Johann Wolfgang von Goethe
Naturwissenschaftliche Schriften 1792 - 1797
Johann Wolfgang von Goethe

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[Über Newtons Hypothese der diversen Refrangibilität]

Wie sehr zu jener Zeit, als Scholastiker noch die Lehrstühle besetzten, der Philosoph sich nur eine Welt in sich selbst zu erbauen trachtete, seine Schüler nur in dem Kunststück unterrichtete, mit willkürlichen Ideen auf eine feine und seltsame Art zu spielen, ist jedem bekannt, der in die Geschichte der Philosophie nur einige Blicke getan. Sie erzählt uns, wie lange die Menschen sich mit diesen unfruchtbaren Bemühungen gequält und dennoch immer dabei auch für Naturforscher gelten wollen, wie endlich treffliche Köpfe eingesehen, daß ein Weltweiser, ehe er über die Natur der Dinge zu reden sich vermißt, erst die Gegenstände selbst zu kennen habe, mit denen sie uns so mannigfaltig und übereinstimmend umgibt. Wir erfahren, daß treffliche Männer einiger Jahrhunderte aus den düstern Gewölben hervorzusteigen bemüht gewesen, aber doch nur zu einem Schimmer des Lichtes gelangen können, indem ihr eigner Geist und der Geist ihrer Zeit sie noch zu heftig zurückhielt.

Nun sehen wir endlich Baco von Verulam auftreten. Er zeigt zuerst, daß selbst der gute Wille, die Natur und ihre Kräfte kennenzulernen, nicht hinreiche, sondern daß der Forscher sich zu diesem wichtigen Geschäfte besonders auszubilden habe. Er zeigt uns die Macht gewisser Vorstellungsarten, gewisser Vorurteile, die uns hindern, die Gegenstände, welche die Natur uns darbietet, genau zu kennen und den Zusammenhang, in dem sie untereinander stehen, zu begreifen. Wir erschrecken über die Forderungen, die er an den Beobachter macht, und erstaunen über die Hilfsmittel, die er ihm reicht, über die neuen Organe, mit denen er ihn ausrüstet.

Von diesem Augenblick an scheint Beobachtung über Grillenfängerei zu siegen, an die Stelle des Wortes die Sache zu treten, indem das Wort eine wohlbeobachtete Sache bezeichnet. Hier scheint eine neue Epoche anzugehen, eine neue Bahn sich zu öffnen. Jeder Beobachter scheint gezwungen, auf die Willkür seines eigenen Geistes Verzicht zu tun und sich den bestimmten Sachen zu unterwerfen. 369 Aber leider, es scheint nur! Wenige Männer haben Gewalt genug über sich selbst, einen Teil dieses Weges zurückzulegen, und der fürtreffliche Descartes überlebt den Baco um fünfundzwanzig Jahre und hinterläßt bei einer großen Wahrheitsliebe, bei aller eignen Überzeugung: daß ein Beobachter der reinen und bedächtigen Methode der Mathematiker zu folgen habe, seinen Schülern nur ein Luftgebäude von Träumen und Meinungen, das vor einer fortgesetzten Erfahrung, vor einem freieren Blick der Nachfolger bald verschwinden mußte.

Daß Bacons Bemühungen und die frühern Beispiele der Mathematiker weniger gefruchtet, als man hätte hoffen sollen, gesteht die Geschichte der Philosophie ungern. Doch erfahren wir bei genauer Untersuchung auch hier, was wir so oft im Leben bemerkten, daß Erkennen und Tun, Überzeugung und Handlung durch eine ungeheure Kluft getrennt sein können.

Es mag sein, daß die dunkle Schreibart Bacons, in welcher dieser außerordentliche Mann die geheimnisvollen Wirkungen unsrer Seele oft in geheimnisvollen und seltsamen Worten darlegt, Ursache gewesen sei, daß seine Schriften nicht so viel, wie man hoffen und wünschen mußte, gewirkt haben; aber mehr noch möchte in der Natur der menschlichen Köpfe, und zwar eben in der Natur der Vortrefflichsten, die Ursache zu suchen sein, warum so schwer auf dem Wege der reinen Erfahrung Fortschritte gemacht werden.

Das Genie, das vorzüglich berufen ist, auf jede Weise große Wirkung hervorzubringen, hat seiner Natur nach den Trieb, über die Gegenstände zu gebieten, sie sich zuzueignen, sie seiner Art zu denken und zu sein, zu unterwerfen. Viel schwerer und leider oft nur zu spät entschließt es sich, auch den Gegenständen ihre Würde einzuräumen, und wenn es durch seine produktive Kraft eine kleine Welt aus sich hervorzubringen vermag, so tut es der großen Welt meist unrecht, indem es lieber wenige Erfahrungen in einen Zusammenhang dichtet, der ihm angemessen ist, als daß es bescheiden viele Erfahrungen nebeneinanderstellen sollte, um womöglich ihren natürlichen Zusammenhang endlich zu entdecken. So ungeduldig es sich nun bei der 370 Beobachtung zeigt, so fest finden wir es, auf einer einmal gefaßten Idee zu beharren und so tätig sie auszubilden. Sehr leicht findet es Gründe, die Blößen seines Systems zu decken und zeigt einen neuen Zweig seiner Fähigkeiten, indem es dasjenige hartnäckig verteidigt, was es niemals bei sich hätte begründen sollen. Prägt sich nun gar eine solche Vorstellungsart, eine solche Ideenreihe in die Köpfe leicht eingenommener gleichzeitiger Jünglinge, so geht ein halbes, ja ein ganzes Jahrhundert darüber hin, bis ein Irrtum entdeckt, und wenn er entdeckt ist, bis er endlich wirklich anerkannt und ausgestoßen wird.

Jede Schule scheint von den Grundsätzen der römischen Kirche etwas geerbt zu haben. Wer von dem einmal festgestellten Glaubensbekenntnisse abweicht, wird als Ketzer ohne weiteres verdammt, und wenn ja zuletzt die Wahrheit siegt, so darf man nur in der Geschichte zurücksehen und man findet gewöhnlich, daß sie schon früher bekannt, öffentlich dargestellt, aber leider mit Gewalt oder Kunst wieder auf eine Zeit unterdrückt worden.

Freilich ist die Menge immer auf der Seite der herrschenden Schule; es ist so bequem für das, was man nicht begreift, wenigstens Formeln zu haben, und durch sie geschützt, alle mühsame Erfahrung, alle beschwerliche Übersicht, alle sorgfältige Zusammenstellung für überflüssig zu erklären, und so bleibt dem Beobachter, der, auf dem freien Wege der Natur, die unendlichen Phänomene verfolgt, welche die Schule schon in ihren engen Kreis gebannt zu haben glaubt, nichts übrig, als entweder einsam und in sich verschlossen seinen Weg fortzugehen, oder bei einem öffentlichen Bekenntnis sich auf die heftigen Anfälle einer ganzen Partei vorzubereiten.

Und so ist mir recht wohl bekannt, was mich erwartet, indem ich gegenwärtig auftrete, um zu zeigen, daß ein großer und berühmter Beobachter als Mensch seinen Tribut abtragen müsse, daß selbst das große Genie Newtons sich bei Erfahrungen übereilte und mit Folgerungen zu frühzeitig vorschritt; daß er unsägliche Mühe auf die Behauptung seines einmal festgestellten Irrtums verwendete, daß sein durch diese Bemühungen errichtetes Gebäude die Menschen dergestalt verblendete, daß sie nach dessen Grund zu 371 forschen zum Teil versäumten, zum Teil durch Gewohnheit und Vorurteil beherrscht, es nicht nur für einzig ewig erklärten, sondern auch jeden, der den Grund zu untersuchen, die Maße und Verhältnisse zu beurteilen wagte, als einen verwegnen Toren abzuweisen und zu verschreien wußten.

Wohlbekannt mit diesen Gefahren, wage ich dennoch mit dem Geständnisse meiner Überzeugung öffentlich hervorzutreten und zu behaupten: Newton habe keineswegs erwiesen, daß das farblose Licht aus mehreren andern Lichtern, die zugleich an Farbe und an Brechbarkeit verschieden sind, zusammengesetzt sei; ich erkläre vielmehr die diverse Refrangibilität nur für eine künstliche Hypothese, die vor genauer Beobachtung und scharfer Beurteilung verschwinden muß. Nach dieser kühnen Erklärung habe ich alle Ursache, in meinem Vortrage bedächtig zu Werke zu gehen, um eine so schwere und verwickelte Sache zu einer abermaligen Revision vorzubereiten. Ich bin daher genötigt, ehe ich zur Abhandlung selbst schreite, einiges vorauszuschicken, um die Standpunkte anzugeben, woraus die Lehre sowohl als mein Widerspruch zu betrachten ist.

Vor allen Dingen muß ich auf das dringendste einschärfen, daß diverse Refrangibilität keine Tatsache, kein Faktum sei. Newton erzählt uns selbst den Gang seiner Beobachtungen und seiner Schlüsse; der aufmerksame Kritiker ist also imstande, ihm auf dem Fuße zu folgen. Hier ziehe ich nur die ersten Linien der ausführlichen Darstellung, die das Werk selbst enthalten wird. Newton findet, indem er einen Sonnenstrahl durch ein Prisma unter bestimmten Umständen durchgehen läßt, das aufgefangene Bild desselben nach der Brechung viel länger als breit und, was noch mehr ist, mit verschiedenen Farben gefärbt.

Hierauf gibt er sich Mühe, sowohl durch Veränderung der Versuche als durch mathematische Prüfung, die Ursache dieser Verlängerung des Bildes zu erforschen, und da er sie immer größer findet, als sie nach allen äußern Umständen und Einwirkungen, die er bemerken kann, sein sollte, so schließt er: die Ursache derselben müsse innerhalb des Lichtes liegen; die Ausdehnung des Bildes in die Länge entstehe durch eine Teilung des Lichtes, diese 372 Teilung werde durch Refraktion möglich, weil die verschiednen Strahlen, woraus das zusammengesetzte Licht bestehe, nicht nach einem allgemeinen Gesetze, sondern nach eignen Gesetzen gebrochen werden, da man sie denn nachher an ihren verschiedenen Farben gar bequem erkenne.

Diese Meinung setzt sich sogleich bei ihm fest; er stellt verschiedene Versuche an, die ihn nur noch mehr darin bestärken, und ob er gleich anfangs seine Überzeugung nur als Theorie vorträgt, so befestigt sie sich doch nach und nach dergestalt in seinem Geiste, daß er die diverse Refrangibilität wirklich als ein Faktum aufstellt. (Opusc. II, p. 371)

Auf eben diese Weise fahren seine Schüler fort, die diverse Refrangibilität teils als eine festbegründete und unwiderlegliche Theorie, teils gelegentlich als ein Faktum darzulegen.

Diese erste und größte Verirrung muß vor allen Dingen bemerkt werden. Denn wie sollte man noch in Wissenschaften Vorschritte hoffen können, wenn dasjenige, was nur geschlossen, gemeint oder geglaubt wird, uns als ein Faktum aufgedrungen werden dürfte.

Es ist ein Faktum, daß unter denen Umständen, welche Newton genau angibt, das Sonnenbild fünfmal länger als breit ist, und daß dieses verlängerte Bild vollkommen farbig erscheint. Dieses Phänomen kann jeder Beobachter ohne große Bemühung wiederholt sehn.

Newton erzählt uns selbst, wie er zu Werke gegangen, um sich zu überzeugen, daß keine äußere Ursache diese Verlängerung und Färbung des Bildes hervorbringen könne. Diese seine Behandlung ist, wie schon oben gesagt, der Kritik unterworfen: denn wir können viele Fragen aufwerfen, wir können mit Genauigkeit untersuchen: ob er denn auch recht verfahren? und inwiefern sein Beweis in jedem Sinne vollständig sei?

Setzt man seine Gründe auseinander, so werden sie folgende Gestalt haben:

Das Bild ist, wenn der Strahl die Refraktion erlitten, länger, als es nach den Gesetzen der Refraktion sein sollte.

Nun habe ich alles versucht und mich dadurch überzeugt, 373 daß keine äußere Ursache an dieser Verlängerung Schuld sei.

Also ist es eine innere Ursache, und diese finden wir in der Teilbarkeit des Lichtes. Denn da es einen größern Raum einnimmt als vorher, muß es geteilt, muß es auseinandergeworfen werden, und da wir das auseinandergeworfene Licht farbig sehen, so müssen die verschiedenen Teile desselben farbig sein.

Wieviel ist nicht sogleich gegen dieses Räsonnement auch einzuwenden!

Beim ersten Satze sei uns erlaubt zu fragen, wie hat man denn die Gesetze der Refraktion festgestellt? – Aus der Erfahrung. – Gut! Und der die Erfahrung machte, um die Gesetze festzustellen, hat er die Ausnahme, von der die Rede ist, beobachtet oder nicht? – Ob er sie beobachtet hat, wissen wir nicht; aber er hat sie nicht in Betrachtung gezogen. – So dürfen wir also an der Allgemeinheit dieses Naturgesetzes zweifeln und fragen: sollt' es nicht möglich sein, dieses Gesetz allgemeiner auszusprechen, und zwar so, daß die hier angeführte Ausnahme mit darunter begriffen wäre?

Was gegen die Überzeugung aus einer vollständigen Erfahrung einzuwenden sei, fällt in die Augen. Hier fragt sich, ist denn auch alles beobachtet worden, was beobachtet werden mußte? Wer kann beweisen, daß eine Erfahrung vollständig sei? Und gilt nicht gegen ihn jede Darlegung neuer Erfahrungen, die in diesen Kreis gehören?

Gesetzt aber auch, gegen beides wäre nichts einzuwenden und man nähme den Schluß: hier wirkt eine innere Ursache, als gültig an, so ist doch die Folgerung übereilt: diese Ursache liege in irgendeiner Eigenschaft des Lichts; denn wir haben ja in diesem Falle gebrochnes Licht und brechendes Mittel, und warum sollte das Mittel nicht durch eine uns unbekannte Ursache Doppelbilder hervorbringen können, oder durch eine unerklärte, vielleicht mit der Refraktion und Reflektion nur verwandte Kraft das Bild in die Länge zu dehnen imstande sein. Ist es denn ausschließlich die letzte Notwendigkeit, dem Licht die geheimnisvolle Eigenschaft zuzuschreiben, sich durch ein Mittel, wodurch es hindurch geht, spalten und in Elemente teilen zu lassen?

374 Doch sei dies alles hier nicht etwa, um irgend etwas festzusetzen oder zu einer Disputation einen Grund zu legen beigebracht, sondern nur um zu zeigen, wie wenig diverse Refrangibilität als Faktum gelten könne.

Die künftigen Revisoren werden also ersucht darauf zu sehen, daß niemand, er sei wer er wolle, sich unterfange, eine Erklärung, Theorie oder Hypothese für eine Tatsache auszugeben. Daß der Stein fällt, ist Faktum, daß es durch Attraktion geschehe, ist Theorie, von der man sich innigst überzeugen, die man aber nie erfahren, nie sehen, nie wissen kann.

Sollte denn aber, wird man mir einwerfen, wenn auch jener außerordentliche Mann in seinen Erfahrungen nicht genau genug und in seinen Schlüssen voreilig gewesen wäre, wenn seine Theorie wirklich nur Hypothese wäre, sollte ein solcher Irrtum in hundert Jahren durch so viele Gelehrte, Akademien und Sozietäten, welche die Versuche wiederholt und die Lehre geprüft, nicht schon entdeckt worden sein?

Ich antworte hierauf: wäre es wirklich geschehen, daß man die Newtonischen Versuche oft genug mit scharfem Beobachtungsgeist wiederholt, daß man seinen Gang verfolgt hätte, so würde man früher die Verbesserung der dioptrischen Fernröhre erfunden haben; man würde schon früher den Irrtum entdeckt haben, in den Newton verfiel, als er behauptete, ja nach seiner Theorie behaupten mußte, daß die Stärke der Farbenerscheinung nach der Stärke der Refraktion gerechnet werden könne.

Hat man nun, fahre ich fort zu fragen, da die Entdeckung gemacht war, daß die Farbenerscheinung ganz für sich, auf eine unerklärbare Weise, vermehrt oder vermindert werde, ohne daß die Refraktion mit ihr gleichen Schritt halte, hat man denn untersucht, wie tief dieser Irrtum in der Newtonischen Lehre verborgen gewesen? hat man denn gefragt, ob dieser entdeckte Irrtum nicht sogleich gegen die ganze Theorie mißtrauisch machen müsse? Hier und da finde ich es leise angegeben; aber hervorgehoben, ans Licht gestellt ward es, soviel ich weiß, niemals.

Wenn sich Newton durch seine Erfahrungen und seine Hypothese, denn für weiteres kann ich seine Meinung 375 künftig nicht gelten lassen, völlig überzeugt fand, daß sich die dioptrischen Fernröhre auf keine Weise verbessern ließen, wenn er dadurch auf die Erfindung seines Spiegelteleskops geführt wurde, wenn er auf die Verbesserung desselben lebhaft drang, wenn er als Resultat am Ende des ersten Teils des ersten Buchs der Optik jene Überzeugung aufstellt: daß die dioptrischen Fernröhre nicht verbessert werden können; so muß ja wohl, da nun dieses Resultat falsch befunden worden, der Irrtum tiefer als nur auf der Oberfläche liegen, so müssen ja wohl die Erfahrungen weder genau noch vollständig, oder die Schlüsse daraus nicht durch richtige Operationen des Geistes gezogen sein.

Hat man hierauf, wie doch natürlich gewesen wäre, gemerkt? Hat man bei diesem eintretenden wichtigen Fall die Sache nochmals in Untersuchung genommen? Keineswegs! Man leugnete lieber die Möglichkeit der Erfahrungen, die schon gemacht waren, und anstatt zu gestehen, daß durch diese Entdeckung jene Theorie selbst auf der Stelle vernichtet werde, so suchte man lieber durch Akkomodationen ihr wenigstens einen Schein des Lebens zu erhalten, und so spukt das Gespenst der diversen Refrangibilität noch immer in den Schulen der Physik, und man glaubt einen treuen, aufmerksamen Beobachter noch immer durch die Autorität eines großes Mannes zu schrecken, dessen Irrtum in der Sache, wovon die Rede ist, schon seit mehreren Jahren nicht geleugnet werden kann.

Es sei denn, höre ich mir hierauf antworten, wir wollen uns einen Augenblick als möglich denken, daß in jener Lehre wirklich ein Irrtum verborgen liege, daß er auch sogar schon halb entdeckt sei; aber wer will es mit dem größten Geometer aufnehmen, dem die Hilfsmittel der höheren Rechenkunst alle zu Gebote standen, und dessen Fehlschlüsse, wenn er ihrer begangen haben sollte, nur durch seinesgleichen entdeckt werden können.

Diesen Einwurf erwarte ich von niemand, der Kenntnis in der Sache hat, von der die Rede ist. Newton erscheint hier nicht als Mathematiker auf dem Platze, wir haben es nur mit Newton dem Physiker zu tun. Seine Erfahrungen kann jeder mit gesunden Sinnen wiederholen, seine Schlüsse kann jeder ruhige Denker prüfen. Was von Messungen, 376 mathematischen Beweisen und Formeln vorkommt, ist keineswegs von der höheren Art und läßt sich mit einiger Kenntnis recht gut übersehen, und unglücklicherweise ist dieses selbst die schwächste Seite seiner Arbeit; seine Formeln sind falsch befunden worden, und seine Messungen, seine darauf gegründeten Berechnungen gelten nur von einzelnen Fällen, und vergebens sucht er sie zu allgemeinen Verhältnissen, zu durchaus gültigen Naturgesetzen zu erheben.

Der vortrefflichste Rechenmeister kann eine Rechnung fertigen, an deren Kalkul nichts auszusetzen ist, und doch kann sie falsch sein, doch mit der Kasse nicht übereintreffen. Es durften ihm nur einige Belege fehlen, deren Mangel er übersah oder nicht bemerken konnte; sobald sich diese finden, fällt das ganze Zahlengebäude zusammen, und die an sich lobenswerte, bis auf den kleinsten Bruch der Pfennige, richtige Arbeit ist verloren und muß von neuem unternommen werden. Wie viele Fälle dieser Art zeigt uns die Geschichte der mathematischen Wissenschaften. Wie mancher Geometer war als Beobachter weniger glücklich, welcher hat nicht mehr als einmal in seinem Leben nach falschen Datis richtig, aber vergebens gerechnet.

Daß dieses Newtons Fall in seiner Optik sei, hoffe ich in meiner Schrift ausführlich zu zeigen. Es war nicht schwer, seinen Irrtum zu entdecken, denn schon mehrere vor mir haben ihn eingesehen; aber es ist schwer, ihn zu entwickeln, denn dieses ist noch keinem seiner Gegner gelungen, vielleicht gelingt es auch mir nicht; indessen werde ich mein Möglichstes tun, daß, wenn auch ich noch als Ketzer verdammt werden sollte, wenigstens ein glücklicherer Nachfolger eine brauchbare Vorarbeit finde.

Ich werde es an nichts fehlen lassen, seine Versuche aufs genauste durchzugehen und zeigen, wiefern sie an sich selbst richtig oder, wiefern an ihnen etwas auszusetzen; ob der Beobachter einen unleugbaren Versuch richtig gesehen, oder ob er sich durch einen Schein habe blenden lassen; ob er alle Nebenumstände bemerkt; ob die Versuche vollständig, ob sie gut geordnet sind, und ob die Schlüsse, die er daraus zieht, notwendig erfolgen.

Die größte Aufmerksamkeit haben wir ferner auf seinen 377 Vortrag zu wenden. Man hat schon lange anerkannt, daß weder seine optischen Vorlesungen noch die Optik selbst in mathematischer Ordnung geschrieben sei. Dieses kann bei einer physikalischen Materie nur soviel heißen: der Verfasser habe nicht von den einfachsten Versuchen angefangen, um von da zu den zusammengesetzten fortzugehen, als wodurch allein eine reine Ableitung und eine Darstellung des innern Zusammenhangs möglich wird, wodurch eine theoretische Erklärung allein vorbereitet werden kann. Und so ist es auch wirklich, wie jeder, der diese beiden Schriften zur Hand nimmt, bei dem ersten Blick erkennen kann. In den optischen Lektionen geht er natürlicher zu Werke. Er spricht als ein überzeugter Mann und legt uns offen dar, wie er sich überzeugt hat. In der Optik ist er künstlicher Sachwalter, der uns zu überzeugen sucht; man sieht, er hat schon Widerspruch erlitten, und diesem Widerspruch soll vorgebaut werden, und wenn die Optik ein unsterbliches Werk genannt zu werden verdient, so wird sie es deswegen bleiben, weil sie uns ein Zeugnis gibt, das zwar in der Geschichte der Wissenschaften oft genug wiederholt ist, welche Mühe sich ein scharfsinniger Geist geben kann, um sich und andern den Irrtum zu verbergen, den er einmal festzusetzen beliebt hat. Wie die Menschen überhaupt meist nur den Gebrauch des Verstandes schätzen und bewundern, er mag übrigens gebraucht werden, zu was er wolle.

Verblendet von einigen in die Augen fallenden Versuchen, hingerissen von der künstlichen Darstellung der Argumente, blieb man auf dem Punkte stehen, auf den sich Newton gestellt hatte und auf den jeder seiner Schüler sich stellen mußte, um in der Theorie ein scheinbares Ganze zu erblicken. So sieht der Zuschauer, der vorm Theater auf dem Punkte steht, von welchem und zu welchem der geschickte Maler die Linien seiner Dekoration gezogen, ein völlig verschlossenes Zimmer vor sich, indem die Zwischenräume der Seitenwände ihm nicht bemerkbar sein können. Alles paßt so genau, daß diese Linien nicht gerade zu laufen scheinen, sondern im Auge wirklich gerade laufen. Aber er trete nur einen Schritt zur Seite, so wird die Illusion sogleich verschwinden; er wird die Kunst mehr als 378 im ersten Augenblicke bewundern, da er getäuscht war, aber die Täuschung wird aufhören.

