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»Da haben wir die Bescherung«, stöhnte der Commerzienrath stillbetrübt vor sich hin, als ihn der Gendarm, seinen eigenen Geschäften nachzugehen, verlassen hatte; »ich sitze hier, schon ohnedies ein halber Gefangener, auf mein Gepäck wartend, und die beiden Brüder der Mamsell, die mich mit ihrer Onkelschaft in die nichtswürdigste Verlegenheit gebracht hat, fahren in der Gegend umher und werden, wenn sie sich in der falschen Fährte finden, jedenfalls hierher zurückkehren. Finden sie mich als Mitschuldigen aus, kann ich mir gratuliren, denn daß ich an der ganzen verdammten Geschichte so unschuldig bin wie ein neugeborenes Kind, wird mir natürlich gar Niemand glauben. Und wie hab' ich mich selber der Polizei gegenübergestellt? Gott im Himmel, wenn das später in die öffentlichen Blätter käme und Dorothee kriegte es zu sehen, ich wäre ein geschlagener Mann.«
Der Commerzienrath blieb noch eine ganze Weile, mit seinen eben nicht sehr erfreulichen Gedanken beschäftigt, an dem Tische sitzen; da die Nacht aber indessen mehr und mehr einbrach und der Tabacksqualm in dem engen Raum immer unerträglicher wurde, beschloß er lieber wieder in sein Zimmer zu gehen. Er ließ sich deshalb unten ein Licht geben, stieg langsam die Treppe hinauf, ging über den Gang hinüber nach seiner Stubenthür, öffnete sie und wollte eben gähnend eintreten, als er Licht darin und am Tisch einen Fremden sitzen sah.
»O bitte tausend mal um Entschuldigung«, rief der Commerzienrath, vor der unerwarteten Entdeckung zurückfahrend, »ich habe die Thür verwechselt.«
Der Fremde machte eine leichte gleichgültige Bewegung mit dem Kopfe, als ob er hätte sagen wollen: Sie sind vollkommen entschuldigt, und studirte dann in den vor ihm liegenden Papieren weiter. Der Commerzienrath dagegen drückte die Thür leise und artig ins Schloß zurück, den Fremden da drinnen nicht weiter zu stören und sein eigenes Zimmer zu suchen. Aber wo war das? In den vielen Thüren des Corridors fand er sich gar nicht mehr zurecht, und wo er eine Thür anfaßte, traf er entweder schon Jemanden im Zimmer oder sie war verschlossen. Noch einmal ging er jetzt an die Treppe zurück, um von da aus in einer gewissen Art von Instinct die rechte Thür zu finden; sein Weg führte ihn wieder an dasselbe Schloß, hinter dem der Mann neben dem Tische saß und las, und es blieb ihm jetzt nichts weiter übrig als hinunterzugehen und seine Nummer zu erfragen.
»Nummer vom Herrn Commerzienrath – welche Nummer hat der Herr Commerzienrath?«
»Nummer 7.«
»Nummer 7, Herr Commerzienrath!« wiederholte der Wirth.
»Nein, das ist nicht möglich«, sagte Herr Mahlhuber, »in dem Zimmer wohnt ein anderer Herr; Nummer 17 vielleicht.«
»Nein, Nummer 7«, drückte sich der Wirth jetzt mit einer etwas verlegenen Verbeugung vor, »ach bester Herr Commerzienrath, »Sie dürfen es nicht übelnehmen –«
»Aber in Nummer 7 wohnt schon Jemand«, sagte dieser bestimmt; »ich habe mir Nummer 7 bestimmt angesehen.«
»Ich weiß wohl, Herr Commerzienrath«, sagte der Wirth mit seinem freundlichsten Lächeln, »aber die entsetzlich vielen Gäste, die gerade heute Abend angekommen sind –«
»Ja, dagegen habe ich ja gar nichts, sagen Sie mir nur meine Nummer.«
»Ich bin genöthigt gewesen, den Herrn mit in Ihr Zimmer einzuquartieren«, brach der Mann in einem verzweifelten Entschlusse heraus.
»In mein Zimmer?« rief der Commerzienrath, und beinahe hätte er das Licht, das er in der Hand trug, fallen lassen, jedenfalls fiel die Lichtschere hinunter.
»Es war wahrhaftig nicht anders möglich.«
»Ich soll mit dem Fremden in einem Zimmer schlafen?«
»Nur für die eine Nacht, bester Herr Commerzienrath; es ist Sie ein ganz anständiger Herr und ein guter Freund von mir.«
»Aber zum Teufel, Herr, warum nehmen Sie ihn da nicht in Ihr Zimmer?« fragte der Commerzienrath in nicht unrichtiger Folgerung.
»Bester Herr Commerzienrath, ich habe eine Frau und vier Würmer darin«, entschuldigte sich der Wirth, ihm dabei wie besänftigend an der Schulter herunterstreichend, »Alles was recht ist –«
»Frau und vier Kinder in einem Zimmer«, sagte der Commerzienrath kopfschüttelnd, »doch was geht das mich an? Ich habe von Ihnen das Zimmer heute Nachmittag für mich allein gemiethet und bin willens Ihnen dasselbe Geld dafür zu zahlen, das Sie von Beiden fordern können; schaffen Sie mir nur den fremden Menschen da hinaus; ich kann nicht zu Zweien in Einem Zimmer schlafen, es widerstreitet meiner Natur.«
»Sind Sie verheirathet?« fragte der Wirth.
»Nein – wie so?«
»Nun, ich meinte nur – aber ich kann doch den Herrn da nicht wieder hinauswerfen, verehrter Herr Commerzienrath«, klagte der Wirth, »und in der ganzen Stadt ist kein Platz mehr zu haben. Ich weiß Sie sind in Ihrem vollen Rechte, Sie können das Zimmer für sich allein verlangen, und wenn Sie es durchaus wollen, muß der andere Herr hinaus, aber Sie glauben gar nicht was Sie mir für eine Freundschaft erweisen, wenn Sie ihn darin behielten. In ein anderes Zimmer kann ich ihn schon gar nicht mehr stecken, denn in keinem liegen unter Vier und Fünf, in manchem noch mehr, das war das einzige leere Bett, und so ein lieber Mensch.« – Und nun erging sich der beredte Wirth in einer Masse von Bitten und Beschwörungen und Schilderungen des liebenswürdigen Schlafkameraden, den er bekommen hatte, daß der gutmüthige Commerzienrath, der überhaupt kaum einem Menschen in der Welt eine Bitte abschlagen konnte, endlich einwilligte und seufzend mit dem Licht wieder umdrehte nach Nummer 7 zu.
Dort angekommen, klopfte er höflich an die Thür, und auf das mürrische »Herein« seines aufgedrungenen Stubengenossen trat er mit einem schüchternen »Guten Abend – Sie entschuldigen« in sein eigenes Zimmer.
Zu seiner wirklichen Entschuldigung muß ich dem Leser nochmals bemerken, daß er ein deutscher Commerzienrath war.
»Guten Abend«, sagte der im Besitz sich Befindliche, den Kopf zurückbiegend und mit der flachen, nach auswärts gedrehten Hand seine Augen vor dem Lichte schützend, den Eintretenden besser erkennen zu können; »wollen Sie auch hier schlafen?«
»Ich hatte allerdings die Absicht«, erwiderte der Commerzienrath, doch etwas über die Frage frappirt; »ich wohne seit heute Mittag in diesem Zimmer.«
»Ah ja, ich weiß«, sagte der Fremde, »ich sah die Sachen hier stehen, als ich hereinkam. Der Wirth wollte es möglich zu machen suchen, Ihnen ein anderes Schlafzimmer anzuweisen.«
»Mir?« rief der Commerzienrath, in der That etwas betroffen über die kaltblütige Ruhe des Mannes, der sich doch eigentlich hätte – er fühlte das unbestimmt – bei ihm entschuldigen müssen. Der Fremde brach aber diese Gedanken kurz ab und sagte freundlicher als er bisher gesprochen. – »Nun wir müssen sehen, wie wir uns einrichten, Herr Schlafkamerad; der geduldigen Schafe gehen viele in einen Stall. Außerdem ist es ja nur für eine Nacht, wir werden uns schon vertragen und es ist mir immer lieber, als daß mich der Wirth mit zu einem der Frommen hineingesteckt hätte. Bitte, nehmen Sie Platz.«
Der Fremde rückte sich dann das Licht etwas bequemer zurecht, stützte den Kopf in die linke Hand und vertiefte sich aufs neue in die vor ihm liegenden Briefe oder Papiere, von denen er von da ab kein Auge mehr verwandte.
