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Mark Wolochow wartete in dem halb verfallenen Pavillon. Auf dem Tisch lagen seine Büchse und seine Mütze. Er selbst ging auf den wenigen Brettern, die von dem Fußboden noch übrig waren, auf und ab. Wenn er auf das eine Ende eines Brettes trat, ging das andere Ende in die Höhe und fiel geräuschvoll nieder.
»Verdammte Höllenmusik!« sagte er ärgerlich, durch das Klappern der Bretter gereizt, setzte sich auf eine der Bänke, stützte die Ellbogen auf den Tisch und griff mit den Händen in sein dichtes Haar.
Er rauchte eine Zigarette nach der andern. Wenn er ein Zündholz anbrannte, fiel ein heller Schein auf sein Gesicht. Er war bleich und schien erregt oder verärgert. Nach jedem Schuß horchte er einige Minuten ins Dickicht hinaus, dann schritt er ein Stück auf dem Fußweg dahin und spähte durch die Büsche – offenbar erwartete er Wera. Und als die Erwartete nicht kam, kehrte er wieder zum Pavillon zurück, begann wieder über die knarrenden Bretter hin und her zu gehen, setzte sich auf die Bank, vergrub die Hände in seinem Haar oder streckte sich auf einer der Bänke aus, wobei er nach Art der Amerikaner die Beine auf den Tisch legte.
Nach dem dritten Schuß lauschte er ganze sieben Minuten, und als er noch immer nichts hörte, nahm sein Gesicht einen so finsteren Ausdruck an, daß er für einen Augenblick ganz alt erschien. Dann hing er die Büchse über die Schulter und schritt zögernd auf dem Pfad dahin, offenbar in der Absicht, sich zu entfernen. Doch lag noch immer etwas Zauderndes in seinem Gang, als hindere ihn die Dunkelheit am Gehen. Endlich setzte er entschlossen den Fuß vor, um auch wirklich den Heimweg anzutreten – und stieß ganz unerwartet mit Wera zusammen.
Sie blieb stehen, fuhr mit der Hand nach dem Herzen und konnte nur mit Mühe Atem holen.
Er nahm ihre Hand, und im Augenblick war ihre Unruhe verschwunden. Ein überwältigendes Gefühl der Freude durchströmte sie.
»Sie waren sonst immer so pünktlich, Wera – ich brauchte nie Pulver für drei Schüsse zu verschwenden ...«, sagte er.
»So – statt sich zu freuen, machen Sie mir Vorwürfe!« antwortete sie und entzog ihm die Hand.
»Ich sagte das ja nur, um ein Gespräch zu beginnen; in Wirklichkeit bin ich ganz hin vor lauter Glück, wie Raiskij.«
»Es scheint nicht so. Wenn dem so wäre, würden wir uns nicht heimlich in der Schlucht treffen. O mein Gott!«
Sie seufzte tief auf.
»Wir würden vielmehr hübsch artig bei Tantchen am Teetisch sitzen und warten, bis sie uns ihren Segen gibt.«
»Nun – und warum nicht?«
»Ach, was reden wir da von Dingen, die in das Reich der Unmöglichkeiten gehören! Die Tante würde Sie mir doch niemals geben.«
»Sie würde es sicher tun; sie tut, was ich will. Ist dies Ihr einziges Bedenken?«
»Wir geraten wieder in diese Polemik hinein, Wera, die nie ein Ende findet! Wir sind heute, wie Sie selbst sagten, zum letztenmal beisammen. Diese qualvolle Folter muß endlich ein Ende nehmen, wir können nicht ewig auf glühenden Kohlen sitzen.«
»Ja, zum letztenmal. Ich habe geschworen, daß ich nie wieder hierher gehen werde.«
»Unsere Zeit ist also kostbar. Wir werden für immer voneinander Abschied nehmen, falls die ... Dummheit, das heißt die Vorurteile Ihrer Tante, uns auseinanderbringen. Ich verlasse die Stadt in einer Woche, die Verfügung ist bereits eingetroffen, wie Sie wissen. Oder – wir werden eins, um uns nicht mehr zu trennen.«
»Niemals?« fragte sie leise.
Er machte eine unwillige Bewegung.
