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Drittes Kapitel.

An einem der nächsten Tage fuhr Jens Larsen nach Sonderburg. Als er von der Chaussee aus rechts und links die Düppeler Schanzen liegen sah, nickte er befriedigt vor sich hin. Daran würden sich die Preußen die Zähne schon zerbeißen, wenn sie wirklich herkämen, was ja aber so gut wie ausgeschlossen war.

Es war wieder ein bitterkalter Tag, und Jens zog den Kragen seines Pelzmantels höher über die Ohren. Er hatte schon die Düppelmühle hinter sich, und der Alsensund und Sonderburg lagen vor ihm. Es war ein stilles, friedliches Bild: die kleine Hafenstadt da drüben mit ihren roten Häusern und dem großen, alten Schloß, das so trotzig am Eingang des Alsensundes lag. Aber als sein Wagen über die Brücke rollte und er dann in die Straße am Hafen einbog, merkte er doch ein regeres Leben als sonst. Es war viel Militär in Sonderburg, und die Bürger schienen geschäftig und aufgeregt.

Der Hauptzweck seiner Fahrt war eine geschäftliche Besprechung, die er bald erledigt hatte. Er hatte sein Fuhrwerk in einem Gasthaus untergestellt und ging nun weiter in die Stadt hinein. Seine einzige Schwester war hier an einen Kaufmann verheiratet, und er wollte sie besuchen. Als er in den Laden trat, brannte dort schon eine Hängelampe, und seine beiden Nichten saßen hinter dem Ladentisch und nähten eifrig an einer Handarbeit. Mit einem kleinen, mühsam unterdrückten Freudenschrei sprangen sie auf, als sie ihn erkannten, und begrüßten ihn lebhaft. Es waren hübsche, kleine, blonde Mädchen in Gesines Alter.

»Mutter schläft,« sagte Luise, während sie Jens den Pelz abnahm.

Er rieb sich die verklammten Hände. »Dann stört sie nicht,« sagte er, »ich habe Zeit und bleibe noch ein bißchen.«

Anna schloß nun leise die Tür nach dem hinter dem Laden gelegenen Wohnzimmer, damit die Mutter von dem Sprechen nicht aufwachte, und dann sprachen sie zuerst von Gesines Verlobung. Jens hatte sich auf einen bequemen Stuhl neben den warmen Ofen gesetzt, und die Mädchen nahmen ihre Handarbeiten wieder vom Ladentisch und rückten unter die Lampe.

Die Nachricht von der Verlobung war ihnen nicht unerwartet gekommen, und es war eigentlich nicht viel darüber zu sagen.

»Na, wie geht's Geschäft?« fragte Jens nun.

»Ganz gut,« antwortete Luise, »wie immer. Aber wenn nun der Krieg kommt, dann weiß man ja nicht, wie es wird.«

Jens beruhigte sie. »Hierher kommen sie nicht, mien Döchting, da hab' du keine Angst. Erst laß sie mal das Danewerk nehmen, und dann haben sie die Düppeler Schanzen noch lange nicht. Da könnt ihr noch viele Meter Kleiderzeug und Bänder und Schürzen verkaufen.«

Die Mädchen blickten nachdenklich auf ihre Arbeit und stichelten weiter. »Das sagen die Dänen ja auch immer,« meinte Luise endlich, »aber man kann es doch nicht wissen. Und wenn es wirklich so kommt, dann ist uns ja gar nicht geholfen, dann hört das dänische Regiment nicht auf, sondern es wird eher noch schlimmer.«

Jens knurrte und erhob sich plötzlich. »Nimm dich in acht und rede nicht so dummes Zeug,« sagte er in sehr energischem, verweisendem Ton.

Luise stieg eine Röte des Unmuts ins Gesicht, und sie hob den Kopf. Sie war immer ein unerschrockenes, tapferes Mädchen gewesen und hatte auch den Mut gehabt, dem Onkel, der doch eine so gewichtige Rolle in der Familie spielte, mit ihrer Meinung entgegenzutreten. Aber ehe sie noch zu Worte kommen konnte, trat ihre Mutter ein.

