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Zwei Tage vergingen. Des Morgens sah Raiskij Wera fast gar nicht unter vier Augen. Sie erschien zum Mittagessen, trank abends zusammen mit den andern den Tee, sprach über allerhand gleichgültige Dinge und schien nur zuweilen ein wenig ermüdet.
Raiskij hatte wieder seinen Roman vorgenommen und allerhand Eintragungen gemacht, dann hatte er Koslow besucht und war auf einen Augenblick beim Gouverneur und noch zwei oder drei Leuten in der Stadt gewesen, deren nähere Bekanntschaft er gemacht hatte. Den Abend verbrachte er im Garten, wo er bemüht war, Wera, ihrer Bitte gemäß, nicht einen Augenblick aus den Augen zu lassen, und wo er auf jeden Laut in der Schlucht unten lauschte.
Er saß auf der Bank am Rande der Schlucht oder ging in den Alleen spazieren, und erst gegen Mitternacht hörte sein anstrengendes Amt, diese stetige Erwartung, im nächsten Augenblick den Schuß zu hören, auf. Er wünschte nun schon, ihn zu hören, damit ihm Gelegenheit geboten würde, Wera energische Hilfe zu leisten und sie für immer aus ihrer Not zu erretten.
Doch die beiden Tage waren, wie gesagt, ganz ruhig vergangen; bis zum Ablauf der Frist, die sie selbst genannt hatte, waren noch fünf Tage. Raiskij nahm an, daß Wera an Marfinkas Geburtstag, der in zwei Tagen stattfinden sollte, sich schwerlich von den Ihrigen trennen würde – und wenn dann am Tage darauf Marfinka mit Wikentjew und dessen Mutter, wie es geplant war, sich nach Koltschino begab, würde es Wera kaum über sich gewinnen, die Großtante allein zu lassen. So würde nach seiner Annahme die Woche dahingehen und mit ihr auch die finstere Wolke verschwinden.
Beim Mittagessen bat Wera ihn, doch am Abend zu ihr zu kommen; sie wollte ihm, sagte sie, einen Auftrag geben.
Als er zu ihr hinaufkam, war sie eben im Begriff, einen Spaziergang zu machen. Sie schien geweint zu haben, ihre Nerven waren offenbar stark angegriffen, ihre Bewegungen hatten etwas Welkes, ihr Gang etwas Schleppendes. Er reichte ihr den Arm, und da sie vom Garten aus den Weg nach dem Felde einschlug, glaubte er, sie wolle zur Kapelle, und er führte sie über die Wiese und die Felder dorthin.
Sie folgte ihm schweigend, in tiefer Nachdenklichkeit, aus der sie erst vor der Kapelle erwachte. Sie trat ein und schaute auf das nachdenkliche Gesicht des Heilands.
»Ich glaube, Wera, du hast einen Helfer, der stärker ist als ich«, sagte Raiskij, am Eingang der Kapelle stehenbleibend. »Du bedarfst meines Beistandes nicht, du wirst auch ohne mich nicht dorthin gehen.«
Sie nickte beipflichtend mit dem Kopf und schien selbst in dem Blick des Gekreuzigten Kraft und Ermutigung, Stütze und Hilfe zu suchen. Aber dieser Blick blieb nachdenklich und ruhig wie immer, als sähe er teilnahmslos auf ihren Kampf, ohne ihr zu helfen oder sie zurückzuhalten.
Ein Seufzer entstieg ihrer Brust.
»Ich gehe nicht«, sagte sie leise, doch bestimmt, während sie die Augen von dem Bild abwandte.
Weder ein Gebet noch ein Begehren vermochte Raiskij von ihrem Gesicht abzulesen. Ein Ausdruck tiefer Müdigkeit und Gleichgültigkeit, vielleicht auch stiller Demut lag auf ihrem Antlitz.
»Wir wollen nach Hause gehen, du bist so leicht angezogen«, sagte Raiskij.
Sie stimmte ihm bei.
»Was für ein Auftrag war es denn, den du mir geben wolltest?« fragte er.
»Ach ja«, fiel ihr ein, und sie holte ihr Portemonnaie hervor.
»Holen Sie mir doch, bitte, beim Juwelier Schmidt den Schmuck, den ich vorige Woche als Geburtstagsgeschenk für Marfinka ausgesucht habe. Er sollte noch einige Perlen einsetzen, die ich ihm aus meinem Schmuckkasten gab, und ihren Namen eingravieren. Hier ist das Geld.«
Er nahm das Geld, das sie ihm reichte.
»Das ist aber noch nicht alles. Am Geburtstage selbst, also übermorgen, ganz zeitig früh ... ist's Ihnen aber nicht zu früh, um acht Uhr aufzustehen?«
»Durchaus nicht; wenn du es wünschst, bleibe ich die ganze Nacht auf und gehe überhaupt nicht schlafen.«
»Gut also – dann gehen Sie doch dahin, nach der großen Gärtnerei, die Ihnen ja bekannt ist. Ich habe mit dem Gärtner schon gesprochen, suchen Sie mir im Gewächshaus die schönsten Blumen, die er hat, zu einem Strauß zusammen und schicken sie ihn mir auf mein Zimmer, bevor Marfinka aufsteht. Ich verlasse mich auf Ihren Geschmack.«
»Sieh doch! Ich mache also Fortschritte in deinem Vertrauen, Wera!« sagte Raiskij lachend. »Jetzt verläßt du dich schon auf meinen Geschmack und auf mein Ehrenwort, und sogar Geld hast du mir anvertraut.«
»Ich würde das alles selbst tun, aber ich kann nicht, ich fühle mich so schwach, so müde!« fügte sie hinzu, während sie über seinen Scherz zu lächeln versuchte.
Er holte am nächsten Morgen den bestellten Schmuck von Schmidt ab und überlegte, was für Blumen zu dem Strauß für Marfinka verwandt werden sollten. Es war nicht leicht, die Auswahl zu treffen, denn die Jahreszeit war bereits stark vorgerückt, und die meisten Blumen waren verblüht.
Dann suchte er eine Damenuhr mit Emaildeckel nebst goldener Kette aus, die er selbst Marfinka schenken wollte. Er mußte zu diesem Zweck bei Tit Nikonytsch vorsprechen und sich auf einen Tag zweihundert Rubel leihen, um dem Kampf aus dem Wege zu gehen, den es gekostet hätte, wenn er das Geld von der Großtante verlangt haben würde; sie hätte ihn nicht nur einen Verschwender gescholten, sondern auch aller Wahrscheinlichkeit nach sein Geheimnis vorher verraten.
Bei Tit Nikonytsch sah er einen prächtigen Damentoilettetisch, mit rosa Mull und Spitzen garniert, mit einem Spiegel, der von einer Porzellangirlande aus Amoretten und Blumen umrankt war, ein Kunstwerk von feinem Geschmack aus der Manufaktur von Sèvres.
»Was ist das? Woher haben Sie dieses kostbare Stück?« sagte er, während er mit bewunderndem Künstlerauge die Gruppen der Amoretten, die Blumen und Farben betrachtete. »Das ist ja herrlich!«
»Es ist für Marfa Wassiljewna«, sagte Tit Nikonytsch mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Ich freue mich sehr, daß es Ihnen gefällt – Sie sind ein Kenner. Ihr Geschmack bürgt mir dafür, daß das Geschenk in den Augen des lieben Geburtstagskindes Gnade finden wird. Was für ein treffliches Mädchen, und wie reizend! Diese Rosen hier kann man wirklich als ihr Ebenbild bezeichnen. Sie wird in diesem Spiegel ihr bezauberndes Gesichtchen sehen, und die kleinen Liebesgötter werden ihr zulächeln.«
»Woher haben Sie denn diese Rarität?«
»Ich bitte Sie, jedenfalls vor morgen weder mit Tatjana Markowna noch mit Marfa Wassiljewna davon zu reden«, sagte Tit Nikonytsch, ohne auf Raiskijs Frage zu achten.
»Das kostet doch wenigstens tausend Rubel! Aber wo haben Sie es herbekommen?«
»Fünftausend Rubel in Assignaten hat mein seliger Großpapa dafür bezahlt, es gehörte zur Mitgift meiner Mutter. Es wurde bis jetzt auf meinem Erbgut bewahrt, im Schlafzimmer der Verstorbenen. Ich habe es im vorigen Monat ganz heimlich hierher transportieren lassen; hundertfünfzig Werst weit wurde es von sechs Leuten, die sich gegenseitig ablösten, auf den Armen getragen, damit es nicht beschädigt würde. Ich habe nur den Mull erneuern lassen, die Spitzen sind gleichfalls alt – ganz vergilbt, sehen Sie doch! Die Damen schätzen das sehr, während unsereins nicht so viel Wert darauf legt«, fügte er lächelnd hinzu.
»Und was wird die Großtante sagen?« bemerkte Raiskij.
»Ohne Sturm wird es natürlich nicht abgehen, ich habe schon Angst, doch ich hoffe, in ihrer Herzensgüte wird sie mir verzeihen. Ich erlaube mir, zu bemerken, daß ich die beiden jungen Damen so herzlich liebe, als wenn sie meine eigenen Töchter wären«, fügte er gerührt hinzu. »Ich habe sie beide auf den Knien geschaukelt, habe sie mit Tatjana Markowna zusammen lesen und schreiben gelehrt; ich war hier wie in der Familie. Verraten Sie mich ja nicht«, flüsterte er. »Im Vertrauen will ich Ihnen noch sagen, daß ich auch für Wera Wassiljewna, sobald sie sich verheiratet, ein gleichwertiges Geschenk bereit halte, das sie hoffentlich nicht verschmähen wird.«
Er zeigte Raiskij ein massiv silbernes Tischservice für zwölf Personen, von alter, künstlerisch geschmackvoller Ausführung.