»Niemals!« wiederholte er in ärgerlichem Ton, »welche Lüge liegt in solchen Worten: ›niemals‹, ›ewig‹! Wenn ich ›nicht mehr‹ sagte, so bedeutet das eben ein Jahr, vielleicht auch zwei oder drei. Ist das nicht so gut wie niemals? Sie wollen ein Gefühl, das kein Ende hat – ja, gibt es denn ein solches? Betrachten Sie doch einmal all die Täubchen und Täuberiche Ihrer Bekanntschaft. Wo ist da jemand, der bis ans Ende liebte? Blicken Sie einmal in ihre Nester hinein – wie sieht es darin aus? Sie tun, was ihnen zukommt, setzen eine Anzahl Kinder in die Welt und kehren dann ihre Schnäbel nach verschiedenen Seiten. Nur die Trägheit hält sie noch beieinander.«
»Genug, Mark! Ich habe Ihre Theorie von der Liebe auf Frist schon satt«, unterbrach sie ihn ungeduldig. »Ich bin sehr unglücklich, die Trennung von Ihnen ist nicht die einzige Wolke, die über meiner Seele schwebt. Seit einem Jahr bereits habe ich vor Tantchen diese Heimlichkeiten – und das nagt an mir, noch mehr aber an ihr, wie ich ganz deutlich sehe. Ich dachte, diese Qual würde jetzt ein Ende nehmen, heute oder morgen würden wir endlich zu einer klaren Aussprache kommen, würden uns gegenseitig in aller Aufrichtigkeit unsere Gedanken, unsere Hoffnungen und Ziele darlegen ... und dann ...«
»Was dann?« fragte er, sie aufmerksam anhörend.
»Dann würde ich zu Tantchen gehen und ihr sagen: ›Den und den habe ich mir erwählt ... fürs ganze Leben.‹ Doch es scheint, daß dies nicht sein wird ... unsere Zusammenkunft heute ist ein Abschied für immer ...«, schloß sie flüsternd in tiefer Niedergeschlagenheit und ließ den Kopf auf die Brust sinken.
»Ja, wenn wir Engel wären – dann könnte Ihr Wort ›fürs ganze Leben‹ wohl Geltung haben. Auch dieser grauhaarige Philosoph Raiskij meint ja, die Frauen seien zu irgendwelchen höheren Aufgaben berufen.«
»Ihr Beruf liegt vor allem in der Familie. Wenn sie auch keine Engel sind, so sind sie doch ebensowenig wilde Tiere. Ich bin keine Wölfin, sondern eine Frau.«
»Gut, nehmen wir an, Sie seien für die Familie da. Wie kann das aber unsere Gefühle beeinflussen? Die Auffütterung und Erziehung der Kinder hat doch nichts mehr mit der Liebe zu tun, das ist eine Angelegenheit für sich, eine Aufgabe für Kinderfrauen, für alte Weiber. Alle diese Gefühle, Sympathien und so weiter sind doch nur eine Drapierung, das Feigenblatt sozusagen, mit dem sich die Menschen im Paradiese bedeckten.«
»Ja, die Menschen!« sagte sie.
Er lachte laut auf und zuckte die Achseln.
»Und wenn es getrost nur eine Drapierung ist«, fuhr Wera fort – »so ist doch auch sie nach Ihrer Lehre ein Produkt der Natur. Und Sie wollen sie herunterreißen! Warum haben Sie sich denn mit solcher Hartnäckigkeit, solchem Trotz gerade an mich gehängt? Warum sagen Sie, daß Sie mich lieben, warum hat sich Ihr Äußeres so verändert, warum sind Sie so abgemagert, so nervös geworden? Sie könnten doch, bei Ihren Ansichten von der Liebe, sich ebensogut eine Freundin drüben in der Vorstadt suchen oder jenseits der Wolga, im Dorf? Was bestimmt Sie, ein ganzes Jahr lang hierher, in die Schlucht zu kommen?«
Seine Miene verfinsterte sich.
»Das ist der Irrtum, Wera, in dem Sie befangen sind. Bei meinen Ansichten von Liebe, sagen Sie – aber bei Liebe handelt es sich um keine Ansichten, denn sie ist ein Trieb, ein Bedürfnis, und daher meistens blind. Ich gebe zu, daß meine Neigung für Sie nicht so ganz blind ist. Ihre Schönheit, die, wie auch Raiskij richtig herausgefunden hat, von nicht gewöhnlicher Art ist, Ihr Geist, Ihre freie Denkweise, das alles fesselt mich wohl länger an Sie als an irgendeine andere.«
»Sehr schmeichelhaft!« sagte sie leise.
»Doch eben diese Denkweise ist Ihr Unglück, Wera. Ohne sie wären wir längst einig, wären wir glücklich.«
»Für einige Zeit – und dann käme eine neue Neigung, die ihr Recht fordert, und so fort ohne Ende.«
Er zuckte die Achseln.