Frau Karstensen war eine kleine, runde Frau mit einem gutmütigen, freundlichen Gesicht, das nur wenig Ähnlichkeit mit Jens Larsens strengen, energischen Zügen hatte. Jetzt war es vom Mittagsschlaf sanft gerötet, und die Augen blickten noch etwas verstört, verschlafen. Aber sobald Frau Karstensen Jens erblickte, war sie auf einmal ganz munter. Sie stieß einen Freudenschrei aus und eilte auf ihn zu. »O Jens, wie fein, daß du da bist. Bist du all lang hier?« fragte sie, wartete aber die Antwort gar nicht ab, sondern rief ihren Töchtern zu: »Anning, Wiesche, macht Kaffee. Ich bleib' so lang mit Onkel hier.«

Die beiden Mädchen waren nach der letzten Wendung, die das Gespräch genommen hatte, ganz froh, den Laden verlassen zu können. Jens holte nun aus den großen Taschen seines Pelzes allerlei hervor, was er der Schwester mitgebracht hatte. Er kam nie mit leeren Händen, denn wenn Karstensens Geschäft auch recht gut ging und seine Schwester unverfallen aussah, so hatte er doch immer im Grunde die Vorstellung, daß es eine rechte Hungerwirtschaft bei ihnen wäre. Heute waren es ein Paar große Dauerwürste, die mit großem Jubel von Frau Karstensen in Empfang genommen wurden.

Als dann die üblichen Fragen nach der Familie und dem Wetter erledigt waren, sagte sie plötzlich mit etwas gedämpfter Stimme: »Weißt du, wer neulich hier war? Der Speckhöker Hansen von Nübel.«

»Hm,« machte Jens, ohne eine Miene zu verziehen.

»Er kaufte ein Tuch für seine Frau, aber man eins von den ganz billigen, baumwollenen, die zu nichts sind. Sie wärmen nicht und hübsch aussehen tun sie auch nicht.«

Jens guckte in den Glaskasten, worin allerlei bunte Bänder und Schürzen lagen, und antwortete nicht. Frau Karstensen beobachtete ihn amüsiert von der Seite.

»Das ist auch man ein Pütjerkram mit dem,« meinte sie nun. »Na, große Ansprüche konnte die schöne Inge ja nicht machen, die war es ja von Hause her nicht anders gewohnt. Aber sie hat sich ihr Leben wohl doch anders gedacht – früher, weißt du – als du –« »Ja,« sagte Jens plötzlich und richtete sich auf. »Laß man. Das ist ja alles schon so lange her. Ich habe sie neulich auf der Chaussee gesprochen. Sie hat es gut bei Peter Hansen, sagt sie, und wünscht es sich nicht anders.«

Frau Karstensen kreuzte die Arme unter ihrem stattlichen Busen und lächelte. »Na ja – sagt sie. Wer's glauben will, kann ja.«

Jens runzelte die Stirn. »Du kennst sie nicht,« sagte er kurz und abweisend.

»So genau wie du allerdings nicht,« meinte sie lachend und zwinkerte mit den Augen, »aber das weiß ich doch, daß eine Frau so etwas nicht vergißt. Selbst eine Inge Hansen nicht, – und die vielleicht am wenigsten.«

Er stand auf, ging mit großen Schritten durch den Laden bis an die Tür und sah durch die Scheiben auf die dunkle Straße. Ihm war heiß geworden bei allerlei Vorstellungen und Erinnerungen, die ihn bestürmten. »Das ist ja nun doch alles einerlei, wie es nun einmal gekommen ist,« meinte er endlich mit gepreßter Stimme.

Frau Karstensen nickte: »Natürlich, anders konnt' es ja gar nicht kommen. Das wird sie ja damals selbst nicht geglaubt haben, daß Jens Larsen vom Larsenhof sie heiraten würde.« Sie lachte auf, wie über einen ganz unglaublichen Gedanken. »So dumm ist sie doch auch nicht.«

Das wußte Jens Larsen nun besser. Er wußte, daß die schöne Inge Söderssen nicht nur felsenfest an seine Liebe, sondern auch an seine Treue und seine ehrlichen Absichten geglaubt hatte, aber er antwortete nur ein undeutliches »hm« und guckte weiter auf die Straße. Nach einer Weile drehte er sich wieder um. Ein unbezwingliches Selbstbewußtsein lag nun in seiner Haltung, als er sagte: »Wenn man etwas auf sich hält, kann man nicht immer alles, was man möchte.«

Frau Karstensen nickte zustimmend mit dem Kopf, aber ehe sie etwas antworten konnte, riefen die Mädchen zum Kaffee. Sie hatten im Wohnzimmer einen netten Tisch gedeckt. Es war auch da sehr warm, fast überheizt, aber Jens, der von seiner Fahrt sehr durchfroren war, empfand es nur angenehm. Er war immer gern bei Karstensens, trotzdem dort alles viel kleiner und einfacher war als auf dem Larsenhof, aber es herrschte immer eine frohe Gemütlichkeit, die es in seinem Hause eigentlich nicht gab.

