Friedrich Gerstäcker
Irrfahrten
Friedrich Gerstäcker

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4. Waren Sie schon einmal in Nürnberg?

Es versteht sich eigentlich von selbst, daß Fritz an dem Abend und nach ihrer Ankunft in Frankfurt den hier völlig unbekannten Damen mit ihrem Gepäck half, wie ihnen ebenfalls eine Droschke besorgte. Er erhielt auch zu seiner Freude die Erlaubnis, dieselbe in das vorgeschlagene Hotel, den Landsberg, zu dirigieren und konnte wenigstens noch eine halbe Stunde unten an der Table d'hote mit ihnen zusammen sein. Dort wurde denn auch besprochen, die Fahrt nach Mainz morgen früh mit dem zweiten Zug, denn der erste ging zu früh ab, gemeinschaftlich zu machen, und als sich die Damen – Olga war gar so liebenswürdig gewesen – bald in ihre Gemächer zurückzogen, blieb Fritz noch unten in bester Laune sitzen, um einer Flasche ausgezeichneten Hochheimers zuzusprechen.

Frankfurt! – was kümmerte ihn Frankfurt – was hatte er dort verloren oder zu suchen! – Geld brauchte er nicht, und wenn es der Fall gewesen wäre, hätte er es ebensogut brieflich erlangen können; aber diese scharmante Familie – er meinte natürlich nur die Tochter – durfte er nicht sogleich wieder aus den Augen verlieren, fand man doch nur zu selten angenehme Reisegesellschaft unterwegs, um sie selber gleich leichtsinnig wieder aufzugeben. Und außerdem Mainz – er lächelte still vor sich hin, als er an »Rosa Raspe« dachte. – Claus hatte ihm freilich gesagt, daß sich die Familie gegenwärtig gar nicht in Mainz befände; – aber war das vielleicht nur deshalb geschehen, um ihn davon abzuhalten, sie aufzusuchen? Ob er das letztere tat, wußte er freilich selber noch nicht; jedenfalls konnte er sich aber doch unter der Hand erkundigen, ob die Familie gerade in Mainz oder wo sonst sei und dann noch immer tun, was ihm das beste schien.

Am nächsten Morgen hätte er beinahe die Zeit verschlafen, so süß träumte er von allerlei märchenhaften und zauberschönen Dingen, in welchen die hübsche Russin oder Polin – er wußte es ja selber noch nicht – natürlich eine Hauptrolle spielte. Glücklicherweise erwachte er aber doch noch früh genug, um sich fertig ankleiden und ein etwas beschleunigtes Frühstück nehmen zu können. Dann kam der Kellner, der ihm die Rechnung brachte und dabei meldete, der Omnibus halte schon unten und die Damen seien eben eingestiegen. Und er hatte sich gleich am ersten Morgen saumselig gezeigt! – es war wirklich zu arg und er mußte das jetzt nur wieder gut zu machen suchen.

Die Damen saßen in der Tat schon im Wagen und schienen auf ihn gewartet zu haben, d. h. der Omnibus war nicht eher fortgefahren, bis er den einen säumigen Passagier noch hatte. Er entschuldigte sich jetzt auf das lebhafteste und war auch wirklich feuerrot dabei geworden. Olga empfing ihn aber mit einem gar so lieben Lächeln, und sein Vergehen schien schon vergessen und vergeben, ehe er nur seinen Sitz im Wagen eingenommen hatte.

Und wie wunderbar schön das junge Mädchen heute war, – wie morgenfrisch; aber die alte Dame trug noch immer ihr weißgesticktes, sehr schmutziges Kleid von gestern, was ihn etwas störte. Glücklicherweise saß er neben der jungen, und sie plauderte auch heute nach Herzenslust und lachte noch über ihre gestrige Gesellschaft von Hanau – die jüdische Familie und den verlorenen Jakob, wie über die im Wagen ausgestreuten Schlüssel.

Die Sonne lag in ihrer ganzen Pracht auf dem fruchtbaren Main- und Rheintal, das sie jetzt durchflogen, und nur im Westen türmten sich düstere Wolkenberge auf, die immer mehr eine fast schwarze Färbung annahmen und dadurch einen ganz eigentümlichen Schein auf die Landschaft warfen. Es war ein über den französischen Gebirgen aufsteigendes Gewitter, das wohl dort schon seine wilden Schauer niedersandte, während hier noch die Sonne hell und klar am Himmel leuchtete.

Aber wie rasch verging ihm die Zeit auf der kurzen Fahrt! Er bemerkte kaum die zahllosen Haltestellen und es deuchte ihm nur wenige Minuten, daß sie abgefahren wären, als sie schon über die prachtvolle Mainzer Rheinbrücke rasselten und die Lokomotive ihren schrillen, langgezogenen Pfiff ausstieß.

»Aber wo werden Sie in Mainz logieren?« fragte Fritz jetzt plötzlich, wie aus einem Traume erwachend, denn daran hatte er noch gar nicht gedacht.

Der Zug rollte eben an den Festungswerken vorüber und durch sie hin in den Bahnhof hinein.

»Ich weiß es wirklich noch nicht,« sagte Olga, und es war fast, als ob sie bei der Frage etwas verlegen würde; – »es ist möglich, daß uns jemand am Bahnhof erwartet.« –

»In der Tat?« sagte Fritz bestürzt – aber es blieb ihm keine Zeit zu weiteren Fragen – der Zug glitt in den Bahnhof hinein und hielt an – die Damen waren aufgestanden, um ihr verschiedenes Gepäck zusammenzusuchen, die Tür wurde geöffnet, und als Olga den Kopf hinaussteckte, stieß sie einen freudigen Ruf aus und winkte mit dem Taschentuch draußen irgend jemand zu, der nicht säumte, herbei zu eilen. Fritz bemerkte auch zu seiner nicht eben angenehmen Überraschung einen sehr hübschen, etwas fremdländisch aussehenden, aber sehr elegant gekleideten jungen Mann, der vornehm nachlässig auf dem Perron herankam und leicht den Hut gegen die Damen lüftete. Er half dann Olga aus dem Wagen, nachher der älteren Dame – um die Gesellschafterin kümmerte er sich nicht – und übernahm den Gepäckschein, den er einem Diener in Livree einhändigte.

Fritz war ebenfalls ausgestiegen und stand in einiger Verlegenheit neben Olga. Er schien noch gar nicht mit sich im reinen, ob er sich so plötzlich durch die Erscheinung des Fremden solle abweisen lassen – das konnte ja recht gut ihr Bruder sein – er wechselte auch einige Worte in der fremden Sprache mit der alten Dame – es war jedenfalls ihr Bruder.

»Ach, lieber Wladimir,« sagte da Olga in französischer Sprache, indem ihr Blick zufällig auf Fritz Wessel fiel, – »erlaube mir, dir unseren Reisegefährten vorzustellen, der sich unsrer sehr freundlich angenommen hat. Ich weiß aber Ihren Namen noch nicht einmal, mein Herr.«

»Friedrich Wessel,« stammelte Fritz, ordentlich purpurrot werdend.

Der fremde junge Mann lüftete vornehm den Hut.

»Mein Gemahl,« fuhr Olga, auf ihn zeigend, fort und hing sich an seinen Arm, – »es hat uns recht gefreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.«

Fort ging sie – die alte Polin mit ihrem schmutzig weißen Kleide schleifte vornehm grüßend an ihm vorüber – die Gesellschafterin folgte mit zwei Reisesäcken und drei Hutschachteln, und Fritz sah die Gestalten, wie die Figuren einer Laterna magica an sich vorüberziehen und stand dort, an die Stelle gebannt, wie in einem Halbtraum, als sie schon längst den Bahnhof verlassen hatten.

»Mein Gemahl!« stöhnte er dann endlich leise vor sich hin, – »mein Gemahl – und von mir hat sie sich die ganze Reise ›gnädiges Fräulein‹ nennen lassen!«

»Haben Sie kein Gepäck?« – Mit der Frage rief ihn einer der Kofferträger wieder zum wirklichen Leben zurück.

»Ja – allerdings –«

»Ihren Zettel!«

»Hier!«

»Wo wollen Sie logieren?«

»Im nächsten Hotel.«

»Gut, dann schaff' ich es Ihnen gleich hinüber – warten Sie hier einen Augenblick!«

Fritz war noch gar nicht mit sich im reinen, ob er nach dem eben Vorgefallenen hier überhaupt logieren wolle – aber wohin gleich? Ein Zug ging überdies nicht so bald wieder ab, und wenn er nun vielleicht mit einem Dampfschiff den Strom hinabgegangen wäre? Aber, zum Henker auch, was kümmerte ihn die Polin und ob sie verheiratet war oder nicht – er hätte sie doch nicht zur Frau gemocht – kokettes Frauenzimmer, das sich ganz ruhig »gnädiges Fräulein« nennen ließ und ihn dann ihrem »Gemahl« vorstellte. – »O die Weiber!« murmelte er leise vor sich hin, mit den Worten ein ganzes Geschlecht verdammend, das er eigentlich kaum dem Namen nach kannte, und folgte jetzt seinem Kofferträger in eines der in langer Reihe gerade gegenüberliegenden Hotels, um dort erst einen weiteren Entschluß zu fassen. Er war einmal in Mainz und es war deshalb das beste, der Stadt, die er ja doch besuchen wollte, ein paar Tage zu widmen. Was sollte er sich auch Hals über Kopf in der Welt umherhetzen lassen!

Er bemerkte dabei fast gar nicht, daß der Wind jetzt wie ein junger Sturmwind am Ufer des Rheins entlang fegte und den Strom selber mit kleinen Kräuselwellen überdeckte, ja achtete nicht einmal auf die großen, schweren Tropfen, die erst noch einzeln niederschlugen, als er gerade das Portal des Hotels erreichte und dort von einem halben Dutzend Kellnern in Empfang genommen wurde.

Draußen goß es jetzt plötzlich, als ob – einem üblichen Vergleich nach – alle Schleusen des Himmels aufgezogen oder vielmehr sämtliche Engel Wasserdoktoren geworden wären und den Gesundheitszustand der Erde durch eine allgemeine Überschwemmung gründlich herzustellen gedächten. Fritz warf keinen Blick auf die über das Trottoir spritzenden Tropfen zurück – nur an Olga dachte er und dann, durch den Kellner daran erinnert, an ein warmes Frühstück, denn an dem Morgen hatte er nur in aller Hast eine Tasse Kaffee getrunken, um die Gesellschaft jenes zauberisch schönen Wesens nicht zu versäumen. Allerdings ärgerte er sich jetzt über seine Dummheiten; aber es war eben einmal geschehen und da niemand weiter Zeuge gewesen, auch noch kein so großes Unglück – er mußte die Sirene nur so rasch als irgend möglich wieder vergessen.

Vorderhand widmete er sich mit aller Hingebung seinem Frühstück, trank eine Flasche Wein dazu – eine halbe aus Bedürfnis und die zweite halbe aus Ärger – und sah dabei gedankenvoll zum Fenster hinaus, gegen dessen Scheiben die großen Tropfen jetzt blitzschnell einander folgend anschlugen und lange trübe Rinnen an der Außenseite bildeten.

Rosa Raspe – sonderbar, daß er den so unmelodisch klingenden Namen nicht aus dem Kopf bekam. War es vielleicht gerade deshalb, weil er ihm so unmelodisch klang?

»Kellner, haben Sie ein Adreßbuch im Hotel?«

»Zu dienen!« – Das große, schwere Buch lag wenige Minuten später vor ihm aufgeschlagen und unwillkürlich suchte er nach dem Buchstaben R. – Rappen – Raquette – Raslob – Rasmus – Raspe, Gemüsehändler – Raspe, Blechschmied – alles nicht – Raspe, Buchbinder, auch nicht – Raspe, Dr. med., Bergstraße 32, erste Etage – das war der rechte – Bergstraße 32. – Hm! er konnte dort in aller Ruhe einmal einen Besuch machen, ohne gleich seinen Empfehlungsbrief abzugeben. – Herr Dr. Raspe brauchte gar nicht zu wissen, wer er sei – er brachte Grüße von Claus – war auf der Durchreise. Gab er einen falschen Namen an, so galt das später doch jedenfalls nur als ein Scherz.

