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Zwölftes Kapitel.

Auf allen Anhöhen standen Menschen und erlebten das alles mit. Sie beteten und zitterten und jubelten auf, als sie die ersten preußischen Fahnen von den Schanzen wehen sahen. Gesine war unter denen, die am weitesten vorgedrungen waren. Sie hielt ein Fernglas in der Hand – wußte aber selbst nicht, wo sie es her hatte. Unverwandt sah sie nach Schanze 6 hinüber, die von den Elisabethern gestürmt wurde, alles andere kümmerte sie nicht. Sie dachte nicht an Sieg oder Niederlage, sie sah nicht die Fahnen von den Schanzen wehen, sie dachte nur an einen und betete für einen und suchte ihn im Schlachtgewühl und fand ihn nicht. Die Sinne wollten ihr schwinden, aber sie raffte sich wieder auf und stürzte weiter vor; dann fiel sie auf die Knie und dachte, wenn es noch lange so fort ginge, müßte sie den Verstand verlieren.

Die Krankenträger mit den ersten Verwundeten kamen. Sie hörte sie ächzen und stöhnen. Und da kam plötzlich eine furchtbare Ruhe über sie, die starre Ruhe eines Menschen, der vor der Entscheidung steht. Sie ging von Bahre zu Bahre und sah in die schmerzentstellten Gesichter, ohne das gesuchte zu finden. Immer mehr kamen, und es war furchtbares, was sie sehen mußte. Das große, menschliche Elend schrie zu ihr und ließ sie das eigene Leid vergessen. Sie lief und half und packte mit an, wo sie konnte, als hätten ihre Kräfte sich verdoppelt. Sterbende griffen nach ihren Händen, und sie blieb bei ihnen, betete mit ihnen und harrte aus, bis sie ihren letzten Atemzug getan hatten. Verwundeten sprach sie Trost zu.

Dann sah sie auf einer Bahre einen liegen, der die Uniform des Elisabethregiments trug. Sie ging hin und sah in ein blasses Gesicht mit geschlossenen Augen, auf einen Rock, der an der Brust von Blut durchtränkt war. Einen Augenblick wankten ihr jetzt die Knie, und es wurde ihr schwarz vor den Augen, aber sie raffte sich gleich wieder auf. Jetzt war sie ja eigentlich erst am richtigen Platz. Sie legte ihr Ohr an seinen Mund und fühlte seine matten Atemzüge. Da küßte sie das blasse, mit Staub und Schmutz bedeckte Gesicht, als könnte sie ihr junges, frisches Leben dadurch auf ihn übertragen. Krankenträger kamen und brachten ihn auf einen Wagen, der die Verwundeten nach Nübel ins Johanniterhospital bringen sollte. Sie lief nebenher und wartete stundenlang dort vor der Tür. Ihre Kräfte verließen sie erst, als sie hörte, daß Fritz Mahlkes Wunde nicht lebensgefährlich wäre.

Inge war nicht in aller Frühe hinausgelaufen wie die andern. Sie hatte ihr Haus besorgt und Frau Larsen beim Anziehen geholfen. Die Kranke wußte nichts vom Sturm.

»Was schießen sie heute doll,« sagte sie, aber es beunruhigte sie nicht. Sie saß still in der Küche, da, wo Inge sie hingeführt hatte, während Inge nebenan die Kammer in Ordnung brachte.

»Nun muß Jens bald wieder kommen,« sagte Frau Larsen plötzlich nach längerem Stillschweigen.

Inge hielt mit einem Ruck in ihrer Arbeit inne. »Warum?« fragte sie. Sie hatte gar keinen Ton in der Stimme.

»Er ist doch schon so lange weg.«

»Ja.« Inge arbeitete nicht gleich weiter, sondern setzte sich auf den Bettrand und preßte die Hände ineinander. Sie hatte ein so furchtbares Schuldgefühl der Kranken gegenüber, und sie dachte wieder, es wäre besser gewesen, sie hätte Jens nicht fortgeschickt. Nun hatte seine Frau ihn so lange entbehren müssen, gerade jetzt, wo sie krank und hilfsbedürftig war. Und was hatte ihr selbst die Trennung genützt? War sie stark und fest geworden?