Es war ein noch junger, und wie es schien schlanker Mann, von etwa 24–26 Jahren, anständig und modern gekleidet, aber mit auffallend langem dunklen Haupthaar, zwei vorn in die Höhe gedrehten Jupiter-Ammon-Locken und spitzem, aber ebenfalls vollem langen Bart, jedenfalls ein Fremder, und zwar seinem Dialekt nach ein Oesterreicher. An dem linken Zeigefinger trug er einen großen Siegelring mit einem rothen geschnittenen Stein, auch einen vielleicht echten Brillant im schwarzen Halstuch (der Commerzienrath war kein Kenner von Steinen) und den Rock mit einer Reihe Knöpfen bis oben an die Tuchnadel zugeknöpft.
Der Commerzienrath Mahlhuber saß auf dem Sopha, sein dunkelbrennendes Talglicht mit einer großen Schnuppe daran vor sich, und starrte in tiefen Gedanken auf den Lesenden, der seiner gar nicht weiter achtete. Das vor ihm brennende Licht warf dabei einen röthlichen zitternden Schein auf ihn, der den Umrissen des Körpers ordentlich Bewegung gab und wie ein leises Zucken aussah, und die tiefen Seufzer, die er zu gleicher Zeit nur mühsam zu unterdrücken schien, bis er sie nicht mehr bewältigen konnte, wurden dem kleinen gutmüthigen Manne zuletzt selber unheimlich.
Der Fremde war gewiß recht unglücklich – hatte vielleicht einen schmerzlichen Brief aus der Heimat erhalten und saß nun brütend darüber. – Aber, lieber Gott, er konnte ihm nicht helfen, er hatte seine Hände schon in mehr fremden Affairen als ihm lieb war, und der arme Teufel mochte sehen, wie er selber mit seinem Antheil Leiden fertig würde. Jeder Mensch hat überhaupt sein Pack zu tragen, der eine schwerer, der andere leichter – er schleppte die Leber- und Balggeschwulst, wenigstens die Folgen davon – sein vis-à-vis wand sich wahrscheinlich unter anderm Kummer.
Ueber dem Denken wurde er müde, bezwang sich aber doch noch und würde eigentlich am liebsten abgewartet haben, daß der Fremde zuerst zu Bett gegangen wäre. Da fing dieser auf einmal an zu gähnen und der Commerzienrath sah kaum die Bewegung, als auch bei ihm die Kinnladen an zu arbeiten fingen und er sich gar nicht wieder zufriedengeben konnte.
»Sie werden schläfrig«, sagte der Fremde,
»Ich? Bitte um Verzeihung, es zog mir nur so –«, wieder unterbrach das Gähnen jede vielleicht beabsichtigte Bemerkung, »es zog mir nur so durch die Kinnbacken. Das kommt aber von einer Erkältung, die ich mir neulich zugezogen; auf Leber und Kinnbacken wirft sich bei mir Alles, ich leide an der Leber.«
»So?« sagte der Fremde, ohne weitere Notiz von ihm zu nehmen.
»Ja«, sagte der Commerzienrath seufzend, »meine Leber ist drei Zoll zu groß – sie paßt mir nicht mehr und trägt sich auch nicht ab – sie wird immer größer, bis sie mir einmal das Herz abdrückt.«
Der Fremde stieß einen tiefen kläglichen Seufzer aus, erwiderte aber nichts, bis Herr Mahlhuber, der sich doch späterer Reiseerinnerungen wegen davon in Kenntniß zu setzen wünschte, mit wem er eigentlich eine Nacht in ein und demselben Zimmer geschlafen, sehr höflich sagte:
»Apropos, verehrter Herr, mit wem habe ich denn eigentlich das Vergnügen so naher Nachbarschaft?«
»Doctor Wickendorf aus Wien«, sagte der Fremde, ohne von seinen Papieren aufzusehen.