»Kellner! eine Droschke!« – Der Regen hatte noch nicht aufgehört – das Gewitter war vorübergezogen; es donnerte und blitzte wenigstens nicht mehr, aber es goß noch und während die Droschke geholt wurde, wechselte er rasch seine Wäsche.

»Wohin wollen Sie?« frug der Droschkenkutscher, als er endlich in den seiner harrenden Wagen stieg.

»Dr. Raspe.«

»Bergstraße?« frug der Mann.

»Kennen Sie das Haus?«

»Na gewiß!« erwiderte dieser und setzte sein Pferd in Trab. Er bog auch augenblicklich in die Stadt selber ein und Fritz kam eigentlich erst in der einsamen Droschke zur Besinnung und überlegte sich jetzt, weshalb er denn nur eine so entsetzliche Eile gezeigt habe, um jenen Dr. Raspe zu besuchen, und welche vernünftige und mögliche Ausrede er nur zu seiner Entschuldigung vorbringen könne. Auf keinen Fall durfte er sagen, daß er eben in dem Augenblick angekommen sei – er befand sich schon zwei oder drei Tage in Mainz und wollte vor seiner Abreise doch den Auftrag seines Freundes erledigen. – Aber da fiel ihm eben noch zur rechten Zeit ein, daß dieser ja kaum erst vorgestern Mainz verlassen haben konnte – das ging auch nicht; und ehe er noch zu einem definitiven Entschluß gekommen war, hielt die Droschke schon dicht vor einem großen, düstern Torweg und der abscheuliche Regen hatte sich indessen eher verstärkt als vermindert – die Wasserkur wurde noch immer fortgesetzt und – dicht vor dem Hause schoß ein ordentlicher kleiner Bergbach vorüber. Er drückte also dem Kutscher durch das vordere Droschkenfenster ein Fünfgroschenstück in die Hand und sprang dann, den Schlag wieder hinter sich zuwerfend, unter den Vorbau des Tors, wo er einen großen Klingelzug entdeckte.

An diesem zog er, und fast unmittelbar danach schnappte ein Riegel und die Haustür klaffte auf, ohne daß er jemand bemerken konnte – sie mußte durch einen Zug geöffnet sein. Als er aber hineintrat, fand er sich noch keineswegs im Hausflur selber, sondern erst vor einer andern Tür, ebenfalls aus starkem braunem Eichenholz, in welcher er einen kleinen Schieber mit Glasfenster bemerkte.

»Alle Wetter!« lachte Fritz still vor sich hin, »Dr. Raspe bewahrt seine beiden holden Blumen, Veilchen und Rose, ganz vortrefflich hinter Schloß und Riegel; aber Claus Beldorf hat doch den Weg hineingefunden und so wird ja auch wohl für mich die Zugbrücke niedergelassen werden – aha, da kommt schon der Burgwart.«

Der kleine Schieber wurde in dem Augenblick geöffnet und Fritz bemerkte das Gesicht irgend eines Individuums, das ihn selber aber gar nicht an-, sondern an ihm vorbei in die Ecke des Torwegs sah und dabei mit einer tiefen Grabesstimme sagte:

»Zu wem wollen Sie?«

Fritz schaute sich im ersten Moment wirklich etwas überrascht um, ob er vielleicht jemand übersehen habe, der noch mit ihm in dem engen Vorhaus stände; aber er befand sich vollkommen allein – die Anrede mußte jedenfalls ihm gegolten haben, und ohne sich lange zu besinnen, fragte er:

»Ist der Herr Doktor zu Hause?«

»Ja.«

»Also nicht verreist?«

»Nein.«

»Seine Familie auch nicht?«

»Nein – was wollen Sie von ihm?«

Dem jungen Mann kam die Frage eigentlich sonderbar vor. Was ging das den Menschen an, was er von dem Doktor wollte? um aber nicht länger aufgehalten zu werden, sagte er:

»Ich komme im Auftrag eines Freundes – ich habe ihm etwas mitzuteilen.«

»So!« erwiderte der Mann und fing an, langsam die Tür aufzuschließen. – »Na, dann gehen Sie nur hinauf! ich komme gleich nach.«

Fritz betrat einen halbdunkeln, mit Eichenholz ausgetäfelten Raum, der eigentlich etwas Unheimliches hatte; er sah gar so düster aus und war so leer und öde; aber wahrscheinlich bewohnte der Doktor das ganze Haus und konnte dann natürlich keine Möbel in den Vorsaal stellen.

Der Mann, der, wie Fritz jetzt bemerkte, entsetzlich schielte, schloß indessen die Tür wieder hinter ihm – die vordere war ebenfalls von selber eingeschnappt – und sagte dann:

»Gehen Sie nur die erste Treppe hinauf! ich komme gleich nach; ich muß erst den Schlüssel holen.« – Und damit schritt er in sein Zimmer zurück, während Fritz langsam vor sich hin mit dem Kopf schüttelte.

»Sonderbar,« murmelte er dabei, »Doktor Raspe wird mir immer interessanter. Der macht ja ein wahres Kloster aus seiner Burg. Jetzt werde ich wirklich neugierig, die beiden Blumen, die er hier bewacht, kennen zu lernen. Jedenfalls ist er selber ein wunderlicher alter Kauz, mit dem ich mich freue Bekanntschaft zu machen. Solche Menschen bilden doch eine Abwechslung im Leben.«

Mit derartigen Gedanken stieg er die breite hölzerne Treppe rasch hinauf, blieb hier aber stehen, denn er hatte den Torwärter nicht einmal gefragt, ob der Doktor im ersten oder zweiten Stock wohne. Jedenfalls aber doch im ersten, nur wußte er nicht, in welcher Tür, denn er befand sich hier plötzlich in einem langen Gang, in den, ähnlich wie in einem Hotel, eine Menge von Türen hineinführten, die auch, wie er jetzt zu seinem Erstaunen bemerkte, mit zwar kleinen, aber doch deutlichen Nummern bezeichnet waren. Er sah sich kopfschüttelnd in dem Raume um; ehe er aber nur einen weiteren Gedanken fassen konnte, öffnete sich plötzlich eine der Türen, und ein bildschönes Mädchen, jedenfalls noch in ihrer Morgentoilette, in einem weißen wallenden Gewand, die Haare aber sorgfältig in zwei lange, prachtvolle Zöpfe geflochten, die ihr vorn über die Schultern herüberhingen, kam heraus, sah sich einen Moment wie scheu um und glitt dann rasch auf ihn zu.

War das Rosa oder Viola? Was für wunderschöne Augenwimpern sie hatte, und wie lieb und doch auch ängstlich ihn die großen dunkelblauen Augensterne ansahen! Er grüßte rasch und artig, aber die junge Dame erwiderte seinen Gruß nicht. Wie schüchtern horchte sie nach der Treppe hinunter und als sie dort noch keinen Schritt hörte oder sich sonst vielleicht sicher glaubte, glitt sie plötzlich dicht an ihn hinan, legte ihre weiße, fast durchsichtige Hand auf seinen Arm und flüsterte ihm zu:

»Fliehen Sie, so rasch Sie können – noch ist es Zeit – oder Sie sind verloren! Um Gottes willen fliehen Sie!«

»Aber, mein bestes Fräulein,« sagte Fritz, wirklich erschreckt, – »ich habe ja keinem Menschen etwas zu leid getan, und wenn Ihr Herr Vater –«

»Zu spät! o, zu spät!« seufzte das arme Kind recht aus tiefster Brust, und einen Blick unendlichen Mitleids aus den verblüfft Dastehenden werfend, glitt sie in ihre Tür zurück und drückte sie hinter sich ins Schloß.

Fritz wäre ihr gern gefolgt, um sie um Aufklärung über die eben erhaltene Warnung zu bitten; aber eben kam der Torhüter langsam und hustend die Treppe hinter ihm herauf und so indiskret mochte er doch auch nicht sein, um die Tür selber wieder zu öffnen, hinter welche sich das schöne Mädchen zurückgezogen hatte. Und wie schön war sie! Er erinnerte sich nicht, je in seinem ganzen Leben ein edleres Profil gesehen zu haben, und wie lieb und gut hatte sie ihn angesehen! Es mußte dabei eine von des Doktors Töchtern gewesen sein, denn als Maler besaß er schon einen Blick für Toilette, und das Gewand, das sie trug, war vom feinsten, sorgfältig gestickten Stoff und das Armband von ihrem linken Handgelenk jedenfalls mit echten Brillanten besetzt. Ehe er aber nur einen weiteren Gedanken fassen konnte, erreichte der Torwächter den oberen Absatz der Treppe, und sich nach links wendend, schloß er hier eine schwere und feste Tür auf, die wieder eine nach oben führende Treppe zeigte.

»So,« sagte er dabei, »gleich rechts in der zweiten Etage ist das Wohn- und Arbeitszimmer des Herrn Doktors. Klopfen Sie nur stark an! er hört ein wenig schwer; er hat ein großes weißes Schild an der Tür.«

Fritz zögerte einen Moment. Er hätte den Mann gern nach der jungen Dame gefragt, aber diese auch vielleicht in Verlegenheit gebracht, und Gefahr? Du lieber Gott, welche Gefahr konnte ihm hier in einem zivilisierten Lande, ja mitten in einer Festung drohen? Jedenfalls hatte ihn das unselige Mädchen wieder für einen anderen gehalten, der, wer weiß was, hier verbrochen haben mochte und den sie warnen wollte. Es war rein zum Verzweifeln, wenn er sich nur die Möglichkeit dachte. Das aber durfte er den Dienstboten unter keiner Bedingung merken lassen; und ihm nur mit dem Kopf zunickend, zum Zeichen, daß er ihn verstanden habe, stieg er rasch die Treppe hinan, die nach dem oberen Stock zu führte. Es befremdete ihn allerdings ein wenig, daß die schwere Tür wieder hinter ihm verschlossen wurde; wozu waren alle diese Vorsichtsmaßregeln nötig? aber an der Sache ließ sich auch jetzt nichts weiter ändern; und ohne sich länger mit nutzlosem Nachgrübeln aufzuhalten, sprang er die wenigen Stufen hinauf, die ihn noch von dem oberen Stock trennten. Er war jetzt selber begierig geworden, den Doktor Raspe kennen zu lernen.

Ehe er die oberste Stufe erreichte, bemerkte er einen ältlichen, aber sehr breitschultrigen Herrn mit einem etwas roten Gesicht und kleinen, lebhaften, grauen Augen, der einen roten Fez auf und eine lange Pfeife in der Hand, dabei im Schlafrock und türkischen Pantoffeln, langsam den Gang herunter und auf ihn zukam. Das war jedenfalls der Doktor selber, und auf der zweiten Stufe stehen bleibend und seinen Hut ziehend, sagte er mit freundlicher Verbeugung:

»Habe ich das Vergnügen, Herrn Doktor Raspe begrüßen zu können?«

Der ältliche Herr antwortete ihm nicht gleich – er sah ihn nur ernsthaft und forschend an und sagte dann mit einer tiefen und klangvollen Stimme:

»Waren Sie schon einmal in Nürnberg?«

Nun hätte Fritz allerdings jede andere Frage eher erwartet; denn welches Interesse konnte es für den Doktor haben, ob ein wildfremder Mensch, dessen Namen er noch nicht einmal kannte, schon einmal in Nürnberg war oder nicht. Er mochte auch wohl ein etwas verdutztes Gesicht gemacht haben, jedenfalls lächelte er verlegen und erwiderte dann artig:

»Nein, verehrter Herr – bis jetzt bin ich noch nicht in Nürn–«

Er kam nicht weiter, denn in demselben Moment versetzte ihm der Herr im Schlafrock und mit der langen Pfeife eine so furchtbare und wohlgezielte Ohrfeige, daß er jedenfalls wieder die Treppe hinabgestürzt wäre, wenn er sich nicht rasch, um sein Gleichgewicht zu wahren, an dem Geländer festgehalten hätte. So plötzlich kam auch der Schlag und so völlig unerwartet, daß er gar nicht imstande gewesen war, ihn zu parieren oder ihm nur irgend auszuweichen; und ordentlich betäubt von dem Hieb sah er zu dem groben Menschen auf. Dieser aber, ohne die geringste weitere Notiz von ihm zu nehmen, drehte sich ab und schritt so ruhig den Gang wieder hinunter, als ob er nur eine Fliege an der Wand totgeschlagen und nicht einen jungen lebhaften Mann bis in die innerste Seele hinein beleidigt hätte.

 


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