Es wird jedem auffallen, wenn wir in der Folge zeigen, daß die ganze Stärke der Newtonischen Theorie darin bestand, daß ihr Erfinder sowohl als seine Schüler ausdrücklich verlangten, daß man von ihrem Standort, auf ihre Weise die Gegenstände betrachten und sich von dem scheinbaren Zusammenhang als von einem wirklichen überzeugen sollte. Wer mit reinem unbefangenen Blick die Versuche, wie sie in Newtons Optik und in mehreren Kompendien durcheinandergestellt sind, betrachtet, glaubt seinen Augen kaum; die Verblendung ist so groß, daß sie Sophistereien zuläßt, die ganz nahe an Unredlichkeit grenzen.

Da man einmal bei der Refraktion eine so wichtige Erscheinung gesehen hatte, da eine ganz neue und beim ersten Anblick Mißtrauen erregende Theorie der ganzen Licht- und Farbenlehre darauf erbauet war, hätte man nicht sorgen sollen, alle Fälle zu sammeln und in einer gewissen Ordnung aufzustellen? Allein die Schüler hatten nicht Ursache es zu tun, weil bei dem schon vollendeten Bau die neuen Materialien ihnen nur im Wege gelegen hätten, und die Gegner konnten es nicht tun, weil ihnen noch manches zur Vollständigkeit fehlte, das uns glücklicherweise die Zeit entdeckt hat, und außerdem hatten die letzten meistenteils auch nur im Sinne, aus den bekannten Materialien gleichfalls ein hypothetisches Ganze zusammenzusetzen und ihre Schöpfungen der Newtonischen entgegenzustellen.

Da ich nun die ganze Angelegenheit zur Revision vorbereite, und wenn ich die anders beschäftigte Aufmerksamkeit meiner Zeitgenossen nicht erregen sollte, meine Arbeit dem folgenden Jahrhundert empfehle; so werde ich vor allen Dingen die bedeutenden Phänomene und Versuche, welche uns bei Gelegenheit der Refraktion Farben zeigen, in derjenigen Ordnung vortragen, die mir nach vieler Überlegung die natürlichste scheint, und zwar werde ich dabei folgendergestalt zu Werke gehn, daß ich zuerst die Fälle zeige, in welchen die Refraktion vollkommen wirkt, ohne daß eine Farbenerscheinung entstehe. Ferner werde ich die Bedingungen ausführen, welche zur Refraktion hinzukommen 379 müssen, damit eine Farbenerscheinung sichtbar werde, und nach welchen Gesetzen sie alsdann erscheine. Sodann werde ich zeigen, unter welchen Umständen sich diese Farbenerscheinung vermehre, vermindere und endlich gar wieder verschwinde, wobei die Kraft der Strahlenbrechung dabei in ihrem vollen Maße wirken kann. Ob es alsdann zu kühn ist, hieraus zu folgern, daß diese Farbenerscheinungen von der Brechung unabhängig seien, daß die Refraktion keineswegs die Ursache sei, durch welche, sondern nur eine Gelegenheit, bei welcher die Farbenerscheinung sich sehen läßt, wird sich am Schlusse zeigen. Ich wenigstens hoffe, die diverse Refrangibilität werde vor der bloßen Darstellung der sämtlichen Versuche verschwinden.

Ich werde sodann in einem zweiten Abschnitt historisch und kritisch zu Werke gehn, und das, was die frühern Philosophen von den vorgelegten Versuchen gekannt und was sie daraus geschlossen, vortragen; ferner auf die Geschichte der Newtonischen Erfahrungen und seiner Theorie übergehen, den Gang seines Geistes, seiner Beobachtungen und seiner Schlüsse in diesem Falle verfolgen. Sodann werde ich die Lehrart seiner älteren Schüler vor Erfindung der achromatischen Gläser und darauf die Wendung der neueren nach gedachter Entdeckung darlegen. Darauf die Bemühungen der älteren und neueren Gegner der Theorie auf eben diese Weise ans Licht stellen und die Ursachen anzeigen, warum ihr Bestreben so wenig gewirkt hat. Endlich werde ich suchen, den Punkt deutlich zu machen, wo wir gegenwärtig stehen, und nach dem Ziele deuten, das mir selbst noch in der Ferne liegt. Niemand kann lebhafter wünschen als ich, daß dieses Feld bald auch von andern, es sei durch Teilnahme oder durch Widerspruch, emsig bebaut werde. 380

 


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