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Vierzehntes Kapitel.

Larsens waren in Hamburg. In Flensburg hatten sie kein Unterkommen gefunden, als sie es nach der langen, unendlich beschwerlichen Fahrt auf der von Truppen und Wagen vollständig überfüllten Chaussee endlich erreicht hatten. Jedes Winkelchen in der Stadt war besetzt, denn es strömten nun auch schon unzählige Fremde nach dem Sundewitt, die den Schauplatz der Ruhmestat der preußischen Armee mit eigenen Augen sehen wollten. So waren sie denn weiter gefahren, um in Hamburg Hilfe für die Blinde zu suchen.

Aber es gab keine. Der Arzt sagte es Jens, nachdem er eine eingehende Untersuchung vorgenommen hatte. Die Erblindung war eine Folge der Krankheit, die Frau Larsen durchgemacht hatte, und die der Arzt mit einem lateinischen Namen benannte, den Jens nicht behalten konnte.

Frau Larsen war während der Besprechung im Wartezimmer geblieben. Als Jens zu ihr zurückkam, wollte sie natürlich wissen, was der Arzt gesagt hatte.

»Mit der Zeit, Anne –« sagte er mit schwerem Atem. Er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen, eine Hoffnung sollte sie noch behalten.

Sie gingen dann fort, um nach Hause zu fahren. Er mußte sie führen wie ein Kind.

»Wie lange wird es dauern?« fragte sie auf der Treppe.

»Das konnte der Arzt nicht so genau sagen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Die Ärzte verstehen nichts. Hanne Knudsen weiß alles viel besser.«

Sie wohnten in einem kleinen Gasthof. Als sie ankamen, sah Gesine den Vater angstvoll fragend an. Sie wußte, daß heute die Entscheidung fallen würde. Er schüttelte bekümmert den Kopf. Da schlich sie sich leise hinaus.

Sie hatte ja immer gefürchtet, daß der Mutter nicht zu helfen wäre, aber nun es zur Gewißheit geworden war, überkam es sie doch. Sie lief die Treppe hinunter. Sie mußte allein sein, weinen, mit dem Gedanken ringen, um mit ihm fertig zu werden. Es war etwas so Furchtbares – die Mutter blind für alle Zeiten. Sie konnte nie mehr all das Schöne sehen, was die Welt bot, die Sonne, den Himmel, die See, die Menschen, die sie lieb hatte! Sie würde nie wissen, wie Fritz Mahlke aussah, der kommen wollte und sie Mutter nennen. Ihr junges Herz bäumte sich dagegen auf. Das war nicht zu ertragen, so etwas durfte es nicht geben!

Den ganzen Nachmittag saßen sie trübselig beisammen in ihrem ungemütlichen Gastzimmer. Es war ein grauer Regentag. Die seinen Tropfen schlugen gegen die Fenster und rieselten in kleinen Bächen an den Scheiben hinunter. In Jens Hirn bohrte eine Frage, unaufhörlich, quälend: »Was soll nun werden?« Und er konnte sie nicht einmal aussprechen, sie nicht mit den andern erwägen, denn noch wußte seine Frau nicht, daß der Larsenhof nicht mehr stand. Er fürchtete sich nur davor, daß sie selbst fragen würde. Sie tat es aber nicht. Nach dem Essen setzte sie sich in die Sofaecke und ließ sich von Gesine etwas vorlesen.

Gegen Abend hörte der Regen auf, und Jens ging aus. Wie befreit atmete er auf, als er in die frische Luft kam. Er lief durch die Straßen bis an den Hafen. Alles glänzte vor Nässe, die Quadersteine des Kais, die Pfähle, an denen die Schiffe festgemacht wurden. Diese selbst sahen aus wie abgewaschen. Die Segel waren zum Trocknen hochgezogen. Die Sonne stand rotgolden am Horizont und spiegelte sich in jeder Pfütze. Ein großer Dampfer ging langsam aus dem Hafen, gerade in das Sonnenlicht hinein.

»Wer mitkönnte!« dachte Jens. »Alles hinter sich zurücklassen!« Er lief weiter, bis die Sonne ganz fort war und die Laternen angezündet wurden.

Am nächsten Tage wollte er mit den beiden Frauen etwas unternehmen, Dampfschiff fahren und draußen essen. Frau Larsen hatte keine Lust. »Ich seh' ja nichts,« sagte sie. Aber er redete ihr zu.

»Komm man mit, Anne, die Luft ist so schön, die tut dir gut, und auf'm Schiff fahren ist auch schön.«

Sie fuhren mit einem Dampfschiff durch den Hafen bis an eine kleine Ortschaft an der Elbe. Kleine Häuser lagen am Wasser, Gärten dazwischen und Restaurants. Es war nun beinah Mittag. Sie gingen in eine Gartenwirtschaft und suchten sich einen geschützten Platz auf der Veranda. Von da konnten sie in den Garten sehen und weiterhin auf die Elbe, die hier schon so breit war wie ein See. Ab und zu kam ein Schiff vorüber, und Segelboote kreuzten. Frau Larsen war auch gern hier. Es war so frische, milde Luft. Sie hörte die Dampfschiffe vorüberfahren und ließ sich von den andern erzählen, was sie sahen. Nach dem Essen war sie müde. Das Lokal war noch wenig besucht. Jens sprach mit dem Wirt, der ihm bereitwillig ein leeres Gastzimmer für seine Frau zur Verfügung stellte, und als sie wohlversorgt auf dem schwarzen Wachstuchsofa lag, während Gesine es sich in dem Korbstuhl am Fenster bequem machte, ging er fort, um sich den Ort anzusehen.

Er gefiel ihm sehr. Die kleinen Häuser lagen so frisch und sauber eins neben dem andern an der Straße mit dem Blick auf das Wasser. In den Vorgärten blühten die eisten Frühlingsblumen, und in den Gemüsegärten hinter den Häusern gruben und säten die Leute. Ja, jetzt mußte man fleißig im Garten sein, um alles zu bestellen. Er war früher oft ärgerlich geworden, wenn Anne die Knechte, die er auf dem Felde brauchte, für den Garten beansprucht hatte. Na, das war jetzt alles vorbei!

Nun stand wieder die Frage vor ihm: »Was soll werden?« In Hamburg hatten sie nichts mehr zu suchen, nachdem der Arzt Anne endgültig aus seiner Behandlung entlassen hatte. Wohin nun? In die alte Gegend zurück, die mit tausend Erinnerungen auf ihn einstürmte? Den Hof wieder aufbauen, von vorn anfangen, allein mit der blinden Frau, wenn Gesine heiratete?

Als er zurückkam, saßen die Frauen ausgeruht auf der Veranda. Eben war wieder ein Schiff aus Hamburg angekommen, und die Plätze im Garten und auf der Veranda begannen sich zu füllen. Es sollte heute das erste Konzert in diesem Jahre stattfinden. Die Musiker fanden sich in dem kleinen Musikpavillon ein. Gesine verfolgte alle Vorgänge mit gespanntem Interesse; es war ja alles neu für sie. Sie sprach lebhaft von dem, was sie sah, erzählte es der Mutter und machte den Vater auf dies und jenes aufmerksam.

Als dann die Musik begann, waren sie still und hörten zu. Das erste war ein Marsch. Frau Larsen wiegte leise im Takt den Kopf hin und her. Ihr Gesicht hellte sich auf. Das war etwas, das sie beschäftigte, das sie noch ganz und ungetrübt genießen konnte. Traurige und heitere Weisen wurden gespielt. Sie hörte mit vorgeneigtem Kopf und halbgeöffneten Lippen zu und war traurig oder heiter, je nachdem die Töne zu ihr sprachen. Gesine hatte ihr eine Tasse Kaffee zurecht gemacht und redete ihr zu, zu trinken, aber sie wehrte ungeduldig ab. Erst in der Pause ließ sie sich bewegen, etwas zu genießen. Sie hatte so wenig Musik in ihrem Leben gehört, und nie hatte sie sie so ungestört von Äußerlichkeiten genossen wie jetzt. Als wenn ein großes, neues Leben sich vor ihr auftäte, so war ihr zumute. Sie hatte ja gar nicht gewußt, daß es so etwas gab. Man konnte still dasitzen in Frieden und Ruhe und hatte keine Sorgen, daß in der großen Wirtschaft etwas nicht in Ordnung war; man brauchte nur dem zu lauschen, was in Tönen zu einem sprach. Und die Gedanken kamen und führten sie zurück zu den kleinen und großen Ereignissen ihres Lebens, die ihr ans Herz gegriffen hatten.

Als das Konzert zu Ende war und man aufbrechen mußte, um das Schiff nach Hamburg zu erreichen, ging sie wie im Traum mit, von Jens geführt.

»War das schön! Ach, war das schön!« sagte sie immer wieder.

Jens und Gesine waren auch den Nachmittag über still gewesen. Jedes mit dem beschäftigt, was ihm am meisten am Herzen lag. Gesines Gedanken wanderten nach Nübel, nach dem Lazarett neben der Kirche, dahin, Wo Fritz Mahlke krank lag. Inge hatte ihr geschrieben, daß es ihm gut ginge, und von ihm hatte sie ein paar Bleistiftzeilen, die ihr sagten, daß er kommen würde, sowie er reisefähig wäre.

Jens dachte daran, wie doch jetzt so vieles anders geworden war. Gesine würde fortgehen und eine preußische Soldatenfrau werden. Thies war bei der Belagerung der Schanzen verwundet worden und lag in Augustenburg im Lazarett. Er wußte nun schon, daß er jede Hoffnung auf Gesine aufgeben mußte, und hatte geschrieben, es wäre wohl auch gut so, da sie ihn ja doch nicht liebte. Wenn er wieder gesund wäre und der Krieg beendet, wollte er sich in Jütland einen kleinen Hof kaufen, und es würde da ja wohl auch hübsche Mädchen geben. Auch von Karstensens war jetzt endlich Nachricht gekommen. Sie hatten schwere Zeiten durchgemacht: ihr Haus war bei der Beschießung von Sonderburg in Brand geraten. Das Dach war vollständig zerstört. Sie hatten so viel wie möglich gerettet und waren in das Innere der Insel geflohen. In einem Dorfe hatten sie im Pastorenhause Unterkunft gefunden und warteten nun das Ende der Feindseligkeiten ab, um nach Sonderburg zurückzukehren.

»Wir haben viel verloren,« schrieb Frau Karstensen. »Unser niedliches, kleines Haus, wie sieht es aus! Aber ich sag' immer: Karsten, da kommen wir schon über weg. Verhungern tun wir wohl noch nicht. Wir sind ja alle gesund und können arbeiten, und wir werden nun freie Schleswig-Holsteiner. Dafür geb' ich das gerne hin. Ja, Jens, oll lütt Jung, du magst dich noch so gräsig anstellen mit deinen Dänen und so tun, als ob du alle Preußen fressen wolltest, ich bleib' dabei, und alle vernünftigen Leute denken hier ebenso. Wir haben gelacht und geweint vor Freude, als wir hörten, die Preußen hätten die Schanzen genommen.«

Während Jens alles dies durch den Sinn ging, wurde langsam ein Gedanke in ihm wach, der ihm wie eine Rettung erschien. Wenn er in dem kleinen Ort an der Elbe ein Häuschen mit Garten mietete oder kaufte und in Ruhe und Frieden dort mit Anne zu leben versuchte? Es mußte ja doch ein neues Leben jetzt für ihn werden in neuer Umgebung; die Äcker und Felder des Larsenhofes konnte er ja verpachten und vielleicht bei günstiger Gelegenheit einmal verkaufen. Seine Zeit würde wohl ausgefüllt werden mit der Sorge für die blinde Frau, die ihn auf Schritt und Tritt brauchte, mit den vielen kleinen Pflichten, die jetzt neu an ihn herantraten, und dem Bestellen des Gartens. Anne würde eine kleine Wirtschaft haben, in der sie sich mit der Zeit wohl zurechtfinden konnte, im Sommer konnte sie jeden Tag Musik hören – alles war so günstig wie möglich. Seltsamerweise kam ihm gar nicht der Gedanke, nach Dänemark zu ziehen. Er war im Grunde seines Herzens doch deutsch geblieben.

Als Anne abends wieder von der schönen Musik sprach, sagte er: »Wollen wir immer da wohnen, Anne? Dann kannst du oft Musik hören.«

Sie wandte ihm das Gesicht zu. Er sah ein ungläubiges Erstaunen sich auf ihren Zügen malen.