Heute war er nun allerdings etwas verstimmt. Das Gespräch mit seiner Schwester hatte allerlei Erinnerungen in ihm geweckt, die ihm nicht behaglich waren, und als er seine Nichten wiedersah, fiel ihm Luises Bemerkung von vorhin wieder ein und verdarb ihm noch mehr die Laune.

Sie tranken nun alle vier ziemlich schweigsam ihren Kaffee und aßen braune Kuchen von Weihnachten dazu.

»Schade, daß Karsten nicht zu Hause ist,« sagte Frau Karstensen einmal.

Als sie eben mit dem Kaffee fertig waren, kam er. Karsten Karstensen stammte aus einer Kaufmannsfamilie: er besaß nicht die selbstsichere Ruhe jener Leute, die, wie Jens Larsen, ihren seit Generationen in der Familie vererbten Landbesitz haben. Er hatte schnelle, gewandte Bewegungen und einen sicheren und raschen Blick. Heute kam er fast hereingeschossen in die Ladentür. Als er die Seinen in der Wohnstube versammelt sah, schwenkte er schon von weitem eine Zeitung und rief mit atemloser Stimme: »Der Krieg ist da! Kinnings, der Krieg ist da! Die Preußen marschieren auf das Danewerk.«

Frau Karstensen setzte sich auf den nächsten Stuhl. »O Gott, o Gott!« sagte sie, und dann noch einmal: »O Gott, o Gott!«

Karstensen nahm sich kaum Zeit, seinen Schwager zu begrüßen. Er faltete die Zeitung auseinander und las nun in erregtem Ton die neuesten Nachrichten vor.

Wrangel hatte an den dänischen General de Meza die Aufforderung ergehen lassen, Schleswig zu räumen, worauf von diesem die Antwort erfolgt war, er hätte von seiner Regierung ganz entgegengesetzte Weisungen und stünde bereit, die Preußen zu empfangen. Nun hatten die Preußen die schleswigsche Grenze überschritten und marschierten auf das Danewerk.

Es herrschte einen Augenblick Stille in dem kleinen Zimmer, nachdem Karstensen seine Vorlesung beendet hatte.

»Sie werden sich am Danewerk schon ihren Nasenstüber holen,« sagte Jens endlich wegwerfend.

Karstensen stieg eine Röte ins Gesicht, gerade so wie seiner Tochter vorher, aber er hielt an sich und antwortete nicht. Er fühlte sich seinem Schwager nicht gewachsen und war außerdem als Deutschgesinnter zu sehr an solche Ausfälle von den Dänenfreunden gewohnt, um gleich zu antworten. Seine Frau hatte aber weniger Ruhe und Selbstbeherrschung. Sie packte ihren Bruder am Arm und rief: »O, Jens, schäm dich, daß du so was sagen kannst, du solltest dich doch freuen, daß endlich Befreiung für uns kommt. Du siehst doch überall die Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen. Du weißt doch, wie sie Karsten kujoniert haben, wie er immer höhere Abgaben zahlen muß als die andern, bloß weil sie wissen, daß er deutsch denkt und fühlt. Jens, Jens, wenn das nun alles aufhört, wenn die Preußen siegen, wenn wir wieder Deutsche sein können, deutsch sprechen und in der Kirche deutsche Predigten hören – Kinder, denkt doch bloß mal!«

Ihr liefen auf einmal die hellen Tränen über das Gesicht, und sie packte Wiesche, die ihr am nächsten stand, mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte sie. Die beiden Mädchen hatten frohe, glänzende Augen bekommen, und Karstensen nickte ihnen zu.

Jens stand mit verbissenem Gesicht daneben. »So weit sind wir noch lange nicht,« sagte er höhnisch. »Aber wenn ihr weiter solche Reden führt, werdet ihr der gerechten Strafe nicht entgehen. Ich sage euch, kein Preuße kommt über das Danewerk hinweg, dafür haben wir unsere ruhmreiche dänische Armee. Aber euch wäre es ganz recht, wenn sie kämen, dann solltet ihr mal kennen lernen, was Barbareien sind!«

Auf die Freude der Familie Karstensen war ein starker Reif gefallen. Die Mädchen sahen erschrocken aus; in Frau Karstensen aber schäumte der Zorn über.

