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Die beiden Brüder führten ein ruhiges, solides, gleichmäßiges, beinahe enthaltsames Leben. Sie hatten keine Maitressen und tranken nur Wein mit Wasser. Ihre größte Zerstreuung war abends eine Promenade auf dem Boulevard, wobei sie an sämtliche Anschlagsäulen, eine nach der anderen, herantraten, um ihre Namen auf den Zetteln zu lesen – dann kehrten sie heim und gingen zur Ruhe. Die Ermüdung von ihrer Zirkusarbeit und den Übungen, die sie täglich zu Hause machten, um ihren Körper stets gelenkig und in Übung zu halten, damit ihre »Arbeit« nicht »steif« würde, die beständige Sorge um ihren Beruf und ihre Laufbahn als gymnastische Künstler, die stete Anspannung ihres Geistes beim Erfinden neuer Nummern für ihr Spiel, unterdrückte die fleischlichen Begierden der beiden jungen Leute und die Versuchung zu Ausschweifungen, die in ihrem arbeitsreichen, aber durch die körperliche und geistige Anstrengung nicht ganz ausgefülltem Leben lag. Auch erhielt sich in ihnen die rein italienische Tradition, die vor etwa zwanzig Jahren aus dem Munde des letzten auf römischem Boden lebenden Athleten gesprochen hatte, daß die Leute ihres Berufes sich einer »priesterlichen Enthaltsamkeit« befleißigen müßten, daß die Kraft sich in ihrer ganzen Fülle und mit all ihrer Elastizität nur dann ungeschmälert erhielte, wenn man den »Freuden des Bacchus und der Venus« entsagt – eine Tradition, die unmittelbar von den Ringern und den Muskelkünstlern des Altertums herstammte.
Und wenn diese Theorien und Vorschriften auch mit geringerer Autorität zu der Jugend Nellos sprachen, der leidenschaftlicher und vergnügungssüchtiger war, als sein älterer Bruder, so bewahrte der Jüngere doch unter seinen Kindheitserinnerungen, tief eingeprägt, wie alle Eindrücke der ersten Jugend, das Schreckbild des »unwerfbaren« Rabastens, wie er von dem Müller aus La Bresse auf beide Schultern geworfen dalag, ein Bild, das Nello sich fast abergläubisch immer wieder vergegenwärtigte, verbunden mit der Erinnerung an das körperliche und moralische Herunterkommen des unglücklichen Herkules nach jener Niederlage. Diese Erinnerung hatte den Jüngling zwei- oder dreimal vor Verführungen gerettet, in dem Augenblick, wo er im Begriff war, ihnen zu unterliegen.
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So hübsch Nello war und so oft alle, deren Beruf es erheischt, ihre klassischen Formen in Trikots zur Schau zu stellen, von galanten Kreaturen in Versuchung geführt werden, so war er doch andererseits durch die Freundschaft gefeit, die ihn mit seinem Bruder verknüpfte. Die Frauen, welcher Art sie auch seien, lieben die Busenfreundschaften zwischen Männern nicht; sie mißtrauen dem Quantum an Zuneigung, das der eine Freund ihnen mit Erlaubnis des anderen zuwenden wird; mit einem Worte, sie fürchten nicht ohne Grund die großen Männerfreundschaften. Überdies hatte Nello zu seinem Glück den Umstand gegen sich, daß er die Frauen, in deren Gesellschaft er sich befand, einschüchterte und verwirrte durch sein ironisches Lächeln, ein Lächeln, das von selbst und ungewollt spöttisch war, das nach dem Ausdruck der einen »so aussah, als ob er sich über die ganze Gesellschaft lustig machte«. Endlich – und es ist sehr heikel, dies auszudrücken, auch wird es wenig glaubhaft erscheinen – herrschte bei einigen Freundinnen seiner Freunde eine leichte Eifersucht auf die Art seiner Schönheit, auf das, was er sich von der weiblichen Schönheit angeeignet hatte. Einer der Kunstreiter, ein Schulreiter mit prallen Schenkeln in hirschledernen Reithosen, der momentan von einer sehr berühmten Dame der Halbwelt geliebt wurde, hatte Nello eines Abends zum Souper bei seiner Maitresse mitgenommen. Der Kunstreiter, der eine wirkliche Zuneigung für seinen Kollegen hegte, hatte wohl gemerkt, welch' kühle Freundlichkeit die Dame des Hauses während der Mahlzeit gezeigt hatte. Als Nello gegangen war, hatte er dessen Lob gesungen, worauf seine Angebetete mit dem Schwelgen der Frauen antwortete, die nicht mit der Sprache herauswollen und deshalb Gegenstände, die sie in den Händen haben, mißhandeln oder mit den Augen Dinge, welche nicht da sind, suchen. Er fuhr in seinen Lobeserhebungen fort, ohne daß die Dame das Schweigen brach. »Aber der Junge ist doch wirklich charmant, nicht wahr?« schloß er mit einem sehr akzentuierten Fragezeichen. Die Dame schwieg immer noch, mit dem Ausdruck eines Menschen, dessen wunderliche Gedanken sich nicht hervorwagen, mit noch immer träumerisch verlorenen Blicken und einfältig hin und her trippelnden Füßchen.
»Na, was wirfst du ihm denn vor?« fragte Nellos Freund schließlich ungeduldig.
»Er hat einen Frauenmund,« ließ die Geliebte des Schulreiters fallen.