»Immer? Wir müssen doch wieder nach dem Larsenhof.«

Das klang nicht so, als ob große Sehnsucht sie dorthin zöge. Einen Augenblick war es ganz still in dem kleinen Zimmer. Gesine hielt unwillkürlich den Atem an. Würde ihr Vater nun sagen, daß der Hof abgebrannt war?

»Möchtest du wieder hin?« fragte Jens endlich.

Anne tat einen tiefen Atemzug. »Ich fürchte mich davor,« kam es endlich gepreßt über ihre Lippen. »Der Hof hat mich immer bedrückt. Da ist so viel zu bedenken. Wenn man auch den ganzen Tag gearbeitet hat, ist doch immer noch was in Unordnung. Und wenn ich nun noch krank bin und nicht ordentlich sehen kann, dann weiß ich nicht, wie es werden soll.« Das klang ganz mutlos.

»Dann bleiben wir hier, Anne. Wir kaufen oder mieten ein kleines Haus mit Garten an der Elbe, da haben wir nur eine kleine Wirtschaft, ich besorge den Garten, und du kannst Musik hören, so oft du willst.«

Anne Larsen strich sich mit den mageren, blassen Händen das Haar vom Scheitel aus glatt. Es lag etwas Hilfloses in ihrem Gesichtsausdruck. Sie konnte es noch nicht recht fassen.

»Ich weiß nicht, Jens – das geht doch nicht – der Hof –« sagte sie zaghaft.

»Ja, es geht,« sagte er kurz, stand auf und trat ans Fenster. »Wenn du es möchtest –«

Sie streckte die zitternden Hände nach ihm aus. »Ach, Jens, wie wär' es schön!«

Er bemerkte ihre Bewegung nicht, weil er noch immer starr aus dem Fenster sah. Es war doch nicht so leicht zu verarbeiten, diese neue Wendung seines Lebens und die Erkenntnis, daß sein Hof seinem Weibe so gar nichts gewesen war, nur eine Quelle von Sorge und Ärger.

»Vater steht am Fenster,« sagte Gesine mit halblauter Stimme, als sie sah, wie die Mutter ins Leere griff. Dann nahm sie ihre Hand und führte sie dorthin.

Anne tastete mit den Händen an Jens' Arm hinauf bis zu seinem Halse und umschlang ihn. »Jens,« sagte sie leise, »ich danke dir.«

Er strich ihr über das Haar. »Laß man, Anne, laß man. Das ist alles nicht so – so schwer. Ich mag auch gern Ruhe haben, ich werd' nun wohl alt; was sollen wir denn so allein auf dem großen Hof, wenn Gesine nun auch noch weg geht –«

»Mutter darf nie mehr weinen,« hatte Gesine ihm oft gesagt, das war ihnen wie ein Evangelium geworden, an das sie sich halten mußten. Und obgleich sie ja vorhin gar kein Hehl daraus gemacht hatte, daß ihr der Larsenhof nur eine Last gewesen war, meinte er doch, sie müßte bitterlich weinen, wenn sie erfuhr, daß er nicht mehr stand.

Jens fuhr schon am nächsten Tage hinaus und am folgenden wieder, diesmal mit Gesine, und nach kurzer Zeit war er Besitzer eines kleinen Hauses, wie er sich's geträumt hatte. Er suchte in Hamburg mit Gesine zusammen Möbel aus, und die Einrichtung wurde sofort in Angriff genommen. Frau Larsen fand sich merkwürdig gut in ihre jetzige Rolle. Sie konnte nicht mehr selbst alles mitbestimmen und aussuchen, dafür taten es nun die anderen und erstatteten ihr Bericht, und sie fühlte, wie sie hauptsächlich darauf bedacht waren, daß für sie alles zweckmäßig und bequem wäre. Sie war auf einmal eine Art Hauptperson geworden, und während sie früher immer bei allem, was sie tat, davor gezittert hatte, ob es Jens wohl gerade so recht wäre – meistens war es ihm nicht recht gewesen und er war ärgerlich geworden –, so kam er jetzt mit allem zu ihr und fragte sie nach ihrer Meinung und ihren Wünschen. Er war überhaupt wie umgewandelt, ruhig und freundlich, nie mehr aufbrausend oder jähzornig.

Ende Juni war alles fertig, und sie zogen ein.

In den letzten Tagen vorher war Anne viel allein gewesen, da Jens und Gesine von früh bis spät draußen zu tun gehabt hatten. Nun führten sie die blinde Frau ins Haus. Sie hatten das Gefühl, als wäre jeder Hammerschlag nur für sie getan. An Jens' Hand ging sie durch die Räume. Er erklärte ihr alles, und sie strich mit den Händen über die Möbel und an den Wänden entlang. Am Fenster beschrieb er ihr, wie der Garten sich davor entlang zog, wie die Büsche und Beete angelegt waren, wie vorn der Vorgarten mit seinen Blumen bis an die Straße ging und der Blick auf die Elbe frei war, wie hier große Schiffe vorüberzogen, ganz große, auch solche nach Amerika. Und wieder fühlte sie überall das Bestreben, ihr die Dunkelheit zu erhellen, alles herauszusuchen, was ihr das Leben noch schön machen konnte. Als sie im ganzen Hause herumgekommen waren, führte Jens sie ins Wohnzimmer zurück ans Sofa. Sie setzte sich, streckte tastend die Arme aus und rief: »Wie schön ist es hier! Viel schöner als auf dem Larsenhof!«

Später stand Jens in der Tür seines neuen Hauses und sah in den dämmernden Abend hinein. Die Elbe floß breit und träge vorüber. Ein kleiner Dampfer kam mit roten und grünen Lichtern, die sich im Wasser spiegelten. Nun gingen in schräger Linie breite, große Wellen darüber hin und liefen spielend an der steinernen Böschung hinauf, die das Flußbett eindämmte. Der Dampfer fuhr schnell dem Hafen zu, als hätte er es eilig, nach Hause zu kommen, und vor Jens' Haus wurde das Wasser wieder ruhig. Von weiterher klangen die Töne einer Ziehharmonika durch den stillen Abend. Da wanderten seine Gedanken ins Sundewitt. Und er wußte, daß er noch manchen Abend hier stehen würde und der sehnenden Stimme seines Herzens lauschen, die immer nur den einen Namen rief: »Inge«. Daß er die Augen schließen würde und meinen, er stände auf der Hohen Koppel und der Larsenhof läge zu seinen Füßen in aller seiner stattlichen Behaglichkeit, der Wind, der ihm die Stirne kühlte, käme von der See herauf und hätte den Weg über sein schönes Heimatland genommen. Aber dann würde seine blinde Frau kommen und tastend die Hände nach ihm ausstrecken, und er würde sie nehmen und sie führen und wissen, daß er den rechten Weg gegangen war, indem er sich selbst bezwang und zu ihr zurückkehrte.

... Im Sundewitt stand Inge Hansen an diesem Abend auf einer Anhöhe und sah nach Alsen hinüber. Dort hatte heute der Kampf getobt. In aller Morgenfrühe waren die Preußen in Booten über den Alsensund gefahren und hatten zum Teil schon im Wasser angefangen zu kämpfen. Dann war es ein heißes Ringen auf der Insel gewesen. Man hatte das Schießen bis ins Sundewitt gehört und die hellodernden Flammen von Sonderburg gesehen. Jetzt war es still geworden. Alsen war in den Händen der Preußen, man wußte es im Sundewitt schon. Die Dänen waren nach Augustenburg zurückgeschlagen und schifften sich dort ein. Viele Bewohner vom Sundewitt waren bis an den Sund gegangen, um möglichst nah zu sein und alles beobachten zu können. Peter war auch darunter.

Inge war zurückgeblieben und stand nun allein auf dem Hügel, den zwei majestätische Buchen krönten. Der Abendwind strich leise über das Kornfeld zu ihren Füßen, so daß die goldenen Halme sich vor ihr neigten wie vor einer Königin, und mit weicher Hand fuhr er ihr über das Haar und legte ihr silberne Fäden über das stille, stolze Gesicht. Sie duldete es ohne Abwehr, vielleicht merkte sie es gar nicht. Es gab so viel heut' zu denken, zu danken und zu beten.

Schleswig-Holstein war frei.

Dies lachende, blühende Land, wie es jetzt vor ihr lag, war heute von jahrzehntelanger Knechtschaft erlöst. Als die Schanzen gestürmt wurden, hatte Inge Hansen zu sehr in eigener Not und Bedrängnis gestanden, um die große Tat ganz miterleben und mitempfinden zu können. Heut war sie eine andere.

Das leidenschaftliche Herz war ruhig geworden, sie hatte sich zurückgefunden zu Pflicht und Recht. Sie wußte jetzt, daß es das Rechte war, was sie getan hatte. Etwas, das außer ihr selbst lag, hatte sie dazu bewogen. Aber auch, wenn Frau Larsen nicht blind geworden wäre, hätte sie nicht anders handeln können. Sie war nicht der Mensch, der sich ein Glück aufbauen konnte auf einer Schuld und einer verlassenen Pflicht. Und auch Jens hätte nicht die Kraft gehabt, alles Vergangene über Bord zu werfen und das Leben von vorn anzufangen. Es hätte an ihm genagt wie an ihr, zu der Erkenntnis war sie jetzt gekommen.

Und nun stand sie hier und sah auf das befreite Land und fühlte sich so eins damit, als wäre sie aus dem Boden des Heimatlandes herausgewachsen wie die Buchen, die ihre Zweige über ihr ausbreiteten. Aber all ihre Gedanken gingen hinüber nach Alsen, wo sie ihr Kind wußte.

Ob nun endlich die lange, bange Zeit der Ungewißheit vorüber war und Hannes wiederkam?

Am nächsten Tage ging Peter nach Alsen hinüber, um Hannes zu suchen. Inge blieb zurück. Es konnte ja sein, daß Peter ihn verfehlte, und eines mußte doch zu Hause sein, wenn er allein kommen sollte. Die Haustür stand Tag und Nacht auf, sein Bett in der Vorderstube war zurecht gemacht, und Inge hatte immer einen Topf mit warmem Essen auf dem Herd. Sie selbst saß den ganzen Tag auf der Bank vor ihrem Hause und sah die Straße hinauf.

Es kamen jetzt viele Leute von Alsen nach dem Sundewitt; sie waren alle mürbe und matt von der langen, schweren Kriegszeit und erzählten, wie die Dänen auf der Insel gehaust hatten.

Wenn Inge sie nach ihrem Jungen fragte, sahen sie sie mitleidig an. Ihr Sohn war dabei, bei diesen unglücklichen Schleswigern, die mit ihren Fuhrwerken im Dienste der Dänen standen, die wochenlang im Freien kampiert hatten, Hunger, Kälte und Nässe wehrlos ausgesetzt! Inges Herz wurde immer schwerer.

Am dritten Tage nach Peters Fortgang, spät abends, als sie schon ins Haus gegangen war, kam ein Wagen langsam in müdem Schritt die Straße herauf und hielt vor der Tür. Sie wollte hinauslaufen, wie sie es in diesen Tagen schon hundertmal getan hatte, aber die Füße Versagten ihr plötzlich den Dienst. Sie mußte sich setzen und hörte nun, wie Peter langsam die Steinstufen heraufkam, mit schwerem Schritt, als schleppte er eine Last.

Dann kam er herein. Er trug eine dunkle Gestalt in den Armen. Nun sprang sie auf und stürzte ihm entgegen. Beim matten Schein der Lampe sah sie einen blassen, elenden, verkommenen Menschen, dem die Kleidung in Lumpen vom Leibe hing, starrend von Schmutz. Da kämpfte sich etwas in ihrem Herzen zusammen, und sie wollte aufschreien: »Das ist er nicht! Nein, das ist er nicht!«

Aber nun schlug er die Augen auf, und über das blasse Gesicht flog ein matter Freudenschimmer.

»O, Hannes, lütt Jung!« Sie hatte gar keinen Ton in der Stimme, und doch lag alles, was ihre Seele in diesem Augenblick bis ins Innerste erschütterte, in ihrem Ausruf. Ihre zitternden Hände streckten sich nach ihm aus, und sie fühlte, es hatte alles so kommen müssen, wie es gekommen war, damit sie in diesem Augenblick hier stehen konnte – um ihrem Kinde Mutter zu sein.


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