Friedrich Gerstäcker
Herrn Mahlhuber's Reiseabenteuer
Friedrich Gerstäcker

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6.

Die verhängnißvollen Schuhe.

Die vorige unruhige Nacht hatte den sonst an seine ununterbrochenste Ruhe und jede Bequemlichkeit gewöhnten Mann so mitgenommen, daß er seine neue Reisegesellschaft, ohne sich auch nur im mindesten um sie zu bekümmern, kaum begrüßte, sondern sich nur in die Ecke zurücklehnte und die Augen schloß, das Versäumte jetzt wenigstens in etwas und nach besten Kräften nachzuholen. Das Glück war ihm diesmal auch günstiger, seine Mitpassagiere nickten ebenfalls hüben und drüben in den Ecken, und der Commerzienrath schlief fest bis nach Burgkundstadt hinein, wo sie um 2 Uhr Nachmittags eintrafen und etwas später mit dem abgehenden Eisenbahnzuge nach Bamberg befördert werden konnten.

Hier aber begann wirklich ein anderes Leben für den Commerzienrath; in seinem ganzen Leben war er noch auf keiner Eisenbahn gefahren, und auch das Kleinste, Unbedeutendste, was mit derselben in Verbindung stand, bis auf die geflügelten Räder der Knöpfe und Mützenzierrathen hinunter, interessirte ihn. Gerührt schien er ordentlich über die Gefälligkeit der ihm doch wildfremden Menschen, seinen Regenschirm oder was er sonst in der Hand hielt, zu tragen – wer hätte sich selbst in Gidelsbach so weit um ihn bekümmert, und er streute die Kreuzer nur so um sich her. Er bedurfte aber auch fremder Menschen, ihn und sein Gepäck wieder richtig an Ort und Stelle abzuliefern, daß er die Restauration und das Gepäckzimmer, den Billetverkauf und sein Coupé fand. Behaglich dort in eine Ecke und das weiche Polster gedrückt, hörte er mit einem eigenthümlichen unheimlichen Wohlbehagen das scharfe Pfeifen der Locomotive, fühlte die Wagen anziehen und sah sich gleich darauf zu seinem unbegrenzten Erstaunen mit einer Schnelligkeit fortgerissen, von der er früher allerdings keine Ahnung gehabt.

Das Coupé war ziemlich voll und der Commerzienrath befand sich zwischen einer ganzen Anzahl von Damen, die, schon eine längere Strecke zusammen gefahren, miteinander flüsterten und schwatzten und sich heimlicherweise ihre Bemerkungen über den frisch eingestiegenen Mitpassagier in die Ohren flüsterten. Mit ihm zugleich gekommen war ein junges bildschönes Mädchen von vielleicht 18 oder 19 Jahren, und die im Wagen Sitzenden mußten natürlich glauben, wovon Commerzienrath Mahlhuber auch nicht die Ahnung hatte, daß sie Beide zusammengehörten. Die verschiedenen Ansichten boten jetzt ungemeines Interesse, ob sie ein jung verheirathetes Paar oder Vater und Tochter sein könnten.

So unschuldig aber auch Freund Mahlhuber unter diesem förmlichen Schauer von Vermuthungen saß und sich nur für Alles interessirte, was mit der Bewegung und Einrichtung der Bahn und der verschiedenen Wagen selber wie ihrer Fortbewegung in Verbindung stand, so aufmerksam hatte das scharfe Ohr seiner jungen Nachbarin die einzelnen Worte hier und da aufgefangen, und ihre Blicke hafteten mehre male, solange sie das unbemerkt thun konnten, auf ihrem Nachbar.

Sehr einfach aber geschmackvoll gekleidet, trug sie einen enganschließenden Oberrock von ungebleichter Seide mit einem rosaseidenen Halstuche und in der Hand einen breitränderigen Strohhut mit einem einfachen seidenen Bande, dann einen Sonnenschirm und eine ziemlich vollgepackte etwas unbequeme Reisetasche, die sie neben sich stehen hatte und auf die sie ihren linken Arm stützte. Sie sah aus wie eine junge Dame, die ein paar Stationen fährt, irgend Verwandte, zu besuchen, dort vielleicht ein oder zwei Nächte zu bleiben und dann in demselben Kleide nach Hause zurückzukehren. Nichtsdestoweniger hatte sie etwas Unruhiges in ihrem Benehmen, das den scharfbeobachtenden Damen im Coupé keineswegs entgangen war, und blos an dem gutmüthigen Lächeln des Commerzienraths spurlos vorüberglitt. Nur ein einziges mal, als sie das große dunkle Auge, gerade wie die Aufmerksamkeit der Uebrigen nach anderer Richtung hingezogen wurde, auf ihn mit einem so ängstlich fragenden Blick geheftet hielt, fiel es ihm selber auf und er wollte sich in der That schon erkundigen, ob sie etwas von ihm wünsche oder ob er Irgendjemandem aus ihrer Bekanntschaft, der er aber natürlich nicht wäre, frappant ähnlich sähe. Sie drehte jedoch das Köpfchen gleich darauf wieder leise erröthend nach der andern Seite, und er dachte nicht weiter daran.

»Es ist jedenfalls Mann und Frau«, sagte indessen die eine alte Dame auf der andern Seite des Coupé, die sich zu der ihr gegenüber Sitzenden mit dem Oberkörper vorbog, damit sie, in dem Klappern der Wagen, nicht zu schreien brauche, »sie reden fast gar nicht miteinander und die junge Frau dreht nur manchmal das Köpfchen nach ihm herum, zu sehen was er für ein Gesicht macht.«

»Der alte Esel hätte eher an sein Grab als an die Heirath mit einem so jungen Dinge denken sollen – wenn's wahr ist –« sagte die Andere.

»Ich möchte nur wissen wie lange das dauern wird«, meinte die Erste wieder und stahl einen Seitenblick nach der jungen Frau, den sie aber augenblicklich anscheinend gleichgültig zum Fenster hinauswarf, als sie deren Auge fest auf sich geheftet fand; »sie kann das doch nicht gehört haben«, setzte sie schnell und leise hinzu.

»Und was wär's?« sagte die Andere, den Kopf hinüberwerfend, »Jeder hat ein Recht zu seiner Meinung, sollt' ich denken.«

Die dem Commerzienrath gegenübersitzende Dame hatte indessen kaum einen Augenblick ruhig gesessen, sondern bald auf dem Sitze herum, bald mit den Füßen unter sich gefühlt und bald ihre Röcke beiseite gedrückt und an des Commerzienraths rechtem und linkem Beine heruntergesehen.

»Suchen Sie etwas?« fragte dieser endlich gefällig, und sie hatte wirklich noch nichts Anderes gethan die ganze Zeit.

»Ach das ist mir sehr fatal«, sagte die Dame, »ich muß meine Ueberschuhe zu Hause haben stehen lassen, denn ich erinnere mich nicht sie hier im Wagen ausgezogen zu haben, und sie sind doch nirgends zu sehen. Wenn wir jetzt noch Regen bekommen zu den schon so schmuzigen Wegen, kann ich mit meinen dünnen Zeugstiefeln im Schlamme herumwaten.«

»Wenn Sie mir erlauben«, sagte der Commerzienrath und machte einen verzweifelten, wenn auch völlig erfolglosen Versuch sich zu bücken, »so will ich selber einmal nachsehen.«

»O bitte, bemühen Sie sich nicht – ach das ist mir doch recht fatal«, sagte die Dame, eine recht nette, noch ziemlich jung und frisch und blühend aussehende Frau.

»Ja, man ist auf der Reise so manchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt«, sagte der Commerzienrath seufzend, »man muß so Manches entbehren, dessen Nützlichkeit und Nothwendigkeit man wirklich erst einsieht, wenn man es vermißt.«

»Ja, und besonders wenn man leidend ist«, sagte die junge hübsche Frau mit einem tiefen Seufzer, indem sie jede Hoffnung auf die Ueberschuhe aufzugeben schien, und neben dem Commerzienrath hin zum Fenster hinaussah; »ich kann mir den Tod holen in meinen dünnen Schuhen.«

»Es ist unendlich fatal«, sagte der Commerzienrath und sah noch einmal nach links auf die Knie der verschiedenen Damen nieder, die ihm jede Aussicht nach unten rettungslos versperrten.