»Wenn Jens kommt, wollen wir wieder nach Hause,« sagte Frau Larsen, »Der Krieg ist ja nun bald zu Ende. Mal müssen wir doch wieder hin. Ich freu' mich eigentlich nicht darauf. Denken Sie, ich freu' mich darauf?«

»Ja,« sagte Inge, »Sie entbehren hier doch so viel, und Ihr Mann ist schon so lange fort.«

Frau Larsen schüttelte den Kopf. »Dann fängt all die Sorge wieder an mit den Leuten und der großen Wirtschaft, und Jens wird böse, wenn ich klage. Ich hab' es oft nicht leicht mit ihm, das können Sie mir glauben. Wenn ich das alles so vorher gewußt hätte, hätt' ich doch lieber Michel Thorreson genommen, der drüben auf Alsen den großen Hof hat, wissen Sie? Thorregaard bei Ulkebüll. Der wollt' mich damals auch, aber ich dachte, der Larsenhof wäre doch schöner, und sie hatten da auch nicht solche große Milchwirtschaft wie auf Thorregaard, und das macht immer so viel Arbeit für die Frau. Jens sagt, Michel wär' ein Tranpeter und dumm wie Bohnenstroh, aber er ist viel bequemer zu nehmen, und seine Frau hat's viel leichter. Ja, wenn man das alles so vorher wüßte, nicht?«

Inge saß immer noch auf der Bettkante. Sie hatte ein würgendes Gefühl in der Kehle und konnte keinen Ton herausbringen. Frau Larsen erwartete wohl auch keine Antwort. Sie schien froh zu sein, sich einmal aussprechen zu können.

»Er ist so heftig und jähzornig,« fuhr sie fort, »und immerzu ist er im Streit mit irgend jemand. Ich geb' ihm dann schon immer recht, damit er sich beruhigt, aber jetzt ist es mir langweilig geworden, ich mag nichts mehr davon hören, und nun sagt er mir's auch nicht mehr. Das geht mich ja doch nichts an, das mag er allein abmachen.«

Inge hatte die Hände gegen die Schläfen gepreßt. Sie hätte aufschreien mögen, die Frau packen und schütteln und zur Besinnung bringen. Ach, alles, alles, was früher ihr höchstes Glück gewesen war, das verstand diese nicht, das ließ sie achtlos aus den Händen gleiten. Ihm helfen, ihn leiten und dann lieben, grenzenlos lieben und sich von ihm lieben lassen – ihn verstehen in seinen großen Eigenschaften und in seinen Schwächen! Und diese Frau war blind neben ihm hergegangen! Ihr wurde heiß und schwindlig, sie hielt es nicht länger aus. Das Schießen draußen wurde immer stärker. Die Uhr ging auf zehn. Sie stand auf und ging in die Küche.

»Wollen Sie hier sitzen bleiben?« »Wo gehen Sie hin?«

Sie konnte ihr nicht sagen, daß sie nur vor sich selber die Flucht ergriff. »Ich komm' wohl bald wieder. Die Tür zur Kammer steht auf, und Ihr Bett ist zurecht gemacht, wenn Sie sich wieder hinlegen wollen. Der Stuhl steht am Fenster.«