»Nicht wir sind hieran schuld, sondern die Natur. Und die hat das sehr weise eingerichtet. Wollten wir bei jeder Lebenserscheinung, jedem Gefühl, jeder Neigung allzulange verweilen, so hieße das uns selbst Fesseln anlegen, uns in Vorstellungen, in eine Denkweise einschnüren. Die Natur läßt sich einmal nicht ummodeln!«
»Diese Denkweise aber gibt unserem Leben Regeln und Gesetze – deren es genauso bedarf, wie nach Ihrer Lehre die Natur sie hat!«
»Das ist's eben, was das lebendige Leben zum Kadaver macht; daß die Menschen ihre natürlichen Triebe in starre Regeln einspannen, sich selbst an Händen und Füßen Ketten anlegen. Die Liebe ist ein Glück, das dem Menschen von der Natur geschenkt wird – das ist meine Meinung.«
»Aber dieses Glück zieht Pflichten nach sich«, sagte sie, sich von der Bank erhebend, »das ist meine Meinung.«
»Das ist ausgeklügelt und ertüftelt, Wera! Machen Sie sich doch klar, welch ein Chaos alle diese Regeln und Vorstellungen bilden! Vergessen Sie einmal die Pflichten, verschließen Sie sich nicht mit Gewalt der Einsicht, daß die Liebe ein Trieb ist ... der zuweilen unwiderstehlich wird.«
Er erhob sich gleichfalls und legte seinen Arm um ihre Taille.
»Ist es nicht so? Das müssen Sie doch einsehen, Sie Trotzköpfchen. Sie schönes, kluges Kind ...«, flüsterte er zärtlich.
Sie entwand sich langsam seinem Arm.
»Was Sie sich da wieder ausgedacht haben – Pflichten!«
»Ja, Pflichten!« wiederholte sie bestimmt – »dafür, daß eins dem andern das Glück geschenkt und die besten Jahre geopfert hat, sollen sie für den Rest des Lebens in gegenseitiger Treue zueinander halten.«
»Ja, was folgt denn daraus? – möcht ich fragen! Ewig Suppen kochen, sich gegenseitig bedienen, einander Aug in Auge gegenübersitzen, sich verstellen, an der Seite einer kränklichen, nervösen Lebensgefährtin oder eines vom Schlage gerührten Greises festhocken, im Banne der Regeln, der Pflicht stöhnen, während in den eignen Adern noch Kraft genug steckt, dem Rufe des Lebens zu folgen, dahin zu gehen, wohin es einen zieht. Ist es das, was Ihnen als Ideal vorschwebt?«
»Ja – sich beherrschen, und nicht dahin schauen, wohin es einen zieht! Dann bedarf es auch keiner Verstellung. ›Es heißt eben Enthaltsamkeit üben, wie beim Branntwein‹, sagt Tantchen, und sie hat recht. So verstehe ich das Glück, und so wünsche ich es mir!«
»Wie traurig ist es um unsere Liebe bestellt, wenn Sie jetzt schon die Weisheitssprüche der Großtante zitieren! Nun, so zeigen Sie doch einmal, wie fest Tantchens Grundsätze in Ihnen sitzen!«
»Wohlan denn – ich gehe noch heute, gleich von hier aus, zu ihr hin ... und sage ihr alles.«
»Was wollen Sie ihr sagen?«
»Alles, was bisher gewesen ist ... und was sie noch nicht weiß.«
Sie setzte sich auf die Bank, stützte den Ellbogen auf den Tisch, barg ihr Gesicht in den Händen und versank in Nachdenken.
»Warum wollen Sie es ihr sagen?« fragte er.
»Sie werden meine Gründe nicht verstehen, weil Sie keine Pflicht anerkennen. Ich habe meine Pflicht gegen sie schon lange versäumt.«
»Alles das ist öde Moral, die das Leben langweilig macht und verschimmeln läßt. Ach, Wera, Wera – Sie wissen nicht, was Liebe ist, verstehen nicht zu lieben.«
Sie trat plötzlich auf ihn zu und sah ihm vorwurfsvoll ins Gesicht.
»Sprechen Sie nicht so, Mark ... wenn Sie mich nicht zur Verzweiflung bringen wollen! Ich muß sonst glauben, daß alle Ihre Worte nur Heuchelei und Verstellung sind, daß Sie nur den Wunsch haben, mich ohne Liebe zu verführen, mich zu täuschen.«
Er erhob sich von seinem Platz.
»Auch ich muß Sie bitten, Wera, nicht ›so‹ zu sprechen. Wenn ich Sie täuschen wollte – ich hätte es längst gekonnt. Ich würde dann nicht hier stehen, mir Vorlesungen über die Liebe halten lassen und selbst welche halten.«
»Mein Gott! Warum quälen Sie sich denn selbst, Mark? Wie kann man sein Leben so verzetteln!« sagte sie, die Hände zusammenschlagend.
»Hören Sie, Wera, lassen wir den Streit! Aus Ihnen spricht die Großtante, wenn auch in etwas veränderter Form. Alles das mag früher gegolten haben, jetzt ist der Lauf des Lebens ein anderer geworden, die Zeit der Autoritäten, der angelernten Begriffe ist vorüber, die Wahrheit bahnt sich eine Gasse.«
»Die Wahrheit – wo ist sie? Sagen Sie es mir endlich! Ist sie nicht schon da, nicht schon vor uns dagewesen? Was suchen Sie eigentlich?«
»Was ich suche? Das Glück! Ich liebe Sie! Warum lassen Sie mich verschmachten, warum kämpfen Sie mit mir und mit sich selbst, warum wollen Sie durchaus zwei Menschen opfern?«
Sie zuckte die Achseln.
»Ein sonderbarer Vorwurf! Schauen Sie mich einmal genauer an ... wir haben uns ein paar Tage nicht gesehen ... wie sehe ich aus?« sagte sie.
»Ich sehe, daß Sie leiden – um so törichter ist Ihr Verhalten. Nun möchte auch ich Sie fragen, warum sind Sie hierher gekommen, und warum kommen Sie noch immer hierher?«
Sie blickte ihn fast feindselig an.
»Warum ich nicht früher ... das Schreckliche meiner Lage gefühlt habe, wollen Sie fragen? Ja, diese Frage, dieser Vorwurf wäre längst am Platze gewesen, und wir hätten ihn uns beide machen sollen. Wenn wir uns diese Frage gegenseitig in aller Aufrichtigkeit beantwortet hätten, dann wären wir wohl nicht mehr hierher gekommen! Es ist nun etwas spät geworden für die Fragestellung ...«, flüsterte sie nachdenklich, »doch besser spät als nie! Wir wollen uns also heute gegenseitig auf die Frage Antwort geben, was wir voneinander gewollt und erwartet haben.«
»Ich will Ihnen meinerseits diese Frage ganz offen beantworten«, sagte er. »Ich will Ihre Liebe und biete Ihnen dafür die meinige. Das ist der erste Grundsatz in der Liebe – das Gesetz des freien Austausches, wie es in der Natur begründet ist. Nicht mit Gewalt die Liebe erzwingen, sondern sich frei seiner Neigung hingeben und das Glück der gegenseitigen Neigung genießen – das ist die Pflicht und Regel, die ich anerkenne, und damit haben Sie zugleich die Antwort auf die Frage, warum ich hierher komme. Man müsse Opfer bringen, meinten Sie – nun, ich bringe auch Opfer, das heißt – nach meiner Ansicht sind es ja keine Opfer, aber ich will doch die von Ihnen gewählte Bezeichnung akzeptieren. Ich sehe also darin solch ein Opfer, daß ich noch immer hier in diesem Sumpf stecke und Zeit und Kraft vergeude ... nicht für Sie, will ich zugeben, sondern für mich selbst, weil doch augenblicklich mein ganzes Leben in dieser Sache aufgeht. Und ich will dieser Sache treu bleiben, solange ich dabei glücklich bin, solange meine Liebe vorhält. Ist sie erkaltet – dann sage ich es und gehe dahin, wohin das Leben mich führt, ohne mich an irgendwelche Pflichten, Grundsätze oder Fesseln zu kehren. Die will ich alle hier lassen, auf dem Grunde dieser Schlucht! Sie sehen, daß ich Sie nicht täusche, daß ich alles frei heraussage. Ich spreche, wie ich denke – und gehe meiner Wege! Und Sie haben das Recht, ebenso zu handeln. Jene Kadavermenschen aber belügen sich selbst und die andern – und diese Lüge nennen sie dann Grundsätze. Insgeheim freilich handeln sie ganz ebenso – nur daß sie dabei so pfiffig sind, das Recht, so zu handeln, für sich allein in Anspruch zu nehmen und es den Frauen zu verweigern. Zwischen uns aber muß Gleichberechtigung herrschen. Sagen Sie selbst – ist das ehrlich oder nicht?«
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
»Nein, das sind Sophismen. Ehrlich ist vielmehr, das Leben des andern zu nehmen und ihm dafür das eigne hinzugeben; so lautet mein Grundsatz, Mark! Und Sie kennen auch meine sonstigen Grundsätze.«
»Nun, jetzt sitzen Sie auf Ihrem Steckenpferd! Es ist also Ihr ›Grundsatz‹, daß eins dem andern wie ein Stein am Halse hängen soll.«
»Durchaus nicht wie ein Stein!« fiel sie ihm lebhaft ins Wort. »Die Liebe legt Pflichten auf, behaupte ich, wie das Leben auch sonst Pflichten auferlegt und es kein Leben ohne Pflichten gibt. Wenn Sie eine blinde alte Mutter hätten, würden Sie sie nicht führen, nicht für sie sorgen? Das ist sicher nichts Freudiges – aber ein ehrlicher Mensch hält es für seine Pflicht, die er treu und mit Liebe erfüllt!«
»Sie reflektieren wieder, Wera, statt zu lieben!«
»Und Sie suchen vor der Wahrheit dessen, was ich sage, Ihre Augen zu verschließen! Ich reflektiere, weil ich liebe – ich bin eine Frau und kein Tier, keine Maschine!«
»Ihre Liebe hat so etwas Zusammengedichtetes, Ausgeklügeltes ... ganz wie in Romanen! Sie will ohne Ende sein, ohne Grenzen! Aber ist es auch ehrlich, Wera, ein solches Verlangen an mich zu stellen? Angenommen, ich hätte gar nicht von dieser ›Liebe auf Zeit‹ gesprochen, sondern ich reichte Ihnen einfach hüpfend und scherzend, wie Wikentjew, die Hand zum ›ewigen Bunde‹; was wollten Sie dann noch mehr? Daß Gott unsern Bund segne, wie Sie sagen – das heißt, daß ich mit Ihnen in die Kirche gehe und gegen meine Überzeugung öffentlich eine Zeremonie an mir vollziehen lasse. Ich glaube doch nun einmal nicht an die Kraft dieser Zeremonie, ich kann die Pfaffen nicht leiden; wäre es dann wohl logisch und ehrlich, daß ich es dennoch tue?«
Sie erhob sich und warf die schwarze Mantille über den Kopf.
»Wir sind hierhergekommen, um alle Hindernisse, die unserem Glück im Wege stehen, zu beseitigen – und statt dessen vermehren wir sie nur! Sie greifen mit rauher Hand an Dinge, die mir heilig sind. Warum haben Sie mich gerufen? Ich dachte, Sie wollten endlich der alten, erprobten Wahrheit die Ehre geben, wir würden einander die Hand für immer zum Bunde reichen. Jedesmal kam ich in dieser Hoffnung hierher ... und jedesmal wurde ich enttäuscht! Ich wiederhole, was ich schon immer gesagt habe; unsere Überzeugungen«, schloß sie mit leiser Stimme, »und unsere Empfindungen gehen allzu weit auseinander. Ich dachte, Ihr eigner Verstand würde es Ihnen sagen, wo das wahre Leben ist ... und wo Ihr Platz sein sollte.«
»Nun – wo denn?«
»Im Herzen und an der Seite einer ehrenhaften Frau, die Sie liebte, deren Freund Sie sein würden.«
Sie drückte durch eine Handbewegung ihre Verzweiflung aus, und die Tränen waren ihr nahe.
»Leben Sie Ihr Leben allein, Mark – ich vermag es nicht zu teilen. Es ist ohne Wurzeln.«
»Und die Wurzeln Ihres Lebens sind längst verfault, Wera!«
»Mag sein«, sagte sie mit schwacher Stimme, während die Tränen nun wirklich in ihre Augen traten. »Ich will mit Ihnen nicht streiten, will Ihre Ansichten nicht durch Argumente und Erwägungen widerlegen. Ich besitze weder den Geist noch die Kraft dazu. Ich habe nur eine geistige Waffe, die ja schwach genug ist, aber den Vorzug hat, daß ich sie nicht aus Büchern, von andern, entliehen, sondern meiner eignen Erfahrung abgewonnen habe.«
Er machte eine Bewegung, als wollte er sie unterbrechen, sie sprach jedoch weiter.
»Ich dachte Sie mit dieser Waffe zu besiegen. Erinnern Sie sich noch, wie das alles sich entwickelt hat?« sagte sie sinnend, während sie einen Augenblick auf der Bank Platz nahm. »Ich hatte zuerst Mitleid mit Ihnen. Sie waren so allein und verlassen hier, niemand verstand Sie, alle gingen Ihnen aus dem Wege. Das Mitgefühl brachte mich auf Ihre Seite. Ich sah in Ihnen etwas Fremdartiges, Ungebundenes. Sie hatten so etwas Respektloses in Ihrem Denken, waren unvorsichtig im Gespräch, spielten mit dem Leben, verschwendeten Ihren Witz an unwürdige Dinge, glaubten an nichts und lehrten andere das gleiche, setzten sich wie absichtlich allerhand Unannehmlichkeiten aus und prahlten mit Ihren Keckheiten. Aus reiner Neugier verfolgte ich Ihr Tun, erlaubte Ihnen, hierher zu kommen, sich mir zu nähern, lieh mir Bücher von Ihnen – ich sah Ihren Geist, sah eine gewisse Kraft ... doch alles das schien mir dem Leben so abgekehrt. Und da setzte ich es mir in den Kopf – oh, wie bereue ich es jetzt! –, Sie das Leben wieder schätzen zu lehren ... zuerst um meinetwillen, und dann um des Lebens selbst willen. Ich sagte mir: er soll Achtung gewinnen – zuerst vor mir, und dann auch vor anderem im Leben; er soll glauben lernen ... zuerst mir, und dann vielleicht überhaupt. Ich wollte, daß Sie besser sein und höher stehen sollten als alle andern. Ich zankte Sie aus wegen all dieser Unordentlichkeiten.«
Sie seufzte tief auf und schwieg einen Augenblick, als ließe sie dieses ganze abgelaufene Jahr an ihrem Geist vorüberziehen. »Sie widerstrebten meinem ... Einfluß nicht ...«, fuhr sie dann fort, »und auch ich geriet unter den Ihrigen. Ihr Geist, Ihre kühne Art machte Eindruck auf mich, ich eignete mir verschiedene Ihrer ... Sophismen an.«
»Und dann zogen Sie sich in Ihrer Angst auf Tantchens altbewährte Weisheit zurück. Warum haben Sie mich denn damals nicht laufen lassen, als ich Ihnen mit diesen Sophismen kam?«
»Es war zu spät. Ihr Schicksal hatte mein Herz tief ergriffen. Es war nicht allein dieses freudlose Leben, das ich Sie führen sah ... es war auch Ihre Person, die mein Interesse gewonnen hatte. Ich nahm leidenschaftlich Ihre Partei ... ich dachte, Sie würden um meinetwillen das Leben zu verstehen suchen ... würden aufhören, so einsam umherzuschweifen, zum Schaden für sich selbst und ohne jeden Nutzen für die andern. Ich dachte, Sie würden ...«
»... ein tüchtiger Vizegouverneur oder Staatsrat werden.«
»Was haben hier Rang und Stand zu sagen? Nein – ein starker, der Allgemeinheit nützlicher Mensch.«
»Ein loyaler, gehorsamer Untertan – was nicht noch alles?«
»Und dann noch ... ein Freund für mich, fürs ganze Leben, sehen Sie! Ich ließ mich von meiner Hoffnung verleiten ... und das ist das Ziel, zu dem Sie mich hingeführt haben!« fügte sie leise hinzu und blickte erschauernd um sich. »Was habe ich nun erreicht in diesem furchtbaren Kampf? Daß Sie jetzt vor der Liebe, vor dem Glück, vor dem Leben ... vor Ihrer Wera fliehen!« sagte sie, während sie näher zu ihm hinrückte und ihre Hand auf seine Schulter legte. »Fliehen Sie nicht, blicken Sie mir in die Augen, hören Sie auf meine Stimme; in ihr ist Wahrheit! Fliehen Sie nicht, bleiben Sie, gehen wir zusammen dorthin, auf den Berg, in den Park. Dann gibt es morgen hier keine glücklicheren Menschen als uns beide. Sie lieben mich ... Mark! Mark – hören Sie? Sehen Sie mir ins Gesicht.« Sie neigte ihr Gesicht vor und sah ihm aus nächster Nähe in die Augen.
Er erhob sich rasch von der Bank.
»Rücken Sie ab von mir, Wera!« sagte er, während er ihr seine Hand entzog und wie ein zottiges wildes Tier den Kopf schüttelte.
Er stand drei Schritte von ihr entfernt.
»Wir sind noch nicht zum Hauptpunkt gekommen«, sagte er. »Sobald der erledigt ist, bin ich nicht abgeneigt, hier in diesen Landen zu verbleiben und mich weiter in Ihrer Gnade zu sonnen. Ich fliehe nicht vor Ihnen, Wera – sondern vor Ihrer Zumutung, daß ich meine Überzeugungen abtun und mich so ohne weiteres zu andern Überzeugungen bekennen soll. Wenn ich dazu nicht imstande bin – was soll ich da tun, Wera? Entscheiden Sie!«
»Ich habe sie doch nun einmal, diese andern Überzeugungen – was soll ich da tun?« fragte sie ihrerseits.
»Es ist leichter, solche angelernte Überzeugungen loszuwerden, als sie jemandem beizubringen, dem sie widerstreben.«
»Aber diese Überzeugungen sind doch das Leben selbst! Ich sagte Ihnen schon, daß ich in diesen Überzeugungen lebe, daß ich nicht anders leben kann ... mithin ...«
»Mithin ...«, wiederholte er – und beide erhoben sich. Beiden fiel es schwer, weiterzusprechen. Es schien, als hätten sie ihre Argumente erschöpft.
Sie wollte wieder die seidene Mantille über den Kopf werfen, doch kam sie damit nicht zustande; die Hand, in der sie die Mantille hielt, sank immer wieder zurück. Es blieb ihr nur noch eins übrig – fortzugehen, ohne noch einmal zurückzuschauen. Sie machte eine Bewegung, einen Schritt, und sank wieder auf die Bank zurück.
›Woher soll ich nur die Kraft nehmen zu diesem Kampf? Ich kann nicht fortgehen ... und kann ihn auch nicht zurückhalten! Alles ist zu Ende!‹ dachte sie. ›Und wenn ich ihn zurückhalte – was wird daraus entstehen? Nicht ein Leben in Gemeinschaft werden wir führen, sondern zwei verschiedene Leben – wie zwei Gefangene, die für immer durch ein Gitter getrennt sind.‹
»Wir sind beide stark, Wera«, sagte er finster, »darum quälen wir uns beide so, und darum trennen wir uns.«
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
»Wenn ich stark wäre, würden Sie nicht so von hier fortgehen, sondern würden dorthin gehen, auf den Berg, und zwar nicht heimlich, sondern kühn und offen, auf meinen Arm gestützt. Kommen Sie! Wollen Sie, daß ich lebe, daß ich glücklich werde?« sprach sie plötzlich lebhaft, wie in neu aufkeimender Hoffnung, und trat auf ihn zu. »Es kann nicht sein, daß Sie mir nicht glauben oder daß Sie sich verstellen und mich getäuscht haben sollten ... das wäre ein Verbrechen!« sagte sie ganz verzweifelt. »Was soll ich nur tun, mein Gott? Er glaubt mir nicht, will nicht mit mir gehen! Wie soll ich ihn nur überreden?«
»Das könnten Sie nur, wenn Sie stärker wären als ich – wir sind aber beide gleich stark«, antwortete er finster. »Darum können wir auch nicht einig werden, sondern müssen streiten. Wir müssen uns trennen, ohne den Kampf entschieden zu haben, oder eins muß für immer dem andern nachgeben. Stände mir irgendein anderes, unbedeutendes Weib gegenüber, dann hätte ich leichtes Spiel; ich würde mit ihrer Ziererei, ihrer kleinlichen Angst, ihrem Stumpfsinn rasch fertig werden. Bei Ihnen jedoch ist von keiner Angst und keiner Ziererei die Rede – was Sie mir entgegenstellen, ist Kraft, ist weibliche Standhaftigkeit. Es sind nun keine Unklarheiten, keine Nebel mehr zwischen uns, wir haben uns ausgesprochen, und ich mache Ihnen meine Reverenz. Die Natur hat Sie mit guten Waffen ausgestattet, Wera. Alle diese alten Grundsätze, die Moral, die Pflicht, der Glaube – alles das wird für Sie zu einem starken Rüstzeug. Sie sind nicht leicht zu erobern, Sie kämpfen bis aufs Messer und ergeben sich nur unter Bedingungen, die für beide Seiten die gleichen sind. Sie ergeben sich nur dem, der sich Ihnen ganz ergibt. Nun – und das kann ich nicht – wenn ich Sie auch hoch achte.«
Sie hob den Kopf, und in ihrem Gesicht leuchtete es für einen Augenblick auf wie ein Strahl des Stolzes, ja des Glücks; doch im nächsten Augenblick schon ließ sie den Kopf wieder sinken. Ihr Herz schlug unruhig, und ihre Nerven wurden erregt angesichts der Trennung, die nun unausbleiblich schien. Seine Worte waren nur ein Vorspiel des Abschieds.
»Wir haben uns ausgesprochen ... ich überlasse Ihnen die Entscheidung!« sagte Mark dumpf, während er nach der andern Seite des Pavillons ging und sie von dort aus aufmerksam beobachtete. »Ich will Sie auch jetzt, in dieser entscheidenden Minute, nicht täuschen, obschon mir selbst ganz wirr im Kopf ist. Nein, ich kann es nicht – hören Sie, Wera; ich kann Ihnen eine solche Liebe ohne Ende nicht versprechen, weil ich nicht an sie glaube und sie daher auch von Ihnen nicht verlange. Ich will Sie auch nicht heiraten – doch ich liebe Sie jetzt mehr als alles in der Welt! Und wenn Sie sich nach alledem, was ich Ihnen sage, mir in die Arme werfen ... dann heißt das eben, daß Sie mich lieben und die Meinige sein wollen.«
Sie sah ihn mit großen Augen an und erbebte.
›Was ist das?‹ fuhr es ihr wie ein Funke des Zweifels durch den Kopf, ›ist er vielleicht doch ein Heuchler? Oder spricht jetzt wirklich nur unbeugsame, offene Ehrlichkeit aus ihm?‹ Sie fühlte deutlich das Gefährliche ihrer Lage.
»Die Ihrige? Für immer?« fragte sie leise – und schrak bei der Frage zusammen.
Wenn er nun »ja« sagte – dann vergaß sie vielleicht den unüberbrückbaren Gegensatz der Überzeugungen, nahm dieses »für immer« als eine Brücke für den Augenblick, auf der sie den Abgrund überschreiten könnte. Wie aber, wenn die Brücke in den Abgrund stürzte? Ein Gefühl des Grauens überlief sie, als sie ihn jetzt ansah.
Er schwieg ein Weilchen, und dann stand er plötzlich von seinem Platz auf.
»Ich weiß es nicht!« sagte er mit einem zugleich schmerzlichen und unwilligen Ausdruck. »Ich weiß nur, was ich jetzt tun werde, und kann nicht auf ein halbes Jahr voraus in die Zukunft blicken. Auch Sie wissen doch nicht, was mit Ihnen sein wird. Wenn Sie meine Liebe erwidern, werde ich hier bleiben, werde stiller sein als das Wasser im See, demütiger als das Gras auf dem Felde ... werde tun, was Sie wünschen ... was wollen Sie noch mehr? Oder vielleicht ... gehen wir fort von hier!« sagte er, plötzlich auf sie zutretend.
Es war ihr, als sei ein Blitz vor ihr niedergezuckt. Sie stürzte zu ihm hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. Unerwartet wähnte sie die Pforten des Paradieses vor sich geöffnet. Die ganze Welt lächelte ihr zu und lockte sie zu sich hin.
›Mit ihm vereint zu sein, irgendwo in der Ferne ...‹, dachte sie. Zärtliche Leidenschaft klopfte leise an die Pforte ihrer Seele.
›Er schwankt, er kann sich nicht losreißen. Wenn ich mit ihm allein sein werde ... wird er vielleicht zu der Überzeugung kommen, daß er nur dort leben kann, wo ich bin.‹
Alles das sang ihr eine leise Stimme heimlich vor.
»Könnten Sie sich dazu entschließen?« fragte er in ernstem Ton.
Sie schwieg und ließ den Kopf sinken.
»Oder würden Sie vor Tantchen Angst haben?«
Sie blickte auf.
»Ja, das ist wahr; wenn ich davor zurückschreckte, wäre es nur darum, weil ich mich vor ihr fürchten würde ...«, flüsterte sie.
»Dann kommen Sie mir nicht zu nahe!« sagte er, von ihr abrückend. »Die Alte würde Sie nie gehen lassen.«
»Oh, doch ... sie würde mich gehen lassen und mir ihren Segen mitgeben, doch würde sie selbst vor Gram darüber vergehen. Das ist's, was ich fürchte! Mit Ihnen von hier fortzuziehen!« wiederholte sie nachdenklich, während sie ihn lange und durchdringend ansah. »Und dann?«
»Und dann? Was dann sein wird, weiß ich nicht. Was kümmert Sie dieses ›dann‹?«
»Wenn Sie sich plötzlich nach einer andern Seite hingezogen fühlen und von mir gehen ... mich im Stich lassen wie eine erste beste Sache?«
»Warum wie eine Sache? Wir können als Freunde scheiden.«
»Scheiden! Die Trennung steht bei Ihnen gleich neben der Liebe!« Sie stieß einen schmerzlichen Seufzer aus. »Ich meine, daß eine Trennung nie stattfinden dürfte. Nur der Tod sollte die Menschen scheiden. Leben Sie wohl, Mark!« sagte sie plötzlich, ganz bleich, fast mit Stolz. »Ich habe nun meinen Entschluß gefaßt. Sie werden mir niemals das Glück geben, nach dem ich begehre. Um glücklich zu sein, brauchen wir nicht fortzugehen, wir können das Glück auch hier finden. Alles ist aus.«
»Ja ... und nun rasch fort von hier! Leben Sie wohl, Wera ...«, sagte auch er mit seltsam klingender Stimme.
Beide erhoben sich bleich, ohne einander anzusehen, von ihren Plätzen. Sie suchte bei dem schwachen Schimmer des Mondlichts, das durch die Zweige drang, ihre Mantille. Ihre Hände bebten und griffen immer nach etwas anderem, selbst nach seiner Büchse faßte sie in ihrer Erregtheit.
Er stand, an einen der Pavillonpfeiler gelehnt, da und verfolgte mit düsterem Blick ihre Bewegungen.
Sie hatte endlich die Mantille mit dem weißen Besatