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Sechzehntes Kapitel

Vom Bahnhofe fuhren die Brüder nach einem kleinen Hotel in der Rue des Deux-Ecus, in dem Gianni, wie er sich erinnerte, mit seinem Vater als kleiner Knabe ein paar Tage gewohnt hatte. Auf einer Treppe mit Holzgeländer stiegen sie bis zum fünften Stockwerk hinauf in ein Stübchen mit so niedriger und ungleicher Decke, daß Gianni, als er sein Hemd wechseln wollte, sich eine Stelle im Zimmer aussuchen mußte, wo er die Arme hochheben konnte.

Hierauf gingen sie aus, speisten beim ersten Weinhändler, den sie fanden, begaben sich nach der Rue Montesquieu und kauften sich dort jeder ein Beinkleid und einen Paletot. Ebenso besorgten sie sich ein paar Schnürstiefel und Hüte.

Dann bestiegen sie eine Droschke und ließen sich nach dem Zirkus fahren, nahmen Billetts zum ersten Platz und setzten sich mit dem Instinkt von Zirkusleuten links vom Stallgang. Als sie eintraten, war das Gas noch nicht aufgedreht und der große Kreis von gelbem Sand in der Mitte der dunkeln Manege noch nicht zertreten von den Schritten des Stallmeisters mit der Peitsche. Es war ein merkwürdiger Anblick für sie, das ganze Detail und die sorgfältige Vorbereitung zu den Reit- und Akrobatenkunststücken auf so großem Fuße zu sehen.

Das Publikum erschien, der Zirkus begann sich zu füllen.

Einer der Kunstreiter erkannte sie als Leute vom Handwerk an gewissen Kleinigkeiten, die den Gymnastiker auch in Zivil verraten, an dem rhythmischen Gleichgewicht der Bewegungen, dem Wiegen des Oberkörpers in einem Paletot ohne Weste, dem Kreuzen der verschränkten Arme mit den Ellenbogen in den Händen. Er begann alsbald mit ihnen zu reden, gab ihnen Auskünfte und nannte ihnen die Stunde, wo der Zirkusdirektor zu sprechen sei.

Und die Vorstellung begann.

Gianni war ganz Auge, ohne ein Wort zu sagen. Was Nello betraf, so entschlüpften ihm bei jeder Nummer Ausrufe wie: »Das machen wir auch! ... Könntest du das machen? ... Das kriegen wir in vierzehn Tagen auch fertig!«

Bei der Heimkehr hatten sie einige Mühe, ihr Hotel zu finden. Als sie sich ausgekleidet hatten, entschlüpfte Gianni dem Schwatzen seines Bruders, das dieser im Bett fortsetzte, mit der Erklärung, daß er sehr müde sei, und drehte den Kopf nach der Wand.

*

Als Nello am nächsten Morgen erwachte, überraschte er seinen Bruder, wie dieser, die Pfeife rauchend, im Fenster ihres Stübchens lehnte und auf irgend etwas acht zu geben schien, so aufmerksam, daß er sich nicht einmal umdrehte bei dem Geräusch, das Nello beim Ankleiden machte.

Ein wenig neugierig, spähte dieser über die Schulter des Bruders hin, was Gianni an der Mauer gegenüber so sehr fesseln könnte. Es war dies, durch einen Hof von fünfzehn Fuß Breite getrennt, eine Hausmauer, die mistfarben begann und rußfarben endete. An ihrer ganzen Außenfläche, fünf Stockwerke hoch, befanden sich allerhand Anbauten und Anhängsel, die aus dem finsteren Loche nach dem Tageslicht drängten. Zu unterst ein Laden, der mit mächtigen Eisenriegeln geschlossen war, wie ein Gewölbe im Ghetto, darüber eine kleine Galerie aus verfaultem Holze, auf der man mitten zwischen zerbrochenen Nachttöpfen einen Blumenstrauß in einer blechernen Milchkanne erblickte. Auf dem grünbemoosten Dache der Galerie war, so breit wie der Hof, aus Latten und alten Weingittern ein riesiger Kaninchenstall gezimmert, dessen weißes Herumhuschen zwischen Himmel und Erde sich von einem rotbraunen Hintergrund abhob, höher hinaus befanden sich Fenster von jeder Form und jedem Zeitalter, wie zufällig in die Mauer gebrochen, mit Netzen aus dicken Stricken, hinter denen kleine Gärtchen mit vergilbten Blumen in Bretterkästen wuchsen. Noch höher hinaus hing an der Mauer ein großer Weidenkorb zum Wärmen von Badewäsche, von dem Besitzer in einen Käfig verwandelt, in dem eine Elster herumflatterte. Endlich zu oberst neben einer Bodenluke und einer Dachrinne trocknete an einem Bindfaden ein Jaconettkleid mit rosa Punkten.

Und Nellos Blicke wandten sich nach Beendigung ihrer Forschung verwundert zu Gianni zurück, der, wie er merkte, nichts von alledem sah.

»Woran denkst du, Gianni?«

»Daran, zusammen nach London zu gehen.«

»Und der Zirkus?«

»Geduld, Junge ... In den Zirkus werden wir schon noch kommen ... später« ... entgegnete Gianni, in dem Stübchen auf- und abgehend. »Dir hat das im Zirkus nicht eingeleuchtet ... Dir hat die Vorstellung nichts von dem gesagt, was sie mir sagte ... Nun also: die Sachen, die wir auch machen, die machen die Engländer anders ... und besser ... ha, diese Engländer! ... eine feine Arbeit, nur an Ort und Stelle zu studieren! ... Die haben Fixigkeit in ihrer Kraft ... Bei uns ist wohl zu viel Verrenkung, zu viel Aufwand, um geschmeidig zu sein ... Und dabei verlieren wir vielleicht die Schnelligkeit im Zusammenziehen der Muskeln! ... Ja ... es ist komisch ... gestern war's, als ob mir plötzlich ein Licht aufginge, was wir in unserm Metier tun sollen ... Was wir beide tun müssen ... ha, Dummkopf, die anderen gestern ... das war, was der Vater gemacht hat und was wir machen! ... Jawohl, Geschichten, bei denen der Akrobat auch noch Schauspieler ist ... Und darin, Brüderchen, wenn du deine Eleganz dahinein legst ... weißt du, darin gibt's etwas Besseres für uns, als Luftsprünge zu machen ...«

Gianni bemerkte, wie sein Bruder das Gesicht zu einem traurigen Mäulchen verzog. »Na, und du, was sagst du dazu?« fragte er ihn.

»Daß du immer recht hast, Großer,« entgegnete Nello seufzend.

Gianni blickte seinen Bruder mit sprachloser Rührung an, die sich nur in dem unmerklichen Beben seiner Hände kundgab, als er sich eine neue Pfeife stopfte.

finis


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