»Du, Jens, ich will nicht, daß in meinem Hause so gesprochen wird, hörst du!« rief sie mit blitzenden Augen. »Du verrätst mit jedem Wort dein Vaterland, denn du bist ein Deutscher so gut wie ich. Sieh dir doch die alten Balken auf dem Larsenhof an. Da steht in deutscher Schrift, wer den Hof erbaut hat, und in die Familienbibel haben unsere Vorfahren, ihre deutschen Namen eingetragen, und da war nicht ein Däne darunter.«

»Das geht mich gar nichts an,« rief Jens, »wir gehören jetzt zu Dänemark, und die Preußen haben hier nichts zu suchen. Und wenn dir das, was ich sage, nicht paßt, kann ich ja gehen.«

Er stampfte mit steifen Knien in den Laden und nahm seinen Pelz vom Nagel. Karstensens erhoben keinen Einspruch; sie fühlten es alle als eine Erleichterung, daß er gehen wollte. Es hatte schon öfter mal kleine Reibereien dieser Art zwischen ihnen und Jens gegeben, sie waren indes immer wieder bald beigelegt worden. Jetzt wurde aber die Lage der Dinge sehr ernst, und man empfand diese Meinungsverschiedenheit plötzlich als große Kluft, die nicht mehr zu überbrücken war.

Jens hatte seinen Mantel angezogen und die Mütze aufgestülpt.

»Adjüß,« sagte er, ohne jemand die Hand zu geben.

»Adjüß,« antworteten sie alle, und Wiesche fügte hinzu: »Grüß Gesine.«

Er nickte kurz und verließ den Laden. Als die Tür mit scharfem Klingeln hinter ihm ins Schloß gefallen war, herrschte bei Karstensens einen Augenblick tiefe Stille. Alle sahen unwillkürlich die Mutter an, um zu sehen, was sie zu diesem Abschied sagte. Aber Frau Karstensen hielt sich nicht lange mit Gedanken darüber auf. Sie schüttelte den Kopf wie über etwas, das ihr unbegreiflich war, und dann gewann die Freude wieder die Oberhand.

»Kinnings, Kinnings, Gott bewahr mich,« rief sie und schlug die Hände zusammen, »denkt doch mal bloß! Wenn wir nun wieder richtige Deutsche werden, und all die gräsigen Dänen werden hier rausgeschmissen – was wird das fein!«

Die Töchter nickten und faßten ihre kleine, runde Mama um, und alle drei tanzten vor Freude im Laden herum. Karstensen war bedenklicher.

»Wartet man, bis es so weit ist,« sagte er, »wer weiß, wie es alles kömmt.«

Aber die drei ließen sich ihre Freude nicht nehmen und steckten ihn schließlich mit an. Er las noch einmal die Nachrichten aus der Zeitung vor, und nachher setzten sie sich alle um den Tisch im Wohnzimmer und studierten die Karte von Schleswig-Holstein. –

Als Jens jetzt durch die Straßen ging, war das Leben und Treiben noch stärker geworden. Die Nachmittagspost hatte all diese Nachrichten gebracht, und der Bevölkerung hatte sich eine große Erregung bemächtigt. Die Deutschen zeigten ihre Freude nicht in lautem Jubel auf der Straße, aber ihre Augen glänzten, und ihre Schritte waren wie beflügelt. Und in den Häusern falteten sich die Hände zu heißen Gebeten. Alte Leute, die ihr schönes Vaterland in die Knechtschaft hatten kommen sehen, weinten helle Freudentränen, und die Jungen jauchzten den Errettern entgegen.

Jens traf viel Gleichgesinnte auf der Straße und überwand den Ärger, den er eben im Hause seiner Schwester empfunden hatte, schnell. Sie alle waren mit ihm der gleichen Meinung: daß die Preußen über das Danewerk nicht hinauskommen würden. Er ging noch ins Wirtshaus und trank auf das Wohl der ruhmreichen dänischen Armee. Als er endlich nach Hause kam, war es schon recht spät, aber seine Frau und Gesine waren noch aufgeblieben, um ihn zu erwarten. Er war ganz erfüllt von seinen Nachrichten, rief sie dem Knecht zu, der ihm das Fuhrwerk abnahm, und sprach noch lange zu den Frauen von dem, was er gehört und gelesen hatte. Er beschrieb ihnen das Danewerk, den großen Wall mit den uneinnehmbaren Befestigungen und Schanzen bei Schleswig. Nie würden die Preußen und Österreicher sie nehmen können, nie darüber hinwegkommen. Die Frauen hörten mit großen, müden Augen zu, und Frau Larsen gähnte ein paarmal verstohlen. Als Gesine später über die Diele ging, um ihre Schlafkammer aufzusuchen, fiel der Schein ihres Lichtes auf den großen Querbalken mit der Inschrift: »Erbaut 1789 von Peter Jens Larsen. Gott mit uns allewege«. Da blieb sie einen Augenblick stehen und dachte: wie merkwürdig es doch wäre, daß sie sich nun zu den Dänen rechneten, wahrend ihre Vorfahren Deutsche gewesen waren.


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