»Ich gehe nie in Zeugstiefeln«, sagte eine dicke Dame in einem papagaigrünen seidenen Hute und blauen Blumen darin, mit sehr rothem Gesichte und einem Paar entsetzlich großer emaillirter Ohrringe, die rechts und links aus dem Hute heraushingen – sie saß dicht neben der jungen Frau, dem Commerzienrath schräg gegenüber, und hatte indessen eben eine gestrichene Semmel mit Käse beendet, die einen warmen unangenehmen Geruch im Coupé verbreitete –; »ich trage bei schmuzigem Wetter immer Lederschuhe, und die sind mir noch manchmal zu heiß. Durch die Ueberschuhe verdirbt man sich die Füße. Männer tragen sie und mögen sie tragen – Männer rauchen auch Cigarren, aber ich halte Ueberschuhe für etwas Unweibliches.«

Der Commerzienrath, der keinesfalls den ganzen Sinn der Worte verstanden, nahm das wunderbarerweise für ein ihm gemachtes Compliment, wenigstens verneigte er sich gegen die Dame und sagte verbindlich:

»Ich kann mich auch nie erinnern Ueberschuhe getragen zu haben, obgleich mein kränklicher Zustand mich wol dabei würde entschuldigt haben. Dorothee, weiß ich, drang oft in mich mir ein Paar anzuschaffen, aber ich sträubte mich hartnäckig dagegen – ich habe Frostballen am linken Fuß.«

»Dorothee heißt sie«, sagte die eine Dame an der andern Seite des Coupé leise zu ihrer Freundin.

»Sie sehen aber gar nicht aus als ob Sie einen kränklichen Zustand hätten«, erwiderte ihm die dicke Dame mit den großen Ohrringen. »Es ist merkwürdig was die Männer immer gleich pimpeln und lamentiren, wenn ihnen einmal der Finger wehthut, und uns nennen sie das schwache Geschlecht! Sie sollten einmal unsere Schmerzen zu ertragen haben.« Und sie nickte dabei mit dem Kopfe und sah sich unter ihren Nachbarinnen mit einem triumphirenden Blicke ringsum, der nicht Anerkennung suchte, nein, der wußte, daß er sie zu fordern hatte.

»Nun, ich weiß doch nicht«, meinte der Commerzienrath, und in der Furcht in dem Klappern des Wagens nicht gehört zu werden, schrie er dabei etwas mehr als gerade nöthig gewesen wäre; »ich zum Beispiel leide, nach einer sehr schmerzhaften Operation, deren Folgen vielleicht noch im Hintergrunde für mich lauern, an gelber Hypertrophie, die mir große Sorgen bereitet und mich in der That auf Reisen getrieben hat.«

»Ueberdrofi?« fragte die dicke Frau erstaunt, »wer hat schon in seinem Leben von Ueberdrofi gehört? Was sie jetzt für verrückte Namen für alle Krankheiten haben!«

»Es ist eine speckige Entartung der Leber«, sagte der Commerzienrath rasch und sehr erfreut, die Dame mit den großen Ohrringen in etwas belehren zu können, »eine Art Fettleber, die, völlige drei Zoll zu groß für den übrigen Bau meines Körpers, an Rippen, Zwerchfell und Magen anstößt und mir die bedauerlichsten Unbequemlichkeiten veranlaßt. Ein Fahren im Wagen ist mir deshalb von meinem Arzte als eine Art Passivgymnastik besonders empfohlen worden.«

»Als was?« fragte die dicke Dame und sah ihn groß und erstaunt mit ihrem vollen rothen Gesicht an.

»Als eine Art Passivgymnastik.«

»Das Fahren?«

»Ja wol –«

»Nun Gott sei Dank«, sagte die dicke Dame und warf wieder einen Blick umher wie vorher, »und reist ihre Frau auch auf Passif-, wie hieß das Andere?«

»Gymnastik – meine Frau?« setzte der Commerzienrath überrascht hinzu und die andern Damen steckten die Köpfe zusammen. Ehe er aber noch etwas weiter darauf erwidern konnte, pfiff die Locomotive, der Zug ging langsam und die junge hübsche ihm gegenübersitzende Frau mit den vergessenen Ueberschuhen stand auf, ihr Umschlagetuch, das zurückgefallen war, wieder über die Schultern zu nehmen.

»Sie wollen uns hier schon verlassen?« fragte der Commerzienrath, während die dicke Frau sich von ihm abbog und ihre Nachbarin zur Rechten, in einem Versuch der an der andern Ecke sitzenden Dame etwas zuzuflüstern, fast erstickte.

»Ja, ich gehe nur bis Hochstadt«, lautete die Antwort, während die Sprecherin aus dem Fenster und nach den Wolken schaute; »lieber Gott im Himmel«, setzte sie dabei ängstlich hinzu, »da hinten steigen wirklich schon Wolken auf und wenn wir noch mehr Regen bekommen, bin ich verloren.«

»Sie werden sich ein Paar andere Schuhe kaufen müssen«, sagte der Commerzienrath wohlmeinend, »es wird wirklich das Beste für Sie sein.«

»Ach das viele Geld so hinauswerfen«, sagte die kleine Frau seufzend, »es wird mir aber am Ende nichts Anderes übrigbleiben, und ich glaubte so fest, daß ich sie mithätte.«

»Nun vielleicht finden sie sich noch«, suchte sie Herr Mahlhuber zu trösten; aber der Trost war sehr schwach, denn der Zug hielt in diesem Augenblick und die junge Frau stieg, wie das Coupé geöffnet wurde, mit freundlichem Gruß aus.

»Station Hochstadt!« sagte der Conducteur. »Der Zug wird gleich wieder fortgehen.«

Der Commerzienrath hatte ihr eben den Reisebeutel nachgereicht, als draußen ein Kellner mit Bier vorüberkam. Herrn Mahlhuber durstete, ebenfalls eine Folge seines Leberleidens, wie er sich selber entschuldigte, fortwährend, und er gedachte nicht eine so gute Gelegenheit vorbeizulassen, den Durst zu löschen. Wie er aber ausstieg warnte ihn der Conducteur den Zug nicht zu versäumen, der den Augenblick wieder abgehen würde.

»Nur einmal trinken, lieber Freund«, sagte der Commerzienrath bestürzt, »ich habe ein Leberleiden, die gelbe Hypertro –«

»Ja von der kommt's«, lachte der Mann, ebenfalls ein Glas auf einen Zug leerend und sich den Bart wischend, »das weiß der Henker, die ist immer trocken«, und ohne sich weiter mit dem Passagier einzulassen, ging er seinen Geschäften nach den Zug hinunter.

Commerzienrath Mahlhuber trank sein Bier aus, bis auf die Nagelprobe, sprang aber gleich darauf erschrocken, als die Locomotive einen kleinen Pfiff that, in das Coupé zurück, solche Angst hatte er dagelassen zu werden. Uebrigens blieb ihm auch gar nicht viel Zeit, denn als er eben noch zum Fenster hinaussah, pfiff es draußen wirklich und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Wie sie an den Bahnhofgebäuden vorüberfuhren, sah er die junge Frau, die von ihnen ausgestiegen und deren Platz ein junger Mensch mit semmelblonden Haaren eingenommen, draußen nicht weit von den Schienen stehen. In dem Augenblick berührte aber auch zufällig sein Fuß etwas im Wagen, das ihm wie ein Ueberschuh vorkam, und rasch, in der Erregung des freudigen Gefühls, ein gutes Werk zu vollführen, und selbst auf die Gefahr hin, seiner Leber Schaden zu thun oder ein paar Knöpfe abzusprengen, fuhr er mit der linken Hand hinunter und erfaßte wirklich zwei dort stehende große Schuhe.

»Hier sind Ihre verlorenen Schuhe, Madame!« rief er in vollem Jubel hinaus.

»Ach, ist es möglich?« rief die junge Frau und streckte die Arme danach aus. An ein artiges Ueberliefern war aber gar nicht mehr zu denken, denn der Zug fing schon an rasch zu gehen, und mit wirklich lobenswerther Entschlossenheit ergriff er die beiden Schuhe und warf sie nach der Richtung hin, wo die Dame stand, die mit freundlichem Handwinken ihm für seine Gefälligkeit, als er sich noch lächelnd nach ihr hinaus aus dem Fenster bog, dankte.

»Herr, sind Sie des Teufels?« schrie in dem Augenblick die dicke ihm schräg gegenübersitzende Dame und wurde kirschroth im Gesicht vor Zorn und Aufregung. »Sie haben meine Schuhe aus dem Fenster geworfen – halt da! – halt – halt!« schrie sie dabei und drängte sich in wilder Aufregung dem offenen Fenster zu, die ihr im Wege Sitzenden mit Keilkraft auseinandertreibend; »halt!« schrie sie, sehr zum Ergötzen der draußenstehenden Bahnwärter und Arbeiter, denn an den Gebäuden waren sie schon vorüber, »halt, meine Schuhe – ich muß meine Schuhe haben – ich kann nicht ohne meine Schuhe weiterfahren!«

Grinsende Gesichter der Draußenstehenden waren Alles, was man ihr darauf antwortete, »Brrrr!« riefen wol Einige, in boshaftem Spotte die Locomotive mit einem durchgehenden Pferde vergleichend, und ein Anderer stellte sich hin und ahmte mit den Armen das Arbeiten eines Telegraphen nach, der in gewaltiger Eile irgendeine wichtige Botschaft meldet; aber Mitleiden durfte sie von den Leuten nicht erwarten – noch weniger ihre Schuhe, und wenige Secunden später hatte der Zug die Station weit und unerreichbar hinter sich.

»Herr, Sie sind werth, daß man Sie hinter den Schuhen her würfe«, wandte sich jetzt der Grimm der dicken Frau gegen den entsetzten Commerzienrath, der sich im Anfange noch nicht einmal recht in das Unheil, das er angerichtet, hineindenken konnte, »jetzt kann ich barfußlaufen.«

»Aber ich denke Sie tragen keine Ueberschuhe«, rief der entsetzte Mann, der sich, in der peinlichsten Lage von der Welt nur noch an diesen letzten Hoffnungsanker klammerte.

»Ueberschuhe – wer redet von Ueberschuhen!« schrie die Frau, den jungen semmelblonden Mann fest in seine Ecke hineindrückend, »daß der Böse Ihre Ueberschuhe hole; meine Schuhe haben Sie hinausgeworfen.«

»Ihre Schuhe?« fragte der Commerzienrath in unbegrenztem Erstaunen, während die andern Frauen untereinander lachten und kicherten, »aber wie ist das möglich?«

»Möglich?« wiederholte die gereizte Dame mit blitzenden Augen, »möglich? Ich hatte sie abgezogen, weil sie mir zu heiß wurden – ich leide an heißen Füßen; jetzt sitz ich in Strümpfen.«

»Aber ich bitte Sie um Gotteswillen!«

»Gehen Sie zum Teufel mit ihren Bitten!« schrie die gereizte Frau und das Gesicht wurde ihr ordentlich braun in der furchtbaren Aufregung; »nun sitz' ich hier barfuß und kann mir den Tod holen, bis ich nach Bamberg komme.«

»Aber ich gebe ihnen mein Ehrenwort –«

»Behalten Sie Ihr Ehrenwort und geben Sie mir meine Schuhe?« schrie die Amazone.

Das junge Mädchen an seiner Seite war, außer dem jungen blonden Mann, der noch gar nicht verstand, um was es sich hier eigentlich handelte und ein etwas verdutztes Gesicht in das allgemeine Vergnügen hinein machte, die Einzige von den Zuschauern gewesen, die nicht gelacht hatte; oder sie wollte es auch vielleicht verbergen, denn sie bog das Köpfchen, wie der Blonde in den Wagen stieg, tief nieder, als ob sie den Ausdruck ihres Gesichts – vielleicht das ganze Gesicht verbergen wollte. Während des von weiblicher Seite leidenschaftlich genug geführten Gesprächs sagte sie auch kein Wort, und in der That ließ auch die Dame in dem papagaigrünen Hute, in dem Bewußtsein ihrer schändlich misbrauchten hülflosen Lage, Niemand Anderes zu Worte kommen.

»Aber, liebste Madame –«, sagte der Commerzienrath in einem trostlosen Versuche sie zu besänftigen.

»Gehen Sie mir mit Ihrer Madame«, schrie die Frau, »schaffen Sie mir meine Schuhe – Herr! Wer gibt Ihnen ein Recht hier, anderer Leute Schuhe zum Fenster hinauszuwerfen?«

»Aber ich will sie Ihnen mit größtem Vergnügen bezahlen –«

»Und was zieh' ich denn jetzt an? Soll ich etwa barfuß oder in Strümpfen in Bamberg zu einem Schuster laufen?«

»Ich würde Ihnen gern ein Paar von den meinigen –«

»Haben Sie Schuhe bei sich?«

»Schuhe? Nein, aber Stiefel –«

»Glauben Sie, daß ich in Männerstiefeln in der Stadt herumlaufen soll?« rief die Schöne entrüstet, »nein, ist schon Jemandem eine solche Unverschämtheit vorgekommen?«

»Aber was um des Himmels Willen verlangen Sie, das ich thun soll?« rief der Commerzienrath in Verzweiflung, »das Unglück ist einmal geschehen und ich kann nicht mehr thun, als daß ich Ihnen selber überlasse zu bestimmen, was ich thun soll.«

Die dicke Dame hatte aber noch gar nicht die Absicht, den durch ihr erlittenes Unrecht gewonnenen Vortheil, das Wort allein zu haben, sobald wieder aufzugeben, und erst als der Commerzienrath in dumpfem unheilvollen Schweigen und tief aufseufzend in seine Ecke zurücksank, zeigte sie sich bereit überhaupt auf Unterhandlungen einzugehen, die dahin endeten, daß der unglückliche Mann vor allen Dingen sechs Gulden für ein Paar neue Schuhe auszahlte, ferner nach der letzten Station versprechen mußte zurücktelegraphiren zu lassen, daß die verwechselten Schuhe mit dem nächsten Zuge in den Goldenen Ochsen nach Bamberg geschickt würden, und außerdem seinen Reisesack öffnete und der dicken Madame seine dunkeln tuchenen ganz neuen Pantoffeln, die er kaum zwei mal an den Füßen gehabt und die auf Versuch vollkommen gut paßten, anbot, in Bamberg wenigstens damit in einen Schuhladen gehen zu können, den Schaden zu ersetzen. So dreifach entschädigt beruhigte sich die Dame wenigstens insoweit, das erlittene Unrecht in die Busen ihrer Nachbarinnen auszuschütten und mit den schon benutzten Hausschuhen des Commerzienraths – denen sie verleumderischerweise nachsagte, daß sie ihr zu weit wären – zu scharren.

Der semmelblonde junge Mann hatte indessen bei genauerer Musterung des Coupé auch das junge Mädchen bemerkt und, von dem Anblick seiner übrigen Reisegefährten rasch befriedigt, seinen Blick länger und aufmerksam auf ihr ihm noch halb entzogenes Antlitz geheftet. Der Blick wurde aber, schon während des Tumults im Coupé, forschender, als er wirklich bekannte Züge zu entdecken glaubte, bis die junge Dame, die doch nicht immer in der niedergebückten Stellung bleiben konnte, den Kopf einmal in die Höhe hob und er nun sah, daß er sich nicht getäuscht hatte.

»Wenn ich nicht irre, mein Fräulein«, redete er sie jetzt an, während seine Nachbarin zur Rechten noch immer gegen sein vis-à-vis ein Kreuzfeuer hinüberdonnerte, »habe ich das Vergnügen Fräulein Redmeier vor mir zu sehen?«

Das junge Mädchen wurde purpurroth im Gesicht und stammelte verlegen einige Worte.

»Sie waren, glaub' ich, im vorigen Monat –«, die Frau schrie jetzt so dazwischen, daß er für eine zeitlang den Versuch aufgeben mußte, und erst später, als sie sich endlich beruhigt, begann er wieder: »Sie waren, glaub' ich, im vorigen Monat in Schweidnitz bei meinen Aeltern – Karl schrieb uns, daß er unendlich glücklich sei.«

Das junge Mädchen verneigte sich wieder halb gegen ihn, und während sich der Commerzienrath mit einem aus tiefster Brust geholten Seufzer, nach beendigter Unterhandlung, in seine Ecke zurücklehnte und das Reisen verwünschte, das ihm nun schon seit er den Postwagen bestiegen, ihm dem ruhigen, gesetzten Mann, fast nur eine Reihe von Abenteuern und Fährnissen in den Weg geworfen, fuhr der junge semmelblonde Mann in seiner süßen Weise fort: »Sie werden einen braven wackern Mann in ihm finden – und er spielt vortrefflich die Violine. – Gott sei Dank, er hat es nicht nöthig, aber in den Abendstunden ist es doch eine sehr angenehme Erholung – er wird Sie auf den Händen tragen.«

Die junge Dame wechselte indessen mehrmals die Farbe und schien in einer ziemlichen Verlegenheit, was aber der junge semmelblonde Mann gar nicht bemerkte, sondern in seiner faden süßlichen Weise fortfuhr.

»Aber wo wollen Sie denn eigentlich hin?« unterbrach er sich plötzlich, als ihm der Gedanke das Hirn kreuzte; »wie mir Mama geschrieben hat, erwarten sie doch Karl morgen oder übermorgen zu Hause und ich habe mich eigentlich nur hier in Hochstadt aufgesetzt, um mir in Bamberg, wo ich sehr bekannt bin und meinen alten Schneider habe, einen Anzug anmessen zu lassen – es ist merkwürdig, wie stark ich in dem letzten Jahre geworden bin; das gute Bier hier kräftigt den Körper ungemein.«

Sein Blick fiel in diesem Moment auf den Commerzienrath und er sagte rasch, mit einer halben fast erschrockenen Verbeugung:

»Doch nicht Ihr Herr Onkel, wenn ich fragen darf? – Sie hatten ihn ja wol erwartet?«

»Ja«, hauchte die junge Dame in wirklich tödtlicher Verlegenheit, und der Commerzienrath, der sich eben den Schweiß von der Stirn trocknete und, noch mit dem Gedanken an seine Schuhe beschäftigt, gar nicht darauf gehört hatte, was seine beiden Nachbarn miteinander verhandelten, und dem also auch die letzten Worte gänzlich entgangen waren, erwiderte in aller Unschuld halb verbindlich, halb verlegen die tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung des jungen Mannes, der ihm in einigen undeutlichen Worten, die auch größtentheils das Klappern der Wagen verschlang, versicherte, daß er sich unendlich glücklich schätze seine werthe Bekanntschaft zu machen, und daß er hoffe, wie sie als künftige Verwandte recht gute und treue Nachbarschaft halten würden.

Der Commerzienrath Mahlhuber, der keine Idee davon hatte, was der junge fade Mensch von ihm wolle und noch viel weniger sich daraus machte, verbeugte sich noch einmal und lehnte sich dann wieder, zufrieden einem weitern Gespräch mit ihm enthoben zu sein, in seine Ecke zurück. Die Dame in dem papagaigrünen Hut, der daran lag, zu wissen wer der Unmensch sei, der ihre Schuhe zum Fenster hinausgeworfen – benutzte aber die erste Gelegenheit, wo der junge blonde Mann sich wieder gerade aufrichtete, ihn mit halb unterdrückter Stimme zu fragen, wer der Mensch da drüben sei und wie er heiße.

Der junge Mann, dem daran lag die Dame wissen zu lassen, mit wem er verwandt sei, vertraute ihr ebenso leise, daß er der Herr Regierungsrath Redmeier und jetzt gerade von Nordamerika zurückgekehrt sei, wohin er im Auftrage der Regierung eine Reise gemacht.

Die dicke Dame erschrak; ein Regierungsrath – und was für Grobheiten hatte sie ihm angethan; wenn er das nun dem König wiedersagte – und also das war der Onkel von der jungen Frau – nicht der Mann? –

Gott bewahre! Die junge Dame heirathete in nächster Zeit seinen ältesten Bruder, den Referendar Fädchen, einen braven wackern jungen hübschen Mann, der auch vortrefflich Violine spielte, Gott sei Dank, er hatte es nicht nöthig, aber in den Abendstunden war es doch sehr angenehm. Er selber war Oekonom auf einem Gute in der Nähe von Hochstadt – hatte eine sehr gute Stelle – sein Principal konnte gar nicht ohne ihn fertig werden – er führte die ganze Wirthschaft – er spielte auch Klavier, aber nicht so gut wie sein Bruder die Violine.

Der junge Fädchen hatte seinen Kopf soweit als möglich abgebogen, damit die Braut nicht etwa hören sollte, daß von ihrem Bräutigam gesprochen wurde.

»Bester Herr«, flüsterte das junge Mädchen da rasch und heimlich dem ausruhenden Commerzienrath zu, indem sie vorsichtig seinen Arm berührte.

»Bitte tausend mal um Entschuldigung«, murmelte der Commerzienrath, der wahrscheinlich glaubte, daß er sie angestoßen habe. –

»Bester Herr«, wiederholte das arme Mädchen in Todesangst, denn der günstige Moment konnte schon im nächsten Augenblick verflossen sein, »wenn Sie Mitleid mit einem armen Mädchen haben wollen, so widersprechen Sie mir nicht und steigen Sie in Lichtenfels mit aus – sei es auch nur sich in ein anderes Coupé zu setzen – die Verzweiflung und Noth treibt mich zu diesem Schritt, und Sie leisten einem unglücklichen Wesen einen großen Dienst.«

»Hallo!« dachte der Commerzienrath und sah überrascht seine Nachbarin an, deren liebes, von der Erregung der eigenthümlichen Situation rosig übergossenes Antlitz so bittend und vertrauend, so ängstlich und kummervoll zu ihm aufgehoben war, während in den treuen dunkeln Augen ein ganzer Himmel lag. Er begriff auch gar nicht, da er kaum die Hälfte der Worte verstanden, was sie eigentlich von ihm wollte, hätte es aber auch nicht übers Herz bringen können, Nein zu ihr zu sagen, was es auch gewesen sein mochte. Lange Zeit zum Ueberlegen wurde ihm dabei gar nicht gelassen, denn Herr Fädchen, dem es nicht entgangen war, daß seine künftige Schwägerin etwas mit ihrem Onkel geflüstert und ihm wahrscheinlich mitgetheilt haben mochte, wer er selber sei – der alte Herr hatte ganz erstaunt dabei ausgesehen –, glaubte jetzt für sich selber wieder den günstigen Zeitpunkt gekommen ein Wort einfließen zu lassen.

»Sie haben doch hoffentlich eine gute Reise gehabt, verehrter Herr Regierungsrath?« sagte er mit seiner süßen, auf Alles gefaßten Stimme, die jeder Biegung, nur nicht des Widersprechens fähig war.

»Regierungsrath?« Der Commerzienrath wollte gegen einen solchen, ihm nicht zustehenden Titel protestiren, aber der leise Druck, den er an seinem Arme fühlte, war ihm Dasselbe, was dem Gefangenen das Bewußtsein der Kette ist – er war nicht mehr frei, und in einer dunkeln Ahnung von allen möglichen neuen Unbequemlichkeiten machte er wieder eine etwas ungeschickte Bewegung gegen den jungen Blondin.

»Sie haben doch hoffentlich eine gute und glückliche Reise gehabt?« schrie dieser aber jetzt lauter als vorher, weil er glauben mochte, der alte Herr habe ihn nicht verstanden, und auch ein dunkles Gefühl hatte, als ob ihm einmal Jemand gesagt, er höre etwas schwer.

»Gute Reise?« brummte der Commerzienrath, dem die in den letzten 48 Stunden ertragenen Leiden vor der Seele im Nu emporstiegen, »glückliche Reise? – bisjetzt war's eine Marterpartie, und wenn ich Dorothee gefolgt hätte . . . .«

»In Bamberg werde ich mir das Vergnügen machen, Sie bei einem Onkel von mir einzuführen«, schrie der junge hoffnungsvolle Mann wieder, »er hat eine Materialienhandlung und ist ein vortrefflicher alter Herr – spielt auch ausgezeichnet die Flöte – er wird uns heute Abend etwas vorspielen – er thut das alle Abende, manchmal zwei, drei Stunden lang – es ist ein prächtiger alter Kauz. – Sie gehen doch bis Bamberg?«

Der Commerzienrath, der nur eine unbestimmte Ahnung hatte wo Bamberg lag, hätte schon einen Umweg gemacht, als er nur von der Flöte hörte, denn erstens war ihm jedes Instrument unangenehm, die Maultrommel ausgenommen, und dann die Flöte noch besonders verhaßt vor allen übrigen. Er fühlte aber auch, daß er hier mit dem jungen hübschen Mädchen und dem so laffig aussehenden jungen Burschen jedenfalls in eine Verwickelung käme, der er am besten vielleicht noch durch einen zeitigen Rückzug entgehen könnte. Abenteuer – hatte er es dem Doctor nicht vorhergesagt? – da war eins brühwarm vom Feuer weg, und fix und fertig gleich aufgetragen, um verzehrt zu werden. Das hatte ihm noch gefehlt, die Nacht keinen Schlaf und am hellen Tage Aufregungen und Verwickelungen. Nein, dagegen gab es ein probates Mittel; er nahm an der nächsten Station leise und ohne Jemandem ein Wort davon zu sagen, seinen Reisesack und sein Sitzkissen unter den Arm und empfahl sich; dann konnte die übrige Gesellschaft ruhig nach Bamberg oder wo sie sonst hinwollte fahren, und nachdem er sich hier einen Tag ausgeruht, war er dann immer im Stande die Reise, und zwar in aller Gemüthlichkeit und unbelästigt, fortzusetzen. Vor allen Dingen beschloß er dabei sich fern von Damen zu halten, die ihn jetzt regelmäßig in die verschiedenartigsten Verlegenheiten gebracht, und wenn es wahr ist, daß man durch Schaden klug wird, so wollte er sich die Sache gesagt sein lassen und davon profitiren.

Um nun wenigstens nicht mehr angeredet und belästigt zu werden, lehnte er sich in seine Ecke zurück, schloß die Augen und that als ob er fest eingeschlafen wäre.



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