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Siebenunddreißigstes Kapitel

Die peinigenden Schmerzen in den gebrochenen Gliedmaßen wichen bei Nello allmählich einem unbestimmten Mißbehagen und dem prickelnden Gefühl, das bei dem letzten Zusammenwachsen der Knochen entsteht. Der Jüngling begann wieder zu essen; er schlief des Nachts lange, und mit der Gesundheit kehrte auch seine Fröhlichkeit wieder, eine verhaltene Fröhlichkeit, die vom Glück der Genesung tief durchdrungen war. Der Chirurg nahm die Schienen ab, umwickelte das rechte Bein mit einer in Dextrin getränkten Bandage und bestimmte einen Tag, wo der Kranke das Bett verlassen durfte, um die ersten Gehversuche im Zimmer zu machen.

*

Endlich kam der ungeduldig erwartete Tag, an dem Nello aus der unbeweglichen, horizontalen Lage, in der er fast zwei Monate verbracht hatte, erlöst werden sollte. Gianni machte die Bemerkung, daß ihre Zimmer doch recht eng wären, und da es schönes Wetter war, schlug er ihm vor, seine ersten Gehversuche im Musikpavillon zu machen. Er ging selbst hinunter und fegte ihn aus, entfernte jeden Grashalm, jeden Kieselstein, auf dem sein Bruder hätte ausgleiten können. Dann erst brachte er Nello hinunter an den Ort, wo beide im vergangenen Sommer so reizend miteinander musiziert hatten. Und der jüngere Bruder begann zu gehen, während der Ältere an seiner Seite blieb, ihn Schritt für Schritt begleitete, stets bereit, ihn in seine Arme zu nehmen, wenn Nellos Beine schwach wurden oder er umkehren wollte.

»Es ist doch wirklich komisch,« rief Nello auf seinen Krücken aus, »ich fühle mich wieder wie ein kleines Kind ... als ob ich wieder anfinge, zu laufen ... zum ersten Male ... Ja, das Gehen ist doch wirklich sehr schwer, Gianni ... Wie dumm ... Es kommt einem so natürlich vor ... wenn man nicht die Beine gebrochen hat! ... Und dann, denkst du etwa, es sei leicht, mit den Dingern hier zu hantieren? ... O nein! ... Wenn ich auf Stelzen lief, ohne zu wissen, wie ... das ging besser ... Ich würde mich, weiß Gott, genieren, wenn Leute hier wären und mir zusähen ... Ich muß eine drollige Figur machen ... Oh! ah! ah! oh! Zum Teufel, ja, es ist, als ob die Erde nicht fest stände ... warte nur, das gibt sich noch ... das macht nichts ... Sie sind wie von Watte, meine armen Beine!«

Es war wirklich schmerzlich, zu sehen, wieviel Mühe und Anstrengung dieser junge Körper hatte, sich aus den unbeholfenen Füßen im Gleichgewicht zu halten, mit welch' zögernder Ängstlichkeit und leisem Schrecken er ein Bein vor das andere setzte oder vielmehr bei jedem Schritt das kränkere Bein voranstellte.

Aber Nello hatte sich in den Kopf gesetzt, um jeden Preis wieder zu gehen, und seine Beine nahmen ihre Gewohnheit, als Füße zu dienen, trotz ihrer Unsicherheit wieder an. Und dieser kleine Erfolg ließ die Augen des Verletzten vor Freude leuchten, und seine Lippen lachten, »Hilf mir, Gianni, ich falle!« rief er plötzlich zum Scherz, und als der Ältere erschreckt die Arme um ihn schlang und dabei seine Wange Nellos Mund näherte, küßte dieser die Wange mit einem kleinen Biß, wie ein junger Hund.

Der Abend war voller Frohsinn. Nello plauderte heiter und erklärte, er würde, noch ehe vierzehn Tage um wären, die Krücken von der Brücke von Neuilly in die Seine werfen.

*

In dem Musikpavillon hatten fünf oder sechs Gehübungen stattgefunden, erfüllt von dem Glück des Augenblicks und dem Vertrauen auf den kommenden Tag. Aber nach Verlauf einer Woche wurde Nello gewahr, daß er noch um kein Haar besser ging, als das erstemal. Und es verstrichen vierzehn Tage, ohne daß er mehr Festigkeit und Sicherheit verspürte. Bisweilen versuchte er, ohne Krücken zu gehen; doch sofort befiel ihn das Gefühl der Angst, des wirren und etwas verstörten Schreckens, das man auf dem Gesicht von Kindern liest, wenn sie auf zwei ihnen entgegengestreckte Arme zulaufen, sich plötzlich nicht weiterwagen und zu weinen anfangen wollen; ein Schreckensgefühl, in dem er sofort wieder nach den eben abgelegten Krücken griff, mit dem festen Zupacken eines Ertrinkenden, dessen Hand eine Stange umklammert.

Je weiter der Monat vorrückte, in dem Nello zu gehen begonnen hatte, dessen ernster, schweigsamer und trauriger wurden die täglichen Gehversuche.

finis


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