich habe keine Zeit weiter – das ist das letzte freie Coupé, sonst muß ich Sie alle einzeln wegstecken.«

»Gott der Gerechte – von die Kinder weg!« rief die Frau und fuhr wie der Blitz in die Tür hinein. – Olga glitt rasch von ihrem Platz fort und zur Mutter hinüber, damit sie von dieser nicht getrennt würde, und mit ein klein wenig Geistesgegenwart hätte ihr Fritz folgen können; aber er versäumte den richtigen und allein möglichen Moment, und wenige Sekunden später hatte sich die jüdische Familie, mit Mann, Weib und Nachkommenschaft zwischen ihn und Olga geschoben. Ja sogar Jakob war mit eingestiegen und, da er keinen Platz mehr fand, stehen geblieben, setzte sich aber auch gleich darauf, als hinten wahrscheinlich einige Wagen angeschoben wurden und der Zug einen Ruck tat, der älteren Polin auf den Schoß, die darüber entrüstet aufschrie und nach dem Kondukteur rief.

Fritz nahm sich ihrer an und rief einen der Leute herbei, dem er den überzähligen Jakob denunzierte. Dieser sollte jetzt aussteigen und einen anderen Platz suchen, aber die Mutter wollte nicht. Der Jakob sollte bleiben, wo sie blieb, denn er gehörte mit zu der Familie – lieber könnte einer von den andern »Passagiers« aussteigen. Leider half ihr dieser Vorschlag nichts – Jakob mußte wieder hinaus und verschwand gleich darauf in der schon draußen einbrechenden Dunkelheit, während die Mutter ein Mal über das andere rief:

»Wenn mer'n nur wieder finne in Frankfort, den Jakob!«

»Wär' ein Unglück,« sagte endlich der viel vernünftigere Vater, »wenn mer'n nich fänden, als er weiß, wo mer wohne in Frankfort!«

Dann wurde das Gepäck gezählt, während sich der Zug langsam in Bewegung setzte – es sollten sechs Stück sein, aber es waren nur fünf – alles wurde in wilder Hast durcheinander geworfen.

»Als ich will leben und gesund sein,« rief aber die alte Dame, »'s fehlt mer mei Ledertäschche mit dem Portemonneh drin und vier Gulden dreißig Kreuzer in barem Geld – vorhin hatt' ich's noch.« –

Ja, sie machte sogar den Vorschlag, daß der Zug wieder halten solle.

»Ich wollt', der Rothschild wär' mer so viel schuldig,« sagte aber der Alte, »als mer jetzt müsse bezahlen, wenn der Zug halte sollt' – mach kai Stuß – du werst's schon widder finne.«

Er hatte recht; die kleine Rebekka besann sich, daß es der Jakob in den größeren Korb gesteckt hatte, und dort wurde es mit einem Jubelschrei entdeckt, herausgeholt, um zu sehen, ob das Portemonnaie mit den 4 fl. 30 kr. noch drin war, und dann wieder hineingeschoben.

An eine Unterhaltung war jetzt weiter nicht zu denken. Die eben eingetroffene Familie führte diese mit lautester Stimme und in echt jüdischem Dialekt ganz allein, und Fritz, der sich mißmutig in die eine Ecke drückte, erfuhr jetzt, was die Rosengartens für eine liebenswürdige Familie wären, wenn er nur nicht so mit seinen Geschäften prahlte und die Frau nicht lauter seidene Kleider trüge, wo man sähe, daß es »Ausschuß« sei, und die Kinder ein klein bißchen artiger sein wollten, und daß der Levi Sommerthal jedenfalls der Sarah Goldthal den Hof mache und die Sarah den Leutnant »von die Kavallerie« lieber hätte – das eitle, hochfahrige Ding!

Kurz, in dieser Weise ging es bis nach Frankfurt, nur mit einigen Zwischenfällen, fort – die kleine Rebekka hatte sich auf den mitgenommenen Butterkuchen gesetzt und diesen nicht allein vollständig platt gedrückt, sondern auch, wie eine genaue Besichtigung der betreffenden Kleiderteile ergab, einen großen Fettflecken in ihr seidenes »Robche« bekommen. Darüber entsetzt, ließ die Mutter ihren Strickbeutel fallen, aus dem sich eine Partie Schlüssel nach allen Richtungen hin über den Boden des Coupés zerstreuten und zur Bequemlichkeit der übrigen Reisenden wieder mit lautem Gejammer zusammengefühlt werden mußten – kurz, es war eine unbeschreibliche Unruhe in das Coupé gekommen, das der Geruch des warmen Butterkuchens nur noch unbehaglicher machte. Glücklicherweise war die Strecke nicht mehr so lang und Fritz dankte seinem Schöpfer, als die Lokomotive wieder ihren langatmigen grellen Pfiff abgab – ein Zeichen, daß sie sich der Endstation näherten. Dort überließen sie auch die liebenswürdige Familie sich selbst, von welcher der Vater und die Kinder noch emsig nach fehlenden Schlüsseln suchten, während die Mutter draußen auf dem Perron ängstlich und laut nach »Jakobche« schrie und endlich zu ihrer Beruhigung aus weiter Ferne eine Antwort erhielt.

 


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