Frau Larsen sagte noch irgend etwas, aber Inge achtete nicht darauf. Ihre Kraft war erschöpft. Sie ging durch die Hoftür hinaus auf das Feld. An den Sturm dachte sie nicht, dorthin, wo all die andern Menschen waren, wollte sie nicht. Am liebsten wäre sie immer so weitergegangen, ohne Weg und Steg über Wiesen und Felder und Äcker, bis sie nicht mehr konnte, um dann liegen zu bleiben am Wege, wo niemand sie kannte. Endlich blieb sie heiß, atemlos, erschöpft stehen. Zu ihren Füßen lag ein niedergebranntes Gehöft, und sie erkannte, daß es der Larsenhof war. Sie setzte sich auf einen Stein, stützte den Kopf in beide Hände und sah hinunter auf die kahlen, schwarzen Mauern, die so düster gen Himmel starrten. Von den Schanzen her erscholl das furchtbare Schießen und Geschrei und Musik, alles in wirrem Durcheinander. Inge Hansen hatte gejubelt, als sie hörte, daß es Krieg geben würde und die Preußen kommen wollten, um Schleswig-Holstein von der Tyrannei der Dänen zu befreien; aber in dieser Stunde, als die Entscheidung fiel, dachte sie gar nicht daran. Ihr eigenes Geschick nahm sie ganz in Anspruch. Sie sah hinunter auf die Stätte, die Jens Larsens Heim gewesen war, das sie nicht hatte mit ihm teilen dürfen, und dachte an seine Frau. So wenig hatte sie ihn verstanden, so wenig war sie ihm gewesen!

Der Schmerz, der jetzt in Inge Hansen schrie, galt nicht in erster Linie ihrem verlorenen Liebesglück. Sie stand schon da im Leben, wo der Mensch zurückschaut und sein Leben als Ganzes betrachtet, und sie erkannte nun, daß sie um eine große, wundervolle Lebensaufgabe gekommen war. Es gab einen Menschen, den sie liebte und verstand, dem sie immer die Hand hätte geben können, um ihm über sich selbst hinaus zu helfen. Sie wäre die einzige gewesen, die es gekonnt hätte – aber sie hatte es nicht gedurft. Wie hätte sie all ihre Kräfte entfalten können bei diesem Leben! Peter brauchte sie nicht so nötig; der stand selbst so fest in seiner ruhigen Güte. Aber dieser, der immer im Kampf lag mit seiner Natur – –

»Inge!« sagte jemand hinter ihr.

Sie sah sich nicht um; sie zitterte nur bis ins innerste Mark. Jens war wieder da!

Er beugte sich über sie. »Was machst du – hier?«

Da stand sie auf und sah ihn an. »Ich denke an dich und mich – und wie alles gekommen ist.«

»So ist es gekommen,« sagte er und zeigte auf die Brandstätte, »alles liegt in Schutt und Trümmern, alles. Nur eins besteht noch – das ist unsere Liebe Inge rührte sich nicht, sie senkte nur tief den Kopf und wußte selbst nicht, war es vor dem Übermaß des Glückes oder des Leides. Für Jens aber lag in dieser Bewegung das große Zugeständnis ihrer Schwäche.

»Komm,« sagte er und griff nach ihrer Hand, »hilf mir! Ich war nicht hier, seitdem mein Hof abgebrannt wurde.«

Sie wäre vielleicht nicht mitgegangen, wenn er nicht gesagt hätte: »Hilf mir!« Aber das war ein Zauberwort. Wenn jemand Inges Hand nahm und bat: »Hilf mir,« dann hatte er sie gewonnen. Und nun erst Jens Larsen!

Sie gingen hinunter auf den Larsenhof. Die Mauern standen größtenteils noch, aber innen war alles ausgebrannt. Schutt und Geröll und verkohlte Balken versperrten ihnen oft den Weg. Jens ging mit blassem Gesicht umher. Er sprach nicht. Endlich setzte er sich müde auf einen Balken. Er hatte Inges Hand losgelassen und beide Fäuste auf die Knie gestemmt.

»Das ist mein Larsenhof, Inge,« sagte er, »weißt du, mein Larsenhof, auf den ich so stolz war, dem ich dich geopfert habe, weißt du? Verstehst du? So sieht er jetzt aus, so! Das ist davon übrig geblieben!« Er stieß ein paarmal mit dem Fuß in den Schutt. »Da sieh!« In ohnmächtiger Verzweiflung biß er die Zähne zusammen, daß es knirschte. »Da!«

»Ja, Jens,« sagte sie und legte ihm leicht eine Hand auf die Schulter. »Aber nimm es nicht so schwer. Ein Haus kann man wieder aufbauen.«

Er nickte langsam mit dem Kopf. »Was liegt im Grunde auch daran. Aber ein verpfuschtes Leben ist nicht wieder gut zu machen.«

