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Gefängnis und Tod

Mata Haris Haus in Neuilly. Quelle: projekt.gutenberg.de

Mata Haris Haus in Neuilly

– Darf ich sagen, ich habe sie ganz genau gekannt? Jedenfalls bin ich wohl der einzige gewesen, der in den schmerzlichsten Tagen ihres Leidensweges in die Gefängniszelle etwas brachte, das zu ihrem Leben und ihrer Jugend Beziehungen hatte, etwas, das frei war von feierlichem Ernst und Drohung, nicht dazu angetan, ihr Mißtrauen zu erregen. Mein beruflicher Dienst beschränkte sich auf das geringste. Sie war gesund und kräftig. Wonach sie sich am meisten sehnte, frische Luft, parfümiertes Badewasser, lange Spaziergänge, das konnte ich ihr nicht verschaffen. Also bat sie mich eigentlich nur hin und wieder um Beruhigungsmittel für ihre Nerven und um Schlafpulver. Ein einziges Mal, am Rande des Grabes, begehrte sie ein Glas Alkohol. Vorher, während ihrer endlos langen Haft, hat sie keinen jener Wünsche geäußert, die im allgemeinen die Gefangenen quälen. Wenigstens nicht in meiner Gegenwart. Stolz von Natur und aus Gewohnheit, als echte Aristokratin des Nordens, mit Gefühl für Rang und ausgeprägtem Kastengeist litt sie schwer unter der Gesellschaft der anderen Inhaftierten, mit denen sie laut Vorschrift in einem Saal schlafen mußte, aber schließlich fügte sie sich auch darein.

So äußert sich Dr. Bralez, Gefängnisarzt in Saint-Lazare. Er kam täglich mit Mata Hari zusammen während der acht Monate, die die berühmte Tänzerin in diesem Gefängnis zubringen mußte.

– Ich war – fügte er hinzu – damals nur der Assistenzarzt des Direktors Dr. Bizard. Aber vielleicht gerade deshalb sprach diese Frau mit mir unbefangener als mit den anderen, und sehr oft nötigte sie mich, nach dem regelmäßigen Besuch noch ein paar Augenblicke bei ihr zu bleiben. Ich weiß nicht, war es aus Mißtrauen, war es aus Überzeugung, jedenfalls verfiel sie nie darauf, einem jungen Assistenzarzt ihr Herz auszuschütten, von den Verbrechen, deren man sie anklagte, zu sprechen. Ich weiß nichts von ihrem Prozeß, was nicht auch alle Welt wußte. Wollte man mich fragen: Halten Sie sie für schuldig?, müßte ich antworten: Ja, obgleich es mir schwer fällt, daran zu glauben. Denn es erscheint durchaus unlogisch, daß eine so veranlagte Frau, mit diesem Stolz, dieser Phantasie, Liebe zur Kunst, Schönheit, Kultur, Geldverachtung so tief herunter gestiegen wäre, leichtsinnige Flieger zu verführen, um von ihren mit Küssen berauschten Lippen die Geheimnisse unserer militärischen Operationen zu erhaschen. Immerhin nahmen die Verhandlungen vor dem Kriegsgericht für sie und ihre Verteidigung einen höchst unheilvollen Verlauf. Daran ist nichts mehr zu ändern. Ich erinnere mich meines Besuches bei ihr an dem Tage, wo ihr das Urteil zugestellt wurde. Glauben Sie mir, ihre Ruhe, Kaltblütigkeit, Gleichgültigkeit verblüfften mich. Wäre ich der Geistliche gewesen, hätte ich ihr den Trost des Glaubens vermittelt. Als Arzt war ich gezwungen, absolute Zurückhaltung zu beobachten; also fragte ich sie nur nach ihrer Gesundheit und entfernte mich aus der Zelle. Ich wagte nicht einmal ihr ein paar Veronaltabletten für eventuelle Schlaflosigkeit zu verordnen. Zwei Tage später bemerkte ich, daß sie deren tatsächlich nicht nötig gehabt hätte, denn sie verbrachte völlig ruhige Nächte ohne die geringste Beeinflussung durch die grauenhafte nahe Lösung der Tragödie. Ihr Prozeß war am 24. Juni zu Ende. Am 27. etwa um 10 Uhr vormittags, erschien eine Gefängnisnonne mit geheimnisvoller Miene und flüsterte mir ins Ohr, Madame Mata bäte um den Besuch des Doktors. »Des Doktors Bizard, nicht wahr?« fragte ich. »Nein, sie wünscht den jungen Doktor zu sehen,« betonte die Nonne. Der junge Doktor, das war ich. Ich ging also zu ihr, und zwar mit der Befürchtung, die Reaktion auf die Anspannung der letzten Tage könnte bei ihr, Nervenmensch durch und durch, eine Krisis bewirkt haben, ähnlich denen, die sie, nach eigenem Geständnis, zur Zeit ihrer großen künstlerischen Triumphe durchzumachen hatte. Aber nein, gar nichts derartiges. Sie hatte mich auch gar nicht als Arzt rufen lassen. Sie sehnte sich nach interessanten Büchern und bat mich, ich möchte sie ihr verschaffen. Bereitwillig nannte ich zwei oder drei berühmte Romanschriftsteller: Bourget, Marcel Prévost, Rosny. »O nein,« murmelte sie geringschätzig. »So etwas nicht. Für Geschichten mit bürgerlichem Milieu habe ich nicht viel übrig. Denken Sie, die Bücher, die man Sittenromane nennt, habe ich nie auslesen können. Mich reizt nur Dichtung, wenn sie etwas Geheimnisvolles und Religiöses, etwas von Sage und Magie enthält. In Schönheit zu leben gibt es, glaube ich, nur ein einziges Mittel: wir müssen die tausend Miseren des Alltags weit hinter uns lassen und hoch hinauf in die Sphäre des Ideals fliegen. Daher ist mir alles Europäische, selbst die Religion, unerträglich geworden ...« Hier steckte sie die entzückende Schmollmiene eines verzogenen Kindes auf: »Hinterbringen Sie das ja nicht den armen Nonnen, die es sich in den Kopf gesetzt haben, mich zu bekehren. Was das Wort Religion für mich bedeutet, würden die Ärmsten überhaupt nicht verstehen, und wenn sie hörten, wie ich meine Tänze und selbst meine Liebkosungen zu Andachtsübungen erhebe, würden sie vor mir sicher das Zeichen des Kreuzes machen ... Denn ich bin eine Hindu, trotz meiner holländischen Geburt ... Ganz und gar eine Hindu, jawohl, jawohl! Sie sind ein intelligenter Mensch, Doktor, also bitte sagen Sie: Habe ich irgend etwas Europäisches an mir? ... Nein, nicht wahr! Ich bin eine Orientalin. Daher interessiert mich auch einzig und allein der Orient. Wenn man mit mir von der Heimat spricht, dann wendet sich mein Geist einem fernen Lande zu, wo eine goldene Pagode sich im Schlangenlauf eines Flusses spiegelt. Ich könnte nicht genau sagen, woher ich bin ... Aus Benares? Aus Golkonda? Aus Gwalior? Aus Madura? Ein Geheimnis liegt in meiner Abstammung, in meinem Blut ... Später wird man es verstehen ... Ich selbst habe es kaum noch ergründet ...« Eine Wolke von Schwermut oder Heimweh schien über ihre Augen zu streichen, da sie so nachdenklich die Frage nach ihrer phantastischen Wiege heraufbeschwor. Tatsächlich wurde auch die Wirklichkeit hierbei unerklärlich. Weder der Typus, noch der Charakter, weder die Kultur, noch die Haut, weder die Gedankenwelt noch sonst irgend etwas an dieser Frau gehörte unseren Breiten. Man spürte etwas Triebhaftes, eine Art Urzustand und gleichzeitig etwas Priesterliches, etwas vom heiligen Funken, und zwar in ganz eigentümlicher Verfeinerung. Etwas Unbestimmtes, wie soll ich's nennen ...?

