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IV

Tags darauf, gleich am frühen Morgen, übergab Wera ihrer treuen Marina einen Brief zur Besorgung, auf den sie gleich Antwort bringen sollte. Als diese eingetroffen war, wurde sie heiterer, machte einen Spaziergang am Wolgaufer und bat die Großtante um Erlaubnis, über den Strom zu Natalja Iwanowna fahren zu dürfen. Sie nahm von allen Abschied, lächelte, als sie abfuhr, Raiskij zu und sagte ihm, sie würde ihn nicht vergessen.

Am übernächsten Tage brachte ein Wolgafischer frühmorgens einen Brief von Wera mit ein paar freundlichen Worten. Sie gebrauchte darin die Anrede »mein lieber Bruder«, sprach von Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, von zarten Empfindungen, die emporgekeimt wären usw. Und Raiskij war hochbeglückt von diesen traulichen Worten. Der Brief wirkte auf ihn geradezu berauschend, er lernte ihn sogar auswendig. Sein Selbstvertrauen und sein Glaube an Wera kehrten wieder in sein Herz zurück. Sie erschien ihm jetzt wie in einem verklärenden Licht der Wahrheit und Reinheit, der Grazie und Milde.

Er vergaß alle Zweifel und Sorgen, den blauen Brief und die Schlucht, eilte an seinen Schreibtisch und schrieb eine kurze, liebenswürdige Antwort, die er Wera schickte, während er selbst sich in die chaotischen Empfindungen seiner Leidenschaft versenkte. Da er Wera nicht vor Augen hatte, trat an Stelle der angespannten Beobachtung ihres Tuns ein stilles Sinnen über all die Einzelzüge ihres Wesens, über das, was er schon gesehen und beobachtet hatte. Und aus diesem Sinnen heraus begann er dann eifrig die Schlüssel zu ihren Geheimnissen zu suchen.

Er suchte und forschte, er bemühte sich, das, was ihm an seinem Ideal noch dunkel war, in helleres Licht zu setzen, er suchte festzustellen, was er von Wera erwartete und verlangte, was ihr fehlte, um ein vollendetes Bild harmonischer Schönheit zu sein. Er hielt eine Rückschau in sein eigenes Leben und suchte sich darüber klarzuwerden, was er an seinen früheren Idealen vermißt, was ihnen zur Vollkommenheit noch gefehlt hatte.

Alles, was er an weiblicher Unbildung und Gemeinheit kennengelernt, was weder Putz noch Schminke, weder Gold noch Brillanten zu verdecken vermocht hatten, schwebte an seinem Geist vorüber. Er erinnerte sich all der Leiden und bitteren Kränkungen, die ihm in den Kämpfen des Lebens zugefügt worden waren. Er sah seine Ideale von der Höhe herabstürzen, sah sich selbst zugleich mit ihnen fallen und wieder aufstehen und hörte, wie er, ohne zu verzweifeln, immer wieder von den Frauen wahre Menschlichkeit und Harmonie der äußeren und inneren Schönheit verlangt hatte.

Ein Vorgefühl sagte ihm, daß dies der letzte Versuch sei, daß er entweder in Wera das endgültige Ideal der Frau finden oder das Suchen nach diesem Ideal für immer aufgeben und seine Diogeneslaterne auslöschen müsse.

Es peinigte ihn, daß er an ihr mitten in all dem Licht den dunklen Fleck der Lüge sah. Was bedeutete dieses rätselhafte Beginnen, dieses Verschwinden für ganze Tage, diese geheimnisvolle Korrespondenz, das Versteckenspielen und Verschweigen, hinter dem sich vielleicht eine grobe Intrige, oder eine verhängnisvolle Leidenschaft, oder ein dunkles Geheimnis, oder sonst irgend etwas Rätselhaftes verbarg?

»Sie ist eigenwillig und stolz«, sagt die Großtante. »Ich will frei und unabhängig sein«, versichert sie selbst und gefällt sich dabei in hundert Heimlichkeiten und Listen. Ein wahrhaft stolzer und unabhängiger Wille fürchtet sich vor niemandem, sondern schreitet offen auf dem einmal erwählten Weg daher, verachtet alle Lüge und alles kleinliche Tun und trägt mit tapferem Sinn alle Folgen eines kühnen, eigenwilligen Schrittes. ›Bekenne dich zu diesem Schritt, versteck dich nicht – und ich werde mich beugen vor deiner Offenheit und Geradheit!‹ sagte er im stillen. Eine Frau, die eigenwillig sich selbst durchzusetzen sucht, darf ihre eignen Begriffe von Liebe, Tugend und weiblicher Ehre haben, aber sie muß auch den Mut besitzen, alles Schlimme zu ertragen, das ihr daraus erwächst. Und Wera forderte und predigte zwar die Freiheit, die Unabhängigkeit des Denkens und Empfindens, aber sie handelte nicht dieser Forderung gemäß, sie war versteckt, sie belog ihn, belog die Großtante, und das ganze Haus, die ganze Stadt, die ganze Welt!

Nein, das ist nicht das Weib, wie er es sich als ideal, als vollendet vorstellt! Es wäre für die Frau selbst, ja für die Menschheit verhängnisvoll, wenn die Wahrheit und Aufrichtigkeit der Frau vom Zufall abhängen sollte, wenn sie nur demjenigen gegenüber wahr und ehrlich sein sollte, den sie liebt, wenn sie es nur dann sein sollte, wenn sie liebt. Falls nun die Natur ihr die Schönheit versagt und Leidenschaft und Liebe ihr fernbleiben – soll es dann gleichgültig sein, wie sie sich zur Wahrheit und Lüge, zur Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit stellt?

›‹Die Lüge‹, sagte er sich, ›ist einer der Flüche, die der Satan in die Welt geschleudert hat! Doch nein, sie kann nicht lügen!‹ tröstete er sich dann wieder, versank in Nachdenken und stellte sich die edle, kluge Schönheit ihres Gesichts vor, die doch ein Ausdruck ihrer Seele war. Welche Wahrheit prägte sich in diesem Gesicht aus!

›Die Schönheit ist selbst eine Macht – warum sollte sie zu einer andern, so wenig zuverlässigen Macht, wie die Lüge es ist, ihre Zuflucht nehmen? Und doch!‹ dachte er verzagt, in seiner verzweifelten Suche nach der Wahrheit. Warum tauchte nun so plötzlich dicht vor seiner Nase dieses ›und doch‹ auf? Und er gab sich Antwort auf diese Frage. Es wuchs einfach aus seinen Erfahrungen, aus der Fülle weiblicher Porträts, die er kennengelernt, aus all den Liebschaften, die er im Laufe der Jahre gehabt hatte ... Liebschaften!

Schamröte übergoß sein Gesicht, und er bedeckte es mit den Händen.

›Liebschaften! Was sind sie anders, als Begegnungen ohne Liebe‹, sagte er sich und empfand Höllenqualen. ›Welcher Fluch ruht doch auf den Sitten und Anschauungen der Menschen! Wir, das starke Geschlecht, die Väter, Gatten, Brüder und Söhne dieser Frauen, sprechen mit finsterer Miene unser Verdammungsurteil über sie aus, wenn sie sich wegwerfen, sich im Schmutz wälzen, gleich den Katzen über die Dächer laufen. Wir verdammen sie – und verführen sie zugleich. Wir sehen den Balken im eigenen Auge nicht, verzeihen voll Nachsicht unsere eigene Schwäche, die an diesen ... Hundeliebschaften ... Gefallen findet! Wir tragen offen vor aller Welt unsere Schmach, unsere Verirrung zur Schau, die wir an der Frau voll Empörung verdammen! Hier ist das Feld, auf dem beide Geschlechter noch das große Werk der sittlichen Erziehung an sich zu vollenden haben, damit sie in voller Ebenbürtigkeit nebeneinanderher gehen und nicht die einen den Hunden, die andern den Katzen und alle miteinander den Affen gleichen! Dann wird auch der sittliche Zwiespalt zwischen den beiden Geschlechtern aufhören, diese Begriffsverwirrung, diese Hölle von Täuschung, Vorwurf und Verrat. Dann wird es nicht mehr diese doppelte Moral geben, welche die Männer ausgeklügelt haben: die eine zum eigenen Gebrauch, die andere für die Frauen!‹

Er versenkte sich ganz in die Erinnerungen an die entschwundenen Jugendjahre und lag lange in qualvollem Grübeln auf dem Diwan. ›Welche Perspektive von Roheit und Lüge, welche Vergiftung des Lebens! Und ganze Jahrhunderte sind verflossen, ganze Generationen hingegangen in dieser Flut, diesem Abgrund sittlicher und physischer Verderbnis – und niemand und nichts hat diesen trüben Strom blinder Lasterhaftigkeit aufzuhalten vermocht! Die Unsittlichkeit hat sich ihre eigenen Bräuche, ja fast Prinzipien geschaffen, und sie herrscht in der menschlichen Gesellschaft, in dem Chaos der Begriffe und Leidenschaften, in der Anarchie der Sitten.‹

Dann wandte sich seine Vorstellung wieder Wera zu – er suchte in ihr das strahlende Licht der Reinheit und Wahrheit, vergegenwärtigte sich ihr unverdorbenes Gefühl, ihr gerades, schlichtes Denken, ihre geistige und körperliche Schönheit, die erst in ihrer Vereinigung die wahre Schönheit ergaben.

Er prüfte und sondierte wie ein Inquisitor jeden ihrer Schritte, er zitterte abwechselnd vor Freude oder versank in dumpfe Betrübnis, je nachdem das Ergebnis für sie günstig oder ungünstig war, und er ging aus dem Abgrund dieser Analyse weder hoffnungsloser noch zuversichtlicher hervor, als er vorher gewesen. Er schwebte immer noch in derselben qualvollen Ungewißheit, wie ein Badender, der Gott weiß wie tief unter Wasser geschwommen zu sein glaubt und in Wirklichkeit an derselben Stelle wieder emportaucht.

Er suchte die Rätselhaftigkeit ihres Benehmens ihm gegenüber zu rechtfertigen und gedachte seiner eigenen, ungestümen Zudringlichkeit: wie er plötzlich sich gleichsam ein Recht an ihrer Schönheit angemaßt, wie er sein Erstaunen, seine Verehrung, sein Entzücken dieser Schönheit gegenüber zum Ausdruck gebracht; er erinnerte sich, wie sie zuerst nur lässig, dann aber um so energischer sich seiner erwehrt, wie sie über seine Leidenschaft gespottet und nicht an sie geglaubt hatte und noch heute in dieser Ungläubigkeit verharrte, wie sie ihn von ihrer Person und von diesen Örtlichkeiten fernzuhalten, ihn zur Abreise zu bestimmen gesucht, während er förmlich gebettelt hatte, doch noch bleiben zu dürfen.

›Ja, sie hat recht, ich bin schuld!‹ dachte er und erging sich in bitteren Selbstvorwürfen.

Dann erinnerte er sich, wie er allmählich seine Leidenschaft zu beschwichtigen versucht hatte, indem er ebendieser Leidenschaft nachgab und sie wie einen bissigen Köter streichelte, um sie freundlicher zu stimmen und zum Schweigen zu bringen. Warum hatte sie ihm damals den Namen ihres Idols nicht genannt, da sie doch überzeugt sein mußte, daß ihm dies alle Hoffnungen genommen und seine Leidenschaft im Handumdrehen zum Schweigen gebracht hätte? Was hätte sie das gekostet? Nichts! Sie wußte, daß er ihr Geheimnis bewahren würde, und doch schwieg sie damals, als wollte sie absichtlich seine Leidenschaft aufstacheln. Warum hatte sie es damals nicht gesagt? Warum hatte sie ihn nicht abreisen lassen, sondern ihn sogar gebeten, zu bleiben, während er bereits Jegorka befohlen hatte, den Reisekoffer vom Boden zu holen? Sie kokettierte mit ihm – sie täuscht ihn also! Sie verlangte auch, er solle es um keinen Preis der Großtante sagen, sie nahm ihm sein Ehrenwort darauf ab – also belog sie auch die Großtante, wie sie alle belog!

›Sie, sie ist schuld!‹

Er begann wieder sein Tagebuch zu führen. Eine Flut von Poesie, von Improvisationen ergoß sich – voll zärtlicher Rührung und Hingebung, voll lebendiger, eifersüchtiger Leidenschaft mit all ihren stürmischen, gluterfüllten Klagen, ihren Liedern, Qualen und Seligkeiten.

Die Liebe selbst stattete er mit allen Reizen aus, die nur die menschliche Phantasie ersinnen konnte, er beseelte sie mit sittlichem Empfinden und sah in diesem Empfinden, wie in der Vernunft – »oder vielleicht in noch höherem Grade als in der Vernunft«, schrieb er –, die unüberbrückbare Kluft, die den Menschen von allen übrigen Organismen trennt. »Die große Liebe ist mit tiefem Verstand untrennbar verbunden. Der weite Blick des Verstandes entspricht der Tiefe des Herzens, darum erreichen auch nur Menschen mit großem Herzen die höchsten Gipfel der Humanität und sind zugleich die größten und weitblickendsten Geister.« So orakelte er in seinen Aufzeichnungen. Ständig wechselten die Farben dieses Kaleidoskops der Liebe, das er als Künstler wie als zärtlich Liebender entwarf, und auch seine eigene Stimmung wechselte ständig, indem er bald zu den Füßen seines Idols im Staube lag, bald hoch aufgerichtet dastand und in lauten Lachsalven seine Herzensqualen und Glücksträume verhöhnte. Nur seine Liebe zum Guten, seine gesunde Auffassung vom Wesen der Sittlichkeit blieb von jedem Wechsel unberührt. »›Glaube an Gott, wisse, daß zwei mal zwei vier ist, und sei ein anständiger Mensch‹, sagt Voltaire irgendwo«, schrieb er, »und ich sage: Eine Frau mag lieben, wen sie will, mag auf irdische Art lieben – wenn sie nur nicht auf Katzenart, nicht aus Berechnung liebt und die Liebe zum Betrug mißbraucht!«

»Eine ehrenhafte Frau!« schrieb er. »Wer dies verlangt, verlangt alles. Ja, das ist in der Tat alles. Und das nicht verlangen, heißt gar nichts verlangen, heißt die Frau beleidigen, ihre menschliche Natur erniedrigen, das Geschöpf Gottes in ihr mißachten, heißt ihr ohne weiteres, in rücksichtsloser Weise, die Gleichberechtigung mit dem Mann absprechen und ihr damit zu berechtigter Beschwerde Anlaß geben. Die Frau ist die Krone der Schöpfung – gewiß doch, doch nicht als bloße Venus. Dem Kater erscheint auch die Katze als Krone der Schöpfung, als die Venus der Katzenwelt. Die Frau mag Venus bleiben – aber sie soll eine vernunftbeseelte, geistig erweckte Venus sein, die Schönheit der Form soll in ihr mit seelischer Schönheit vereint sein, sie soll zugleich ein liebendes und ein ehrenhaftes Wesen sein – dann verkörpert sie das Ideal weiblicher Größe und die Harmonie der Schönheit!«

Alle diese grundtiefen Weisheitssprüche lagerte Raiskij in seinem Tagebuche ab, in der Hoffnung, daß Wera es, sobald sie wieder daheim wäre, lesen würde. Mit ihr selbst aber wechselte er auch weiterhin kurze, freundschaftliche Briefe.

Zuweilen warf er die Feder hin und wandte sich der Musik zu. Er lebte dann ganz im Reich der Töne und lauschte voll Entzücken, wie sie ihm das Lied seiner Leidenschaft, den Hymnus der Schönheit sangen. Er verspürte Lust, diese Töne festzuhalten, sie in harmonische, musikalische Formen zu bringen.

Aus der Wogenflut der Töne erwuchs in seiner Phantasie etwas wie ein musikalisches Poem; er bemühte sich, das Geheimnis des musikalischen Schaffens zu ergründen, quälte sich drei Tage lang während der Morgenstunden ab und schrieb ein dickes Heft Notenpapier voll. Und als er dann am vierten Morgen das, was er niedergeschrieben, spielen wollte, ergab sich, daß es nichts weiter als eine armselige Polka war, doch von so düsterer Art, daß er selbst darüber Tränen vergoß, als er sie spielte. Er wunderte sich, daß die kühnen Improvisationen, die er zu Papier gebracht hatte, ein so dürftiges Resultat ergeben hatten, und gestand sich seufzend ein, daß die Phantasie allein nicht imstande sei, die musikalische Technik zu ersetzen.

›Wenn es mir nun mit meinem Roman ebenso geht – was dann?‹ dachte er. ›Doch jetzt habe ich keine Zeit, an den Roman zu denken, der kommt später dran; jetzt ist in meinem Gemüt nur für Wera Raum, jetzt herrscht dort die Leidenschaft, das Leben – und zwar kein künstliches, sondern das wirkliche, echte Leben!‹

Er wandelte, sobald er einen Anfall seines Glücksgefühls bekam, in Haus und Garten, in Dorf und Flur wie ein richtiger Märchenheld umher und spürte so viel Kraft in Kopf, Herz und Nerven, daß alles rings um ihn nur so jubelte und blühte.

Sein Geist war so fruchtbar, seine Phantasie so produktiv, seine Seele so empfänglich für alles Gute und Schöne. Er floß über von Liebe – nicht nur zu Wera allein, sondern zu allem, was da lebte und webte. Auf alles fielen die Strahlen seiner Sanftmut und Freundlichkeit, seiner Fürsorge und Aufmerksamkeit.

Er hatte in dieser Stimmung ein feines Empfinden für die Bedürfnisse des Nächsten, des Unglücklichen, und er beeilte sich, ihm die helfende Hand zu reichen. Selbst die Kreatur stand seinem Herzen näher. Dort, jenen Käfer, der über den Weg kriecht, nimmt er fürsorglich auf und setzt ihn auf den Strauch, damit ihn der Fuß des Vorübergehenden nicht zertrete.

Er fühlte sich in diesen Augenblicken des Glücks wohl befähigt, die Madonna des Raffael zu malen, wenn sie nicht schon gemalt wäre, oder die Venus von Milo, den Apollo des Belvedere zu formen, die Peterskirche von neuem zu errichten.

Überkamen ihn aber seine düsteren Stunden, dann erschien er mager, bleich und kränklich, aß nicht, irrte durch die Fluren, ohne etwas zu sehen, vergaß den Weg und mußte die Bauern, die ihm begegneten, fragen, ob Malinowka rechter oder linker Hand liege.

Dann war er wortkarg gegenüber der Großtante und Marfinka, grob gegen die Dienstboten, lag bis zum Morgengrauen schlaflos im Bett. Wenn er einschlief, war sein Schlummer unruhig und dumpf und die Qual des Tages fand in seinen Träumen ihre Fortsetzung.

Zuweilen blickte er wie abwesend um sich, als wollte er alle Welt mit den Augen fragen: ›Wo bin ich, und was für Menschen seid ihr?‹

Marfinka begann sich vor ihm ein wenig zu fürchten. Er schloß sich zumeist in seinem Zimmer ein, saß dort entweder über seinem Tagebuch, oder ging im Selbstgespräch auf und ab, oder setzte sich ans Klavier, um, wie er sich malerisch ausdrückte, den ›Schaum der Leidenschaft aufzuwerfen‹.

Jegorka hatte in die tapezierte Holzwand, die Raiskijs Kabinett vom Korridor trennte, ein Loch gebohrt und beobachtete ihn von da aus.

»Ich sag euch, Mädelchen, ich kann euch etwas Schönes zeigen!« sagte er und spuckte durch die Zähne nach der Seite. »Kommen Sie mal mit, Pelageja Petrowna, zu unserm Herrn, zu Boris Pawlowitsch, da können Sie mal durchs Loch gucken; in kein Tiater brauchen Sie zu gehen, so 'ne Komödie führt er da auf!«

»Ach, dazu hab ich gerade Zeit!« sagte die Angesprochene, die eben einen glühenden Bolzen ins Bügeleisen einlegte.

»Und Sie, Matrjona Semjonowna?«

»Wer soll denn das Zimmer von Marfa Wassiljewna aufräumen? Du vielleicht?«

»Ist das 'ne Bande – keine will mitgehen!« sagte Jegorka ärgerlich und spuckte wieder durch die Zähne aus. »Und ich hab mich nun gequält und gebohrt!«

»Zeig doch mal, was da zu sehen ist!« sagte die neugierige Natalja, eine von Tatjana Markownas Spitzenklöpplerinnen.

»Sie sind ein reizendes Mädchen, Natalja Fadejewna,« versetzte Jegorka zärtlich. »Wie ein Fräulein, und ich würde Sie nicht bloß durchs Loch gucken lassen, sondern Ihnen Hand und Herz antragen, wenn Sie nur ... eine andere Fratze hätten!«

Die andern Mädchen lachten, während Natalja beleidigt war.

»Frecher Kerl!« sagte sie zornig und verließ das Zimmer. »Ein richtiger frecher Kerl!«

Jegorka kicherte hinter ihr her und bemühte sich, die beiden andern doch noch zum Mitgehen zu bewegen, was ihm auch schließlich gelang. Nacheinander guckten sie nun durch das Loch in Raiskijs Stube.

»Seht doch, seht doch, wie er weint! Er schwimmt richtig in Tränen!« sagte Jegorka und ließ bald die eine, bald die andere durch das Loch gucken.

»Er weint wirklich, der Ärmste!« sagte Matrjona mitleidig. »Lachte er nicht eben? Ja doch, wirklich, er lacht! Seht doch, seht!«

Alle drei duckten sich und kicherten in sich hinein.

»Den hat's ordentlich gepackt!« meinte Jegorka. »Er scheint, müßt ihr wissen, in Wera Wassiljewna verschossen.«

Pelageja versetzte ihm einen kräftigen Rippenstoß.

»Was schwatzt du da, du Heide?« versetzte sie ängstlich flüsternd. »Schwindle, soviel du willst, nur laß unsere jungen Fräulein in Ruhe! Wenn's die Gnädige hört ... kommt, wir wollen weggehen!«

Raiskij aber weinte und lachte zugleich und spielte in der Tat »Tiater«, denn es war mehr der von seinen Nerven gefolterte Künstler als der Mensch, der da lachte und weinte.

Er suchte, wenn er seine Aufzeichnungen machte, Weras Bild in möglichst reinen Formen festzuhalten, und unbewußt und unverstellt entwarf er damit zugleich das Bild seiner eigenen Leidenschaft. Er spiegelte darin, zuweilen in naiver, komischer Form, die edlen Seiten seiner Seele wider und die Forderungen, die diese Seele an den Mitmenschen, insbesondere an die Frau stellte.

»Was schreibst du denn eigentlich in einem fort?« fragte ihn Tatjana Markowna. »Ein Drama, oder noch immer den Roman?«

»Ich weiß es nicht, Tantchen. Ich schreibe einfach das Leben ab – ob's ein Roman wird, oder was sonst, kann ich noch nicht sagen.«

»Wenns Kindchen nur ein Spielzeug hat – bloß weinen soll es nicht«, versetzte sie, und ihr Sprüchlein bezeichnete den Wert seiner Schriftstellerei in der Tat ziemlich richtig. Die Zeit verging ihm, die schwellende Kraft seiner Phantasie fand auf natürlichem Wege ihre Auslösung, und er sah nichts vom Leben, hatte keine Langeweile, strebte nirgendshin und wünschte nichts.

»Warum schreibst du eigentlich immer in der Nacht?« fragte ihn Tatjana Markowna. »Ich steh eine Todesangst aus. Wenn du einmal über deinem Drama einschläfst und die Kerze umfällt? Hat man so was gesehen. Bis ins Morgengrauen hinein zu schreiben! Du ruinierst dich ja. Du siehst manchmal so gelb aus, wie eine überreife Gurke – guck doch mal in den Spiegel!«

Er sah in den Spiegel und erschrak in der Tat über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. An den Schläfen und um die Nase herum zeigten sich gelbe Flecke, und in dem dichten schwarzen Haar schimmerte es merklich weiß.

»Warum muß ich nun gerade brünett sein, warum bin ich nicht blond?« murrte er. »So muß ich um zehn Jahre früher altern! Aber das macht nichts, Tantchen, achten Sie nicht weiter darauf. Lassen Sie mir nur meine Freiheit. Ich finde eben keinen Schlaf. Wie gern möcht ich manchmal schlafen, aber es will nicht gehen.«

»Nun redet auch er schon von Freiheit, genau wie Wera!«

Sie seufzte.

»Was ihr nur mit eurer Freiheit habt – als ob euch die Großtante in Ketten hielte! Schreib meinetwegen, soviel du willst – aber nicht in der Nacht, ich komme sonst aus der Angst nicht heraus«, fügte sie hinzu. »Sooft ich hingucke – immer seh ich Licht in deinem Fenster.«

»Ich bürge dafür, Tantchen, daß kein Feuer entsteht – wenn ich auch selbst vom Feuer verzehrt werde.«

»Daß du den Pips kriegen mögest!« fiel sie ihm ärgerlich ins Wort.

Sie war eben mit irgendeiner Näherei für Marfinkas Aussteuer beschäftigt, obwohl ein ganzes Dutzend Näherinnen bereits daran arbeiteten. Sie konnte eben niemanden arbeiten sehen, ohne selbst mit Hand anzulegen, wie Wikentjew mitlachen und mitweinen mußte, sobald er jemanden lachen oder weinen sah.

»Fordere das Schicksal nicht heraus, lade dir kein Unglück auf den Hals!« sagte sie warnend. »Bedenk, die Zunge ist des Menschen schlimmster Feind!«

Er sprang plötzlich vom Sofa auf, eilte zum Fenster und lief dann zur Tür hinaus, in den Hof.

»Ein Bote kommt, mit einem Brief von Wera!« rief er im Weggehen.

»Nun seh einer! Als ob sein leiblicher Vater zu Besuch käme, so glücklich ist er! Und wieviel Lichte bei dieser Romanschreiberei draufgehen: vier Stück in jeder Nacht!« murmelte die sparsame Großtante vor sich hin.


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