»Nein,« sagte sie. »Darum nützt es auch nichts, darüber zu klagen, Jens. Du mußt nicht hier sitzen und in den Schutt starren. Komm mit zu deiner Frau. Du hast noch Pflichten.«

Er lachte grimmig auf. »Zu meiner Frau, damit sie mir was vorklöhnt! Jetzt werde ich sehen, was ich an ihr habe! Sie hat ja immer was zu klagen, aber wenn sie dies erst sieht – du, Inge, wenn sie den Larsenhof sehen wird, wie er jetzt ist –« er lachte noch wilder – »meinst du, daß sie ein Wort zu mir sagen wird, ein Wort des Mitleids über das, was ich verloren habe? Glaubst du, sie wird einen Augenblick daran denken, was mir das bedeutet? Jammern wird sie, daß sie die unglücklichste Frau unter der Sonne ist, Vorwürfe wird sie mir machen, als hätte ich ihr das Dach über dem Kopfe angesteckt. Und was ist ihr im Grunde der Larsenhof! Nichts als eine Last. Sie hatte keine Liebe dafür und kein Auge für all das Schöne. In der ersten Zeit, da dachte ich ja noch, es könnte noch werden, weißt du, wir könnten uns noch miteinander einleben, so ähnlich – ach Gott – bloß ein klein bißchen so, wie es mit uns beiden gewesen war. Weißt du, Inge?«

Er sah sie fragend an, und sie nickte stumm.

Da fuhr er mit weicher, leiser Stimme fort: »Was der eine lieb hatte, das hatte auch der andere lieb, und was der eine fühlte, das fühlte auch der andere. Aber so ist es nie mit mir und ihr geworden. Ich hatte den besten Willen, ich hab' mir alle Mühe gegeben, aber wenn die rechte Liebe fehlt – wenn man sich überhaupt erst Mühe geben muß – und wenn der andere gar kein Verständnis hat für das, was man will. – Manchmal habe ich sie abends gebeten, mit auf die Hohe Koppel zu kommen. Da hinauf, siehst du? Dann lag der Hof zu unsern Füßen, das Haus, alles was unser war, und wir konnten über das Land sehen, so weit, so weit, bis zur See. Das waren meine schönsten Stunden, Inge. Da war ich ein anderer Mensch, da war ich gut. Wenn sie mich da ein bißchen verstanden hätte! – Sie kam ja mit und stand neben mir und sah doch all das Schöne nicht. Sie langweilte sich. ›Es ist gräßlich hier oben, hier zieht es immer,‹ sagte sie nur. Da habe ich nicht mehr gesagt, daß sie mitkommen sollte. Sie störte mich ja nur. Nicht wahr, Inge, du hättest das nicht gesagt?«

»Nein,« sagte sie leise, und sie sahen sich in die Augen und wurden beide etwas weich. »Du hättest mich aber auch so fest in den Arm genommen, Jens, daß ich nicht frieren konnte,« fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Hast du das bei deiner Frau auch getan?«

»Nein –« sagte er zögernd und nachdenklich, »nein, so war das nicht mit uns.«

»Siehst du, daher kommt das alles. Hättest du sie lieb gehabt, dann hätte sie sich nicht über den Zug beklagt. Du mußt nicht ihr allein die Schuld geben.«

Er stand auf und ging hin und her, von einer der kahlen, schwarzen Mauern zur andern. »Nein, nein, ich will ihr ja auch keine Schuld geben. Schuld! Es ist ja einerlei, wer schuld hat. Was ist überhaupt Schuld! Jeder macht mal was Verkehrtes, und bei dem läuft's gut ab und schadet's nicht, und bei dem andern ist der Teufel im Spiel, und das ganze Leben ist verpfuscht, um eine Dummheit – um eine Dummheit!«

Beide Arme warf er gegen die geschwärzte Mauer und legte den Kopf darauf. So blieb er lange stehen.

»Du bist schuld, Inge,« sagte er endlich.

»Ich?«

»Du hättest nicht so still fortgehen dürfen, als ich es dir sagte. Du kanntest mich ja doch besser als alle andern, besser als ich selbst. Du mußtest wissen, daß ich in mein Unglück ging. Inge, warum hast du mich da nicht festgehalten!« Er stand vor ihr und packte sie an beiden Armen.

»Ich war zu stolz dazu,« sagte sie leise mit zuckenden Lippen, als ob sie ihm das Bekenntnis eines großen Unrechts ablegte.

Er hielt sie noch immer an den Armen. Jetzt zog er sie an sich, nicht stürmisch, aber mit großer Willenskraft, in der etwas so Zwingendes lag, daß Inges Widerstand davon gebrochen wurde. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, und er sprach auf sie ein, leise, abgebrochen, beschwörend: »Komm mit, Inge, laß uns alles vergessen. Hier ist der Sturm, hier ist alles durcheinander – viele Menschen sterben heute da drüben. Wir können ja auch gestorben sein. Viele Menschen werden in diesen Tagen weinen, weil ihnen etwas Liebes genommen ist. Laß Peter auch weinen. Warum soll er es besser haben als die andern? Er ist alt. Er hat dich lange genug gehabt. Wenn ich damals nicht solch ein Tor gewesen wäre, hätte er dich nie bekommen. Jetzt fordere ich dich zurück. Er muß dankbar sein für die lange Zeit, die er dich gehabt hat.«

Inge zitterte und war ganz schwach. Es kam eine große Versuchung über sie. Sie litt es, daß er ihr Gesicht zu sich emporhob und mit verzehrenden Küssen bedeckte. Ihr war, als wäre sie losgelöst von allem, was ihr Leben bis jetzt ausgemacht hatte.

»Wir fangen ganz von vorn an, wir beide,« fuhr Jens fort, »es wird alles wieder, wie es damals war. Inge – Inge – sag ein Wort! Komm, laß uns gehen. Jetzt gleich!«

Sie stand noch und rührte sich nicht. Alle Fasern ihres Herzens zogen sie zu ihm, und doch wurzelten ihre Füße fest am Boden. Sie dachte an die Frau, die da unten in Nübel saß und ihn nicht verstand und sich nicht freute, wenn er wiederkam, und die doch ein Recht an ihn hatte.

»Denk' an deine Frau,« sagte sie endlich leise.

Er machte ein finsteres Gesicht. »Meine Frau braucht mich nicht.«

Da fuhr sie zusammen. Es war, als hätte dies Wort ihr einen Schleier von den Augen genommen.

»Doch, Jens,« rief sie, »doch, sie braucht dich, auf Schritt und Tritt –!«

Er sah sie erstaunt an. Da packte sie ihn am Arm und schrie: »Sie ist ja blind!«

»Blind?«

»Ja, sie kann nicht sehen und hat Schmerz in den Augen. Wir haben ihr gesagt, wenn du wiederkämst, würdest du sie nach Hamburg oder Flensburg zum Augenarzt bringen, und dann würde es bald ganz gut sein. Darauf wartet sie, darauf hofft sie. Aber ich glaube nicht, daß es gut wird. Sie bleibt blind, und dann braucht sie einen Menschen, der sie führt –«

Sie sprach atemlos, eindringlich, sie wollte ja nicht nur ihn mit ihren Worten überzeugen, sondern auch sich selbst. Jens sah sie immer noch ungläubig und fassungslos an.

»Blind!« stammelte er, »blind!«

Es schien, als würde ihm erst langsam klar, was das hieß. Er wurde ganz blaß und griff sich an den Kopf. Seine beiden Hände krampften sich fest in sein Haar. Und Inge sah seine abgrundtiefe Verzweiflung und fühlte, daß sie jetzt an seiner Seite stehen und ihm helfen müßte. Sie griff nach seinen Händen, daß der Krampf sich löste, strich ihm über das Haar und sagte: »Du hast einen Menschen, der dich braucht, Jens. Bedenke, einen Menschen, der dich auf Schritt und Tritt braucht. Das ist etwas Großes.«

Er wurde nicht ruhig. Sie sah seine starken Schultern beben unter der großen Erregung, die ihn schüttelte; und plötzlich stürzte er in die Knie, griff mit den Händen in ihr Kleid und preßte den Kopf in die Falten. Sie strich ihm mit zitternden Händen über das Haar, sprechen konnte sie nicht. Was sollte sie auch sagen? Sie wußten ja beide, welchen Weg sie jetzt gehen mußten.