Dr. Bralez sucht nach einem Ausdruck, einem Bild, um seine merkwürdige und widerspruchsvolle Beobachtung kurz zusammenzufassen. Man fühlt, daß auch er, wie alle, die mit ihr zusammenkamen, einen lebhaften Eindruck hatte von der Mischung ihres Charakters aus Einfachheit und Kompliziertheit, aus Naivität und Berechnung, aus Hochmut und Milde.

– Einer ihrer Geliebten – sagte ich, um ihm bei seinem vergeblichen Suchen nach dem passenden Wort zu helfen – erklärt es vielleicht, wenn er sagt, sie wäre ein vom bösen Geist besessenes Kind.

– Das möchte ich nicht sagen, versetzte er; ich habe sie nicht in ihren besten Zeiten gekannt, wo sie ihre weiblichen Instinkte ganz nach Belieben spielen lassen konnte. In der engen Zelle, immer in Gesellschaft mit anderen Gefangenen, gänzlich abgeschlossen von der Außenwelt, wäre sie doch dann wie ein Panther im Käfig anzusehen gewesen. Das ist durchaus nicht richtig. Ein Panther, selbst im Käfig, ist wild und unbändig. Aber nie hatte ich von ihr den Eindruck eines grausamen Wesens. Oft war sie matt bis an die Grenze der Stumpfheit, dann wieder fieberhaft erregt, fast gebieterisch, doch stets bewahrte sie ein aristokratisches, feinfühliges Wohlwollen, das von vornherein das ihr zugefügte Böse zu verzeihen schien. Ihre Kultur verriet Gründlichkeit, aber nicht etwa, weil sie umfassend war, sondern weil sie ihr ganzes Tun und Denken beherrschte, und sie in jedem Augenblick ihres Lebens leitete. Als ich, von ihr gerufen, zwei Tage nach der Urteilsverkündigung eintrat, sagte sie zu mir: »In diesem Augenblick möchte ich nichts Neues lesen. Aber ich habe den brennenden Wunsch, das, was mich auf den Wegen der Kunst und der Liebe geführt, wieder zu lesen. Nichts, außer diesen beiden Gebieten, hat für mich je existiert. Wenn Sie mir einen großen Gefallen erweisen wollen, versuchen Sie, daß das Museum der Religionen Ihnen diese Bücher leiht, denn sie sind im Buchhandel schwer zu beschaffen.« Und dann sprach Sie zu mir über diese bedeutenden Bücher Indiens wie wir etwa über die neuesten Boulevardromane plaudern. »Früher,« sagte sie, »las ich am liebsten, was uns lehrte, das Leben zu lieben und die sinnlichen Genüsse mit leidenschaftlicher Begier und Erkenntnis aufzunehmen. Im Prem Sagar gibt es Kapitel, die alle unsere Sinne pochen machen und uns wie Opium berauschen. Ganze Gesänge dieses Riesengedichts, woraus die modernen Dichter ihre besten Einfälle sich geholt haben, kann ich auswendig. Ebenso haben die Schauspiele Kalidasas mit ihrer zarten Empfindung und die seiner Schüler mit ihrer farbigen Feinheit mir auserlesen schöne Tage beschert. Ich muß lachen, wenn ich sagen höre, in Paris wäre die szenische Kunst auf ihrem Gipfel angelangt. Oh, wenn Sie wüßten, wie unglaublich gesteigert das psychologische Raffinement und gar erst das der wirklichen Dinge in Indien ist! Jede Leidenschaft hat dort unten ihren Duft und ihre Farbe; so ist die Liebe blau, die Wonne weiß, die Zärtlichkeit rosa, der Heldenmut rot. Die Dekorationen wechseln in der Farbe und die Atmosphäre wechselt im Aroma je nachdem ein neues Gefühl im Drama vorherrschend wird. Und jede Person hält sich genau an die Sprache ihrer Kaste und Religion, und wenn sie einander nicht verstehen, vermittelt ein Dolmetsch die Reden, ganz wie im praktischen Leben. Glauben Sie ferner nicht etwa, daß diese Autoren ihre sämtlichen Abenteuer in die ewige Form der vier Akte schütten. O nein. Es gibt Stücke mit einem, zwei, drei, fünf, sieben, zwölf, zwanzig Akten, je nach der Bedeutung der Verwicklung. Und die Liebenden lieben sich, lieben sich wahrhaft auf der Szene. Und hassen sich wahrhaft. Und sie verfolgen sich tatsächlich und greifen sich tatsächlich an. An so manchen Händen habe ich Blut gesehen. Ah! Und die ritterlichen Legenden, die Geschichten der Râdschputenkrieger, die in safrangelbem Rock über dem Panzerhemd auf die Suche nach wunderbaren Abenteuern ausreiten! Und die Romane von der stolzen Brahmanentochter und dem Edelknaben! Sie verliebt sich in ihn, wird in eine Zisterne gefangen gesetzt, bleibt dort viele, viele Jahre lang, verliert nie die Hoffnung; der Tag wird kommen, wo sie entschlüpfen kann, um zum Stelldichein zu eilen; sie ist sicher, ihn an der Pforte der Pagode, wo sie sich kennenlernten, zu finden. Und kann er sie doch niemals wiedersehen, dann wird er im Tempel mit einem letzten Seufzer für sie zu sterben wissen! Es gibt nichts Dichterischeres, nichts Vornehmeres, Größeres als was uns vom alten Indien erhalten geblieben ist. Aber um mir jetzt ein Vergnügen zu bereiten, sollen Sie sich weder um die Beschaffung des Prem Sagar, noch des Bakta Mal, noch des Singhazan Battici, noch des Sundara Kanda bemühen. Ich wäre mit einem schlichteren Werk, das leichter zu finden ist, zufrieden. Versuchen Sie doch, den Lotosbaum der goldenen Regeln zu bekommen; nichts weiter; es ist ein kleines buddhistisches Buch, das uns lehrt alles zu verachten ...« Ich sah sie scharf an, ich wollte sie prüfen, ob ihre Züge etwa denen eines christlichen Verurteilten, der als letzten Trost um die Nachfolge Christi bittet, glichen. Aber nicht eine Spur davon ...

Dr. Bralez fuhr fort:

– Ich konnte das, wie sie sagte, schlichte Werk in keiner Buchhandlung auftreiben; jedoch einer meiner Kollegen am Sankt Ludwigshospital, in asiatischer Literatur sehr bewandert, lieh mir ein, man könnte sagen, buddhistisches Evangelium. Es enthielt die wichtigsten Stellen des Salita Vistara, Buddhacarita und des Avadanasataka. Bevor ich das Buch Mata Hari übergab, wollte ich darin blättern; aber ich las es schließlich ganz durch, und zwar mit dem lebhaftesten Interesse; und je mehr der Zaubertrank des Nirvana meinen Geist durchtränkte, um so klarer, schien mir, wurde das Seelengeheimnis der Tänzerin vor meinen Augen im Licht dieses ergreifenden Mystizismus. Als ich das Büchlein öffnete, las ich bald folgenden Satz: »Der junge Märtyrer, dem der Henker soeben die Augen ausgerissen hat, ruft aus: – Was liegt daran, da ich alle Freuden, die sie mir verschaffen konnten, voll genossen und mir, dank ihnen, auch darüber Rechenschaft ablegen konnte, daß alles vergänglich, flüchtig, verächtlich ist!« – Dann las ich die berühmte Parabel von der Kurtisane: »Der junge Upagupta, ein Spiegelbild heiliger Reinheit, traf morgens die schönste Bajadere im ganzen Lande, die ruhmreiche Vasavadata von Mapura; und als die Frau den jungen Mann sieht, entbrennt sie in Liebe zu ihm und sagt es; aber der junge Mann geht vorüber ohne den Kopf zu wenden. Ein paar Jahre später wurde diese Bajadere zum Tode verurteilt; der Henker trennte ihr die Beine, die Arme, die Ohren, die Nase ab und ließ sie auf dem Begräbnisplatz liegen, damit die Raben das Urteil gänzlich vollstrecken sollten. Als Upagupta davon erfuhr, ging er zum Begräbnisplatz. Die Frau sieht ihn kommen und spricht zu ihm: ›Meine Schönheit, mein Leben wolltest du nicht, aber jetzt kommst du, dich an meinen Schmerzen, meinem Sterben zu weiden.‹ Der junge Mann versetzte: ›O nein, meine Schwester, ich komme und sehe nur, wie wenig wichtig das Leben ist und wie wenig die Schönheit bedeutet.‹ Nach diesen Worten fühlte sie keine Todesangst mehr, auch keine Schmerzen darüber, hinschwinden zu müssen; und nachdem sie ernsthaft überdacht, welch unendliche Qual auf dem tiefsten Grunde der Wonne ruht, gab sie sich froh dem Nirwana hin und starb glücklich und heiter.« So war auch alles andere in diesem Buch, das wiederzufinden ich mich später vergeblich bemüht habe und das nichts enthielt, was nicht in jeder Buddhasage geschrieben steht. Auf jeder Seite murmelte eine geheimnisvolle, sanfte und klare Stimme Psalmen eines glücklichen Verzichts, eines seligen Nichtseins, einer hehren Freude das Dasein abzubrechen. Und als ich diesen Stimmen lauschte, dachte ich mir, wenn Mata Hari wirklich in diesen Grundsätzen erzogen worden wäre, könnte die vornehme Heiterkeit, die stolze Verachtung, womit sie ihre nahe bevorstehende Hinrichtung betrachtete, kaum in Erstaunen setzen. Denn wie phantastisch man auch die Phasen weiblicher Zuversicht geschildert hat, diese Frau setzte niemals die geringste Hoffnung in eine Nichtvollziehung des kriegsgerichtlichen Urteils. Man vergesse doch nicht die unversöhnliche Härte dieser Kriegszeiten.

Dr. Bralez hat recht. Nachdem die Minister lange Zeit von schöngeistigen Ideen eingenommen waren, wurde von einer neuen Regierung, die nicht patriotischer aber energischer war, das sogenannte Schreckensregiment errichtet. Wer damals in die Hände der Militärgerichte fiel, zahlte für alle, denen während der beiden ersten Kriegsjahre der vielgerühmte Geist der Milde zugute gekommen war. Mit ihrem klaren Blick mußte Mata Hari begreifen, daß es ein Wahnsinn wäre, auf die Gnade des Staatsoberhauptes zu rechnen. Ihr Verteidiger freilich hielt sie mit Versprechen höchster Interventionen hin, wie man ein Kind in Träume wiegt. In Spanien, in Holland, in Amerika erhoben sich einige sehr mutige Stimmen zu ihren Gunsten. Aber drangen sie bis an ihr Ohr? Jedenfalls glaube ich, wie auch Dr. Bralez, daß ihre Seele gerüstet war, der Todesstrafe mit stolzem Mut zu begegnen seit jenem Tage, wo sie das furchtbare Urteil aus dem Munde von zwölf ehrlichen Soldaten vernehmen mußte.

– Ihre Gespräche – sprach Dr. Bralez weiter – ihre interessanten Gespräche, einst ganz kosmopolitisch und mondän, wurden plötzlich sehr ernst, grübelnd, völlig orientalisch ... Sentenzen blühten auf ihren Lippen wie auf denen Sancho Pansas; aber sie waren doch ganz anderer Art. Ihre Sentenzen waren eine Frucht der hindostanischen Lektüre; sie dienten ihr in jedem Augenblick zur Befestigung ihres Vertrauens auf das Nirwana. »Von unserer Geburt an«, sagte sie und zog damit die Summe ihrer Lektüre, »sind wir ein durch eine Feder belebtes Skelett; die geringste Erschütterung kann sie zerbrechen.« Oder: »Der Wurm ist das einzige unsterbliche Wesen.« Oder gar: »Es gibt kein Leben, es gibt keinen Tod, es gibt nur Metamorphosen.« Obgleich, wie ich später erfuhr, ihre Freunde sie pedantisch nannten, weil sie immer zitierte und dauernd von dem Wunsch besessen war, die dunklen Zusammenhänge des Daseins und die Satzungen der Kunst auf buddhistische oder bramahnische Weise zu erklären, habe ich, offen gestanden, nie etwas bemerkt, was mich durch einen geschraubten Ton abgestoßen hätte. Mit der größten Gewandtheit vermischte sie Reispuder und Metaphysik, die Erfahrungen des niedrigsten Okkultismus und die erhabensten Lehren der Vedas miteinander. Ein Parfüm, auf eine bestimmte Art bereitet, eine Farbe mit einer anderen an bestimmten Tagen zusammengestellt, ein Zauberwort mit einem besonderen Akzent gesprochen, eine kabbalistische Zahl, ein Amulett, kurz irgendeine Oberflächlichkeit genügte, sie in den unerhörtesten Überschwang zu versetzen. Ich erinnere mich eines Nachmittags, wo sie mit sehr traurigem Lächeln zu mir sagte, als Dank für alle meine Aufmerksamkeiten hätte sie sich vorgenommen, mir die drei Zauberrezepte zu geben, die mich am meisten interessieren könnten. Ich fragte sie lachend: »Welche wären das?« – »Das erste und hauptsächlichste verleiht die Kraft, sich von dem geliebten Wesen, sei es wer es wolle, lieben zu lassen ... Das zweite, praktischere ist die Kunst alles in Gold zu verwandeln ... Das dritte ist das Universalmittel für eine dauernde Gesundheit.« Mit weit geöffneten Augen, den Blick fest auf mich geheftet, jedoch ohne daß ich das Gefühl hatte, sie sähe mich wirklich an, schwieg sie lange, nachdem sie diese Worte gesprochen hatte. Und, wollen Sie es glauben oder nicht, ich war halluziniert, und mich beschlich die Empfindung, ich befände mich bei einer Hexe, vor einem übernatürlichen Wesen, das tatsächlich über die Kräfte des Mysteriums verfügen konnte. »Sie sehen – fügte sie plötzlich hinzu mit einem Ruck des Kopfes, zweifellos um irgendeine häßliche Ahnung loszuwerden – dank meinen drei Rezepten sind mir die drei Dinge zuteil geworden, und das wird auch Ihnen geschehen, denn Sie sind gut zu mir gewesen.« Und nachdem sie einen rauhen Seufzer ausgestoßen, blieb sie so verdüstert und in Gedanken versunken, daß sie nicht einmal mein Weggehen aus der Zelle bemerkte. Zu anderen Malen war ihre Freude kindlich, naiv, mit einem ganz leichten Stich ins Hergebrachte oder gar ins Gewöhnliche; wenn man dann sah, wie sie schallend lachte und sich derb auf die Schenkel schlug, lag der Vergleich mit einer saftigen holländischen Dirne nicht fern. Aber im Grunde genommen war ihr Charakter vielmehr ernst, besorgt, zurückhaltend, mißtrauisch, hitzig und widerspruchsvoll. Es gab Tage, wo in weniger als einer halben Stunde alle menschlichen Gefühle wie Unwetter und Sonnenschein durch ihre Augen jagten. Man begriff bei vorurteilsloser Betrachtung nur zu gut die absolute Macht ihres geschmeidigen, betörenden Wesens über ihre Geliebten.

Jetzt reizte es mich noch weiter in die Geheimnisse um das Bild der Tänzerin zu dringen und ich fragte meinen guten Freund Dr. Bralez, ob Mata Hari tatsächlich eine der schönsten Frauen ihrer Zeit gewesen wäre. Wer bei Dr. Bizard oder im Arbeitszimmer Louis Dumurs ihre entzückenden Photographien gesehen hat, als Nackttänzerin in den verschiedensten Stellungen, das Bild einer exotischen Venus, würdig von Baudelaire als Inkarnation aller Sünden besungen zu werden, wird mir ohne Zweifel sagen, ihre Schönheit wäre unbestreitbar gewesen. Aber dem ist keineswegs so. Einige ihrer Freunde liefern uns den Beweis dafür. Sie schildern sie mit wenig schmeichelhaften Farben und versichern, ihr Ruf in diesem Punkte wie in vielen andern wäre überschätzt und in der Hauptsache nichts anderes als der Triumph des Snobismus und der Reklame. »Was reizte,« sagen diese Freunde, »war das Seltene und Teure an ihr ...«

– Die Wahrheit – murmelte Dr. Bralez nach meinem persönlichen Geschmack, ist, daß Mata Hari im wahrsten Sinne des Wortes das war, was man im allgemeinen als eine sehr schöne Frau bezeichnet. Durch ihre raffiniert geschmackvollen Dekolletes, ihre fremdartige Eleganz mußte sie notwendigerweise den tiefsten Eindruck machen in den europäischen Salons, wo die Weltdamen in Entzücken gerieten, wenn sie das aufreizende Parfüm, das von ihrem Körper ausging, einatmeten. Aber wirklich hübsch, das war sie nicht. Ihre Züge entbehrten der Feinheit. Ihren Lippen, ihren Kinnbacken, ihren Wangen haftete etwas tierisches an. Ihre braune Haut schien immer ölgetränkt oder schweißbedeckt. Ihre kleinen Brüste, die sie dem Publikum unter zwei Filigrankuppeln verbarg, waren schlaff, welk, runzelig. Massard: Les Espionnes à Paris. Albin Michel. Paris 1923. Nur ihre Arme und Augen waren von absoluter Schönheit. Ihre Arme hat man die schönsten der Welt genannt und damit nicht übertrieben. Und ihre Augen, magnetisch und rätselhaft, schillernd und sammetweich, gebieterisch und flehend, melancholisch und kindlich, ihre unergründlichen Augen, in deren Tiefe so viele Herzen versanken, verdienten wohl auch die Bewunderung, die man ihnen zollte. Sie selbst sprach nie von ihren physischen Reizen, was betont werden muß, und war stolzer auf ihren Geist als auf ihr Gesicht. Daher mußte ich über die guten Schwestern des Gefängnisses, die ihr zart ihre Koketterie vorwarfen, leise lächeln. Sie war wahrhaftig minder kokett als die Straßendirnen, die in den großen Schlafsälen von Saint-Lazare untergebracht sind. Nur einmal, am Tage der Hinrichtung ...

Dr. Bralez unterbricht sich plötzlich, als ob diese letzten Worte schmerzliche Erinnerungen in seinem Gedächtnis wachriefen.

Und ich frage ihn:

– Erinnern Sie sich eines Kapitels im Buche Massards? Der Titel lautet: Der Vorabend des letzten Tages.

– Nein, antwortet er, ich erinnere mich nicht daran.

– Dort läßt der gute Kommandant die Bajadere am Rande des Grabes tanzen. Wie alle Welt wußte auch sie, sagt man, daß ihr Verteidiger den Präsidenten der Republik um eine letzte dringende Audienz gebeten hatte. Hiervon hing alles ab, ihr Leben oder ihr Tod. Und da Clunet auch vierundzwanzig Stunden später noch nicht im Gefängnis erschien, ließ die Verurteilte, unruhig, bleich, von Angst gehetzt, den Nonnen, die bei ihr den Dienst versahen, nicht einen Augenblick Ruhe. »Er kommt nicht«, sagte sie, »weil er nicht den Mut hat, mir zu sagen, daß Poincaré meine Begnadigung versagt hat und man mich morgen erschießen wird.« Die Schwester Marie, eine kleine, sehr nette, energische, neugierige Schwester, die mit den Inhaftierten, wenn es sein mußte, Dialekt sprach, diese Schwester Marie, obgleich wenig zart veranlagt, dauerte die arme Frau mit dem Tod vor Augen und sie nahm sich vor, sie zu zerstreuen. »Ach, reden sie doch nicht solchen Unsinn«, rief sie. Und da sie wußte, daß die Hindu, wie man Mata nannte, in ihrer phantastischen Naivität Schmeicheleien, die auf ihre Kunst zielten, nicht widerstehen konnte, bat sie die Ärmste, für sie, für sie allein zu tanzen. Massard schreibt ausdrücklich: »Mata tanzte, dann lächelte sie und hoffte.«

Auch Dr. Bralez lächelte.

– Sehr leicht möglich – murmelte er – jedenfalls würde es gut zum Charakter der Heldin gepaßt haben. Am Morgen des 15. Oktober 1917, als man die Zelle 12 betrat, sie weckte und ihr ankündigte, ihre letzte Stunde sei gekommen, hätte man sie sicher unschwer zum Tanzen bewegen können. Solch ein tragisches Tagesgrauen ist allen Gefängnisärzten bald nichts Neues mehr. Aber die Wirkung bei den Verurteilten ist sehr verschieden. Die einen bleiben ganz ruhig, andere begehren auf, prahlen oder zeigen äußerste Verachtung. Die ganze Skala des Lächelns erscheint. Auf den Lippen der einen malt es Furcht und Entsetzen und gleicht der Fratze eines Skeletts, die Lippen der anderen kräuselt es zum Ausdruck schrankenlosen Stolzes. Aber was wir an diesem Herbstmorgen mit ansahen, das dürfte sich wohl in ähnlicher Lage nie wieder ereignen: es war das markerschütternde Gelächter eines Geschöpfs, das nur noch ein paar Minuten zu leben hatte. Die Szene ist tausendfältig beschrieben worden. Ich war nicht dabei. Offenbar kurz bevor sie sich abspielte, wurde ich in den Krankensaal gerufen. Aber ich habe sie mehrere Male schildern hören. Der Verteidiger war aus der Gruppe der Amtspersonen zur Gefangenen getreten, um leise mit ihr zu sprechen. Und dann brach sie in ein grauenhaftes, ganz unwahrscheinliches Gelächter aus. Alles stand da wie vom Donner gerührt. Herzzerreißendes Schluchzen hätte nicht so furchtbar wirken können. Worauf jemand sagte: »Sie ist verrückt geworden.« Aber Mata, immer noch im Morgenrock, trat auf ihn zu, um ihn eines besseren zu belehren, und schrie ihm mit ironischem Behagen ins Gesicht: »Wissen Sie, was Maître Clunet mir soeben geraten hat? Ich soll mir ganz einfach Aufschub erwirken durch Ausnützung des Paragraphen 27 irgendeines Gesetzes, was weiß ich, indem ich erkläre, ich sei schwanger ... Das ist ja zum wälzen.« Und sie lachte hemmungslos. Ich habe dieses Lachen allerdings nicht gehört. Dagegen bemerkte ich wohl die eisige Ironie auf ihren Zügen, als sie sich an die Militärpersonen und Beamten wandte, die die Zelle nicht verließen, obgleich sie fortfuhr Toilette zu machen, und ihnen die Tür wies, mit den Worten: »Gestatten Sie, meine Herren, daß ich mich ankleide ...« Wie die anderen wollte auch ich mich zurückziehen, um sie mit der Nonne und ihren beiden Mitgefangenen allein zu lassen, aber sie hielt mich fest, mit der Bemerkung, die Ärzte hätten das Recht, zugegen zu sein, während sie sich anzöge. Und dann begann die Szene, über die bisher immer nur falsch berichtet wurde. Es war ein Monolog im Plauderton, atemraubend gerade dieses lächelnden Plaudertons, dieser unerschütterlichen Ruhe wegen. Wie es bei nervösen und reizbaren Wesen häufig der Fall ist, schien diese Frau in den Zeiten ihres Glanzes geradezu überempfindlich, jetzt, da sie mit ihren aristokratischen Händen die Totengala anlegte, heiterer als sie jemals gewesen sein dürfte bei den Vorbereitungen für den Besuch eines Festes. Die arme Nonne, die, laut Massard, vor einigen Wochen in einem verärgerten Augenblick gesagt hatte: »Wir wollen sehen, ob sie vor den Gewehren sich ebenso keck gebärden wird, wie vor uns«, zitterte ergriffen und sprachlos. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie die ungewöhnliche Künstlerin an, die sich in ruhigem Rhythmus ohne Übereilung bewegte und uns mit fester Stimme ihre letzten Gedanken anvertraute. »Sie haben gesehen«, sagte Mata Hari, »diese Herren fürchteten sicher, ich würde ihnen etwas vorweinen oder vorstöhnen. Daher fühlten sie sich veranlaßt, mir Mut zuzusprechen, als man mich weckte ... Ich hatte vortrefflich geschlafen ... Einst hätte ich ihnen nicht verziehen, mich so früh geweckt zu haben ... Was ist das für ein Brauch, die Verurteilten bei Tagesgrauen hinzurichten! In Indien gibt es so etwas nicht. Dort ist der Tod eine Zeremonie, die man im Sonnenlicht feiert vor einer mit Jasmin bekränzten Menge. Es wäre mir lieber gewesen, etwa um drei Uhr hinaus nach Vincennes zu fahren, nach einem guten Frühstück ... Jedenfalls, hoffe ich, wird man mich nicht nüchtern erschießen wollen. Also, lieber Doktor, was könnte ich wohl noch nehmen?« Die arme Nonne versetzte: »Einen Cordial.« Und ich fiel ein: »Vielleicht einen Grog?« Sofort antwortete sie: »Das ist das Richtige, einen Grog!« Als ich mich anschickte, ihn zu holen, fragten die draußen ungeduldig und bleich wartenden Militärs und Beamten, wie weit die Gefangene wäre. Ich riet ihnen, sich in Geduld zu fassen, denn die Verurteilte habe sich vorgenommen, Saint-Lazare nur gewaschen, angekleidet zu verlassen, und zwar als elegante Frau. Als ich mit einer Flasche Rum und heißem Zuckerwasser wieder eintrat, fragte Mata mich: »Was für Wetter haben wir?« – »Prachtvolles Wetter.« »Dann also – fuhr sie zur Nonne gewandt fort – müssen Sie mir meinen hellen, beigefarbenen Mantel geben; ihn trug ich, als ich hier eintrat ...« Ruhig schlürfte sie ihren Grog, jedoch ohne jeden Versuch, ihre letzten Augenblicke in die Länge zu ziehen, was viele hartgesottene Verbrecher unter allerhand rührenden Vorwänden tun, wie noch ein letztes Anhörenwollen der Messe oder die Bitte um eine letzte, die Henkerszigarette, die sie dann sehr langsam rauchen. »Der Tod« – nahm sie wieder ihre Worte auf – »ist nichts, das Leben auch nicht: sterben, schlafen, träumen, wandern, alles, alles ist eitel; ganz gleich, ob uns heute oder morgen die Erfüllung wird, in unserem Bett oder bei der Rückkehr vom Spaziergang. Alles ist Täuschung.« Die Nonne, bemüht, diese Unglückliche mit Gott zu versöhnen, nannte ihr den Priester und den protestantischen Pastor des Gefängnisses. War Mata Hari Protestantin? Jedenfalls hatte sie immer dem Pastor den Vorzug gegeben. Im Grunde genommen gab es für sie aber nur eine einzige Religion, den buddhistischen Pessimismus, der, um den Schmerz zu unterdrücken, jede Tätigkeit unterdrückt und im Dasein nur Schmerzen und Gefahren sieht. Nachdem sie vor einem kleinen trüben Spiegel ihre Frisur beendet hatte, puderte sie sich Gesicht und Busen. Ihre Puderschachtel und Quaste habe ich mir aufgehoben. Als sie sah, daß die Nonne die Bänder ihrer zierlichen Schuhe schlecht zugeschnürt hatte, beugte sie sich vor, um das besser zu machen, und murmelte dabei: »Man sieht, liebe Schwester, Sie tragen an Ihren Schuhen nicht solche Nesteln ... Nichts mehr davon ... Wenn Sie wollen, können Sie jetzt den Pastor rufen ... Ich habe zwar keine große Lust ihn zu sehen, aber da diese Besuche zu seinen Pflichten gehören, mag er kommen!« In diesem Augenblick klopfte der Major, der als erster sie geweckt hatte, an die Tür und rief: »Sie müssen sich beeilen!« Mata lächelte geringschätzig, fuhr mit ihrer Toilette fort und sagte: »Sie können eintreten, ich bin angekleidet.« Ich öffnete. Vier oder fünf Personen, darunter mein Chef, Dr. Bizard, betraten die Zelle. Feierlich fragte der Vertreter des Kriegsgerichts die Verurteilte: »Haben Sie noch eine Erklärung zu machen?« Kalt antwortete sie: »Keine ... Ich habe es bereits gesagt, ich bin unschuldig ... Und selbst, wenn ich noch etwas hinzuzufügen hätte, ich würde es jetzt nicht mehr sagen.« Darauf der Richter: »Haben Sie noch einen Wunsch?« ... »Ja, ich möchte Rittmeister Marow sehen, aber da er in Rußland ist, muß ich mich damit begnügen, ihm zu schreiben, wenn Sie das gestatten.« Dann setzte sie ihren Hut auf und trat heraus auf den Gang: »Wenn es beliebt, meine Herren.« Als man die Direktionskanzlei des Gefängnisses betrat, wo Massard und andere Offiziere zurückgeblieben waren, bat Mata um eine Feder und schrieb drei Briefe: einen an ihre Tochter, den zweiten an einen hohen französischen Beamten, den dritten an den Rittmeister Marow. Als sie die Briefe ihrem Verteidiger übergab, empfahl sie ihm mit leichtem Spott, sie nicht zu verwechseln, ihrer Tochter nicht etwa den an ihren Geliebten gerichteten zu schicken. Festen Schrittes ging sie zum Tor, wo ein Auto sie erwartete. Ich setzte mich mit Dr. Bizard und einem Beamten in einen Mietwagen. Mit ihr stiegen Clunet, die Nonne und ein Bataillonschef ein. Unser Fuhrwerk, langsamer im Tempo, erreichte Vincennes erst, als der Spruch vor der Verurteilten bereits verlesen worden war. Außerdem war der vom Hauptmann Bouchardon erlassene Befehl äußerst streng. Weder der Verteidiger, noch der Pastor, noch die Ärzte, niemand durfte ohne daß der Ruf an ihn erging, in die unmittelbare Nähe des Richtplatzes. So sah ich also nur aus etwa hundert Schritt Entfernung hinter den Dragonertruppen, die das Viereck bildeten, wie diese Frau aufrecht und stolz zum Pflock schritt und sich daran festbinden ließ; ich sah, wie sie die Binde für die Augen abwehrte, sah schließlich, wie sie mit dem Taschentuch zum Abschied winkte und glaubte gern, diese letzte Geste richtete sich an mich. Ich zitterte am ganzen Leibe. Ist das verwunderlich, wo selbst die Gendarmen, die ihr Auto bewacht hatten, alte, bewährte Veteranen, an Zeremonien solcher Art gewöhnt, ihr Erschauern nicht verbergen konnten? Nur Hauptmann Bouchardon lächelte mephistophelisch, befriedigt, trommelte mit den Händen auf dem Rücken und murmelte Worte, die niemand verstand. Die anderen entfernten sich stumm, mit automatischen Schritten von dem unheilvollen Ort. Die arme Nonne war ein Bild des Jammers. Clunet, der berühmte Mann, sah zum Erbarmen aus. Ich selbst mit meinem erdfahlen Gesicht dürfte wohl gar lächerlich erschienen sein ... Auf der Rückfahrt äußerte Dr. Bizard kein Wort; aber als wir uns seinem Hause näherten, sprach er erschüttert die berühmten Verse Baudelaires:

Mir dünkt, daß wir ihr ein paar Blumen schulden.
Die armen Toten haben viel zu dulden.
Und wenn Oktober, der die Bäume schüttelt,
An ihren Gräbersteinen traurig rüttelt,
So müssen sie uns oben herzlos finden,
Die wir uns weich in unsere Decken winden.
Sie aber sind verzehrt von grausen Schaudern.
Sind ohne Bettgenoss und ohne Plaudern,
Und ihr Gebein, woran die Würmer klopfen,
Verspürt der winterlichen Wasser Tropfen ...

Die Blumen des Bösen, Nachdichtung von Stefan George, Verlag Georg Bondi, Berlin.

– So – nun ist auch das zu Ende – schloß Dr. Bralez mit einem schüchternen Versuch zu lächeln ...

Aber mir entging nicht das dumpfe Zittern seiner Stimme und seiner Augen tiefe Traurigkeit.


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