»Ihnen, als ihrem Vetter und Freunde, brauche ich es nicht zu verheimlichen«, flüsterte er, »daß ich, ebenso wie Tatjana Markowna, Wera von Herzen gern eine gute und reiche Partie wünsche, wie sie sie durchaus verdient. Wir haben bemerkt«, fügte er noch leiser hinzu, »daß ein in jeder Beziehung würdiger Kavalier, Iwan Iwanytsch Tuschin, ganz bezaubert ist von ihr, wie das auch nicht anders erwartet werden kann.«
Raiskij seufzte und kehrte nach Hause zurück. Er fand dort Wikentjew mit seiner Mutter, die vom Gut zu Marfinkas Ehrentag herübergekommen war, ferner Polina Karpowna, noch zwei oder drei Gäste aus der Stadt und – Openkin.
Der letztere ergoß bereits die Wogen seiner seminaristischen Beredsamkeit über die Gesellschaft, verfiel dabei häufig in einen weinerlichen Ton und brachte immer von neuem Marfinka seine Glückwünsche zur bevorstehenden Hochzeit dar.
Die Großtante konnte sich nicht entschließen, ihn mit den anständigen Gästen zusammen zum Mittagessen zu behalten, und beauftragte Wikentjew, ihm schon beim Frühstück das nötige Quantum von Flüssigkeiten einzupumpen, ein Auftrag, dessen Wikentjew sich so gewissenhaft entledigte, daß Openkin bereits gegen drei Uhr total fertig war und in dem leeren Saale des alten Hauses in festem Schlafe lag.
Die Gäste trennten sich gegen sieben Uhr abends. Die Großtante vergrub sich, zusammen mit der Mutter des Bräutigams, ganz und gar in die Ausstattung der Braut, und beide saßen dann stundenlang im Kabinett Tatjana Markownas und führten endlose Reden.
Das junge Brautpaar hatte inzwischen wohl fünfmal den Park und Hain durchquert und war dann ins Dorf gegangen. Wikentjew trug ein ganzes Bündel mit Sachen, das ihm Marfinka aufgeladen hatte, und mit dem er, während sie über das Feld hinschritten, Fangball spielte.
Marfinka besuchte jede Hütte, begrüßte die Bäuerinnen, war zärtlich zu den Kindern, wusch dem einen und andern die Ohren sauber, schenkte einigen der Mütter Stoff zu Hemdchen für die Kinder oder Kleiderstoff für die älteren Mädchen, verteilte auch zwei Paar Schuhe und gab den Beschenkten dabei den Rat, ja nicht barfuß in den Pfützen herumzuwaten.
Der halbidiotischen Agaschka schenkte sie einen abgetragenen Seelenwärmer, den sie sich von der Hofmagd Ulita ausgebeten hatte, wofür sie dieser einen neuen zu schenken versprach. Sie schärfte Agaschka ein, ja nicht in dem kalten Herbstwetter im bloßen Rock herumzulaufen, und versprach, ihr auch ein Paar Schuhe zu schicken.
Dem lahmen alten Silytsch schenkte sie einen Haufen Kupfermünzen im Werte eines Rubels, die Silytsch mit gierigen Händen zusammenraffte, als Wikentjew sie unter lautem Krachen und Lachen, die Taschen um und um wendend, auf die Ofenbank rollen ließ. Mit vor Habgier zitternden Händen begann Silytsch die Münzen in allerhand Fetzen und Lappen einzuwickeln und in seine Taschen zu stecken, eine davon nahm er sogar in den Mund. Aber Marfinka drohte ihm, sie würde ihm das Geld wieder wegnehmen und nie wiederkommen, wenn er es verstecke und, statt sich dafür etwas zu essen zu kaufen, bei den Leuten herumbettle.
»Unsere Schöne, du Engel Gottes, möge der Herr dir's lohnen!« – Damit geleiteten die Bäuerinnen sie vom Hof, wenn sie sich von ihnen verabschiedete.
Die Bauern aber lächelten im stillen und spöttelten still für sich: »Das gnädige Fräulein vertreibt sich die Zeit, spaßt mit den Weibern und Kindern. Was für dummen Kram sie ihnen da mitbringt – was sollen sie damit anfangen?«
Und sie beguckten geringschätzig die bunten Kattunhemdchen, die merkwürdigen kleinen Gürtel und die kleinen Schuhchen.