In Jens bäumte sich noch einmal die Verzweiflung auf. Er sprang auf und schrie: »Ich bin zurückgekommen, weil ich gedacht hab', sie wär' tot, – und dann wollt' ich dich mit mir nehmen, Inge, irgendwohin, weit fort! Geraubt hält' ich dich, wenn du nicht mit mir gekommen wärst! Aber du wärst ja mit mir gegangen, Inge –«

Er stand vor ihr und sah sie an und las die Antwort in ihren Augen. Da riß er sie noch einmal in seine Arme und küßte sie mit der ganzen Glut seiner Leidenschaft und seiner verzweifelten Liebe, als wollte er ihr Leben und ihre Seele von ihren Lippen trinken. Als er sie endlich mit einem stöhnenden Laut freiließ, setzte sie sich auf einen Balken, weil ihre zitternden Füße sie nicht mehr tragen wollten, und er warf sich vor ihr nieder und legte den Kopf in ihren Schoß. Da neigte sie sich zu ihm, schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn fester an sich. So saßen sie lange zwischen den Mauern des niedergebrannten Larsenhofes und fühlten beide, daß dies vielleicht in ihrem Leben der größte Augenblick war: da sie sich selbst überwanden.

Nachher sagte Inge mit leiser Stimme noch vieles, was ihn ruhiger machte und ihm Kraft gab, und dann gingen sie zusammen nach Nübel zurück.

Am Johanniterhospital neben der Kirche waren eben die ersten Verwundeten angekommen, und es gab nicht Hände genug, sie in das Haus zu tragen; weithin hörte man ihr Schreien und Wimmern. Wagen und Reiter zogen durch das Dorf. Die Bewohner waren noch fast alle draußen. Jens und Inge kamen über das Feld und gingen durch das Hoftor. Es war derselbe Weg, den Gesine am Abend vorher mit Fritz Mahlke gegangen war. Von dem Treiben im Dorfe merkten sie nichts. Inge ging voran ins Haus. Die Küche war leer, und auch in der Kammer nebenan war Frau Larsen nicht. Nun überfiel sie eine Angst. Wo war sie geblieben? Sie hatte sie allein gelassen, und wenn ihr etwas zugestoßen war, trug sie die Schuld. Sie suchten das ganze Haus ab, ohne sie zu finden, und sahen sich mit angsterfüllten Augen an.

»Vielleicht ist sie auf die Straße gegangen,« sagte Jens endlich.

Inge lief hinaus. Menschen kamen und riefen schon von weitem: »Die Schanzen sind gestürmt, die Dänen sind nach Alsen zurückgeschlagen. Schleswig-Holstein ist frei!«

Inge hörte kaum darauf, sondern fragte, ob sie Frau Larsen nicht gesehen hätten. Nein, sie hatten auch nicht darauf geachtet. Hunderte von Toten und Verwundeten lagen da draußen auf dem Schlachtfeld, da sah man nicht nach einer blinden Frau. Sie stürmten weiter, trunken vor Freude, und riefen die Siegesnachricht in die Häuser.

Ein Depeschenreiter jagte vorbei; Munitions- und Proviantwagen rasselten vorüber. Dann kam von Düppel her ein langer Zug gefangener Dänen, von preußischen Husaren eskortiert. Sie sperrten die Straße, so daß Jens und Inge zur Seite treten mußten, um sie vorbeizulassen. Da vergaßen sie einen Augenblick ihre Angst und Sorge. Es war etwas so Erschütterndes, was sie sahen. Gefangene Dänen! Blasse Menschen, die müde dahinzogen, nicht einmal verzweifelt oder unglücklich, nur müde, ermattet, stumpf. Ein Husarenpferd scheute und sprang zur Seite, ein paar andere wurden unruhig. Inge kam die Angst wieder. Wenn Frau Larsen nun allein unterwegs war, wenn sie im Durcheinander unter Pferdehufe geriet!

Sie lief nun doch die Straße hinauf, an den Häusern entlang; manchmal mußte sie sich an die Wand drücken, um die Truppe vorbeizulassen. Jens folgte ihr; er fühlte, was sie dachte, und teilte ihre Unruhe. Endlich war der Zug der Soldaten vorüber und die Straße wieder frei. Da blieben sie beide auf einmal stehen. Peter kam ihnen entgegen, und an seiner Seite ging, von ihm sorgsam geführt und gestützt, Frau Larsen.

»Peter und deine Frau, sagte Inge leise.

Jens atmete schwer.

Nun sah Peter das Paar, er sagte es Frau Larsen, und sein altes freundliches Gesicht hellte sich auf. Sie hob den Kopf mit den verbundenen Augen und machte schnellere Schritte.

»Geh ihr entgegen,« bat Inge. Da er nicht folgte, sondern neben ihr stehen blieb, so daß sie jeden seiner Atemzüge wie ein qualvolles Stöhnen hörte, bat sie noch einmal: »Geh ihr entgegen, Jens.«

Da tat er es, aber sie sah, daß er Schritte machte, wie einer, der seine Füße nicht in der Gewalt hat. Sie wußte aus ihrem eigenen Gefühl heraus, was dieser Gang von ihr zu seiner Frau zurück ihn kostete, und sie stand noch immer auf demselben Fleck, und ihre Seele schrie zu Gott um Hilfe und Kraft für sich und für ihn.

Jens hatte seine Frau erreicht. Sie streckte die Hände nach ihm aus, und er nahm sie. Als Inge zu ihnen kam, sprach Frau Larsen schon eifrig auf ihn ein.

»Ich hab' auf dich gewartet, Jens, schon lange. Ich kann nicht sehen, das Fieber ist in meinen Augen geblieben, und du mußt mit mir zum Augenarzt, daß der es raustreibt. So kann ich ja gar nichts tun, immer muß ich warten, daß jemand kommt und mich führt und mir hilft«

Jens nickte, aber dann dachte er daran, daß sie das ja nicht sehen konnte, und so sagte er: »Ja,« mit einer gepreßten, gequälten Stimme, die man kaum hörte.

»Heute war ich so lange allein, und draußen war so viel Lärm,« fuhr sie fort, »da bin ich zuletzt rausgegangen und hab' mich an den Häusern entlang getastet. Es kamen so viel Wagen und Menschen, und sie riefen alle durcheinander und es wurde soviel geschossen –«

»Die Schanzen sind gestürmt!« fiel Jens ein. Er sagte es, wie man von einem großen, erschütternden Ereignis spricht.

»Ja,« sagte Frau Larsen gleichgültig nickend, »da bin ich zuletzt über einen Stein gefallen, und mein Kleid hatte sich irgendwo festgehakt, so daß ich nicht wieder allein aufkommen konnte. Endlich kam Peter Hansen und half mir.« Wo Jens in der langen Zeit seiner Abwesenheit gewesen war und wie es ihm ging, danach fragte sie nicht.

Als sie Inge hörte, sagte sie in vorwurfsvollem Ton: »Sie haben mich so lange allein gelassen, daher ist es gekommen. Wo waren Sie denn?«

Inge senkte den Kopf und schwieg, denn sie wußte nicht, was sie antworten sollte. Jens aber sagte: »Du mußt Inge Hansen danken, denn sie hat mich zu dir zurückgebracht.«

Er sagte es sehr ernst, aber was für eine tiefe Bedeutung in dem Worte lag, erfuhr Frau Larsen nie. Sie gingen nun weiter. Jens Larsen führte seine Frau, und Inge und Peter Hansen folgten.

Es war ein stiller Weg, und der einzige, der froh aussah, war Peter. Er dachte an den Sturm, und ohne daß er es selbst merkte, brummte er wieder das Schleswig-Holsteinlied vor sich hin.


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