»Aus Wien – ih sehen Sie einmal an!« rief der Commerzienrath, von einem neuen Gedanken ergriffen; »ich habe in der That schon einmal daran gedacht nach Wien zu reisen, um – hm, das träfe sich ja wirklich ganz ausgezeichnet und könnte als ein gütiger Wink der Vorsehung gelten, die uns hier so glücklich zusammengeführt. Darf ich mir eine Frage an Sie erlauben?«
»Was wünschen Sie?« fragte der Fremde langsam über das Licht hinwegsehend, erstaunte aber nicht wenig, als sein Schlafkamerad, der vom Sopha aufgestanden war, mit niedergebeugtem Kopfe, als wenn er ihn hätte widderartig vom Stuhle stoßen wollen, auf ihn zukam.
»Bitte, fühlen Sie einmal hierher«, sagte der Commerzienrath, als er dem Fremden so nahegekommen war, daß dieser schon von seinem Stuhle aufspringen wollte, indem er ihm den niedergedrehten Kopf hinhielt und mit seinem rechten Zeigefinger in die Nähe seines Scheitels deutete. »Thun Sie mir die Liebe und fühlen Sie einmal hierher.«
»Aber was wollen Sie nur?«
»Hierher, wenn ich bitten darf – noch ein wenig mehr rechts – so, das ist der Platz, fühlen Sie da nichts?«
»Nein.«
»Gar nichts, keine Erhöhung?«
»Nein, eher ein Loch –«, sagte Doctor Wickendorf. »Sie haben sich wol im Heraufkommen an die Treppe gestoßen?«
Der Commerzienrath stöhnte tief auf.
»An die Treppe gestoßen?« wiederholte er seufzend, »gäbe Gott, es wäre weiter nichts als das, aber ich wollte schon lange einmal einen der berühmten wiener Aerzte consultiren, und das Schicksal scheint mir jetzt günstig zu sein. Meine Leber ist nämlich drei Zoll zu groß«, fuhr der Commerzienrath, als ihn der junge Mann unterbrechen wollte, rasch fort. »Ich leide an einer speckigen Entartung der Leber, die ich an Rippen, Zwerchfell und Magen anstoßen fühle. Das Schlimmste aber dabei, was mir mein Hausarzt nicht zugestehen will, ist eine damit in Verbindung getretene, früher operirte Balggeschwulst.«
»Herr, thun Sie mir den Gefallen und seien Sie still«, rief Doctor Wickendorf, indem er ein Gesicht schnitt, als ob er Aloe verschluckt hätte – »ich kann so etwas nicht hören, es wird mir immer gleich übel.«
»Uebel?« rief der Commerzienrath – »ein Arzt und übelwerden – fühlen Sie nur hier – die Balggeschwulst war etwa von der Größe eines Taubeneis, leicht beweglich unter den Fingern, und –«
»Aber was geht das mich an!« rief der junge Mann im Ekel abgewandt, »ich bin ja doch kein Arzt, daß Sie mich mit solchen höchst fatalen Dingen quälen.«
»Kein Arzt?« rief der Commerzienrath wirklich überrascht, »sagten Sie mir denn nicht selber, daß Sie ein Doctor wären?«
»Ich bin Doctor der Philosophie, aber kein Arzt«, brummte der junge Mann ärgerlich vor sich hin.
»O da bitte ich tausend mal um Entschuldigung«, sagte der kleine Mann sehr erschreckt und glitt, während der misverstandene Doctor über seinen Scripturen weiterbrütete, in seine Sophaecke zurück.
Es wurde ihm aber unheimlich, auch vielleicht langweilig, dem stillen düstern Gesellen gegenüber so dazusitzen und nicht einmal von seiner Leber reden zu dürfen. »Doctor – kein Mensch sollte eigentlich die Erlaubniß bekommen, sich Doctor nennen zu dürfen, wenn er nicht wirklich Arzt ist, denn das muß ja zuletzt eine sträfliche Confusion geben. Und der Mensch hatte gar kein Gefühl für Anderer Leiden«, setzte er in seinen Gedanken, dabei ernstlich mit dem Kopfe schüttelnd, hinzu, »ekelt sich, wenn ihm ein Mitmensch Das erzählt, was ihn drückt – und ist noch grob dazu. Ich werde zu Bette gehen.« Und mit einem tief aus der Brust heraufgeholten Seufzer beschloß er diesen guten Vorsatz auch augenblicklich auszuführen.
Das Bett war gut – das Deckbett ein wenig schwer und warm, das ließ sich nicht ändern; warum lag er in fremden Betten herum, da er zu Hause ein besseres hatte. Wenn er nur jetzt wenigstens einschlafen konnte, die Versäumnisse und Schrecken der letzten Nacht in etwas nachzuholen. Großer Gott, was hatte er nicht Alles in den letzten 48 Stunden erlebt? – und wo befand er sich jetzt? – Er löschte das Licht aus, daß er den unbehaglichen fremden Platz nur gar nicht länger zu sehen brauchte, und wollte sich dann mit einem höflichen »Gute Nacht!« für seinen Stubengefährten auf die rechte Seite drehen; aber das andere Licht brannte noch, und mit einem brennenden Lichte im Zimmer war er nun einmal nicht im Stande einzuschlafen. Es ging nicht, er mochte noch so müde sein; wollte denn der Mensch die ganze Nacht durch lesen?
Der Commerzienrath warf sich eine ganze Stunde lang im Bette herum, an Einschlafen war nicht zu denken, und sein Stöhnen machte endlich den Fremden ebenfalls aufmerksam.
»Sie können nicht schlafen?« sagte dieser, den Kopf halb nach ihm herumdrehend.
»Mein Herr Doctor – wenigstens nicht solange ein Licht im Zimmer brennt«, erwiderte der Commerzienrath, fest entschlossen, seinen neuen Quäler wenigstens wissen zu lassen, was ihn beunruhige. Doctor Wickendorf hatte die Anspielung gar nicht gehört oder nicht verstanden, denn er las ruhig weiter, und nur das erneute Stöhnen des Schlaflosen weckte ihn endlich wieder aus seinem Brüten.
»Mein lieber Herr«, sagte er, mit einem tiefen Seufzer von seinen Schriften aufsehend, indem er sich ganz nach dem Bette des Andern umdrehte, »apropos, Sie haben mir noch nicht einmal ihren Namen genannt.«
»Mahlhuber!« stöhnte der Commerzienrath.
»Ah – mein lieber Mahlhuber, wie es scheint können Sie doch nicht einschlafen –«
»Wenigstens nicht solange das Licht brennt.«
»Da wären Sie vielleicht nicht abgeneigt«, fuhr der Doctor, ohne auf den Einwand zu hören, fort, »mir Ihre Hülfe in einer sehr schwierigen Sache angedeihen zu lassen.«
»Meine Hülfe?« sagte der Commerzienrath, sich erschreckt in seinem Bette emporrichtend, »mein lieber Herr Doctor, ich kann mir selber nicht helfen, und denke gar nicht daran mich in die Affairen anderer Leute weiter hineinzumischen, als ich schon, vollkommen gegen meinen Willen, hineingerathen bin. Wenn Sie mir nur erlauben wollten, daß ich –«
»Ich verlange nichts von Ihnen als Ihren Rath«, sagte der Doctor, ohne auf die Einsprache weiter Rücksicht zu nehmen. »Sie sollen nicht die geringste Verantwortlichkeit dabei übernehmen, Ihr Name wird nicht einmal genannt. Nur, wie schon gesagt, Ihren Rath wünschte ich, denn ich habe es schon oft gefunden, daß das Urtheil eines vollkommen unbefangenen ruhigen Mannes manchmal mit Leichtigkeit und spielend das Rechte trifft, während wir armen Sterblichen uns umsonst abmühen, ein glückliches befriedigendes Resultat auf irgendeine künstliche Weise herbeizuführen. Es betrifft Leben und Tod eines Menschen, der die scheußlichsten, nichtswürdigsten Verbrechen –«
»Leben und Tod?« rief der Commerzienrath erschreckt. –
»Bitte, unterbrechen Sie mich nicht«, sagte der Doctor, die Hand dabei gegen die entfernte leere Zimmerecke ausstreckend und mit hohlem, aber begeistertem Tone fortfahrend, »der die scheußlichsten, nichtswürdigsten Verbrechen unter dem Mantel christlicher oder vielmehr geheuchelter Frömmigkeit begangen, sich in Familien eingeschlichen und die Töchter verführt, sich in Geschäfte gedrängt und die Firmen ruinirt, sich an Reiche gehängt und sie ausgesogen hat, bis sie in Verzweiflung einem raschen Tode in die Arme sprangen, oder in Elend und Siechthum ihrem Grabe entgegenwelkten. Der letztvorkommende Fall ist der furchtbarste, und ich weiß noch nicht, was die Folgen sein werden. Nach unsern moralischen Gesetzen kann ein solcher Verbrecher nicht frei ausgehen, und doch ist er nicht zu fassen, doch hat er sich bisjetzt schlau Allem zu entziehen gewußt, was den Gerichten auch nur den geringsten Halt an ihm bieten konnte –«
»Das muß ja ein ausgefeimter Schurke sein«, rief der Commerzienrath, halb in dem Wunsch sich mit dieser Bemerkung wieder unter seine Decke zurückziehen zu können und die Unterhaltung damit für heute abgebrochen zu haben, halb aber auch in gerechter staatsbürgerlicher Entrüstung über ein solches Scheusal, das unter dem Deckmantel der Religion Jammer und Elend in der Welt säete, und nun noch dazu von der weltlichen Gerechtigkeit, trotz erwiesener Schuld, nicht erfaßt und zermalmt werden konnte.
»Darf ich Ihnen diese Aufzeichnungen vielleicht einmal vorlesen?« sagte der Doctor jetzt wieder, einen freundlichen Blick auf den Commerzienrath werfend, »wenn Sie die Triebfedern von des Verbrechers Charakter erst einmal hieraus kennenlernen, werden Sie eher im Stande sein ein Urtheil zu fällen. Ich fürchte, der liebe Gott selber wird einen Blitz oder eine furchtbare Seuche oder etwas Derartiges über den Menschen schicken müssen, ihn zu bestrafen, denn auf andere Art sehe ich nicht wie ihm beizukommen ist – das letzte Verbrechen müßte denn klar bewiesen werden und gegen ihn zeugen.«
»Aber ich sollte doch denken die Polizei müsse da im Stande sein ihn zu überführen?« rief der Commerzienrath, »wofür ist sie denn da?«
»Sie werfen da eine schwierige Frage auf«, lächelte der Doctor, »aber Sie werden mir selber Recht geben, wenn Sie einmal die Einzelheiten gehört haben.«
»Wie viel Uhr haben wir denn eigentlich?« sagte der Commerzienrath, vergebens bemüht, in seiner dunkeln Ecke das Zifferblatt der einen Uhr zu erkennen.
»O es ist kaum 10 Uhr, wir haben noch Zeit genug zum Schlafen. Ich bitte Sie aber jetzt den einzelnen Punkten aufmerksam zu folgen, Sie werden über ein solches Gewebe von Bosheit erstaunen.«
Der Commerzienrath wollte noch eine Einwendung machen; es war 10 Uhr und die Zeit für ihn zur Ruhe, die, wenn er sie überschritt, sich am andern Tage unrettbar an ihm strafte; aber er schämte sich auch einer so furchtbaren Nothwendigkeit gegenüber, wo es sich um die Bestrafung oder Entdeckung eines wirklich gefährlichen Menschen handelte, gleichgültig zu scheinen, fühlte noch einmal nach Leber und Kopf, seufzte tief und schmerzlich auf und sagte dann endlich resignirt:
»Nun gut, Herr Doctor, wenn sich die Sache wirklich so verhält, so fangen Sie in Gottes Namen an – es wird doch nicht so sehr lange dauern?«
»Kaum eine halbe Stunde«, lautete die wenigstens in dieser Hinsicht tröstliche Antwort, und der Doctor putzte sein Licht, räusperte sich, trank einen Schluck Bier aus dem neben ihm stehenden Glase, stützte den Kopf wieder in die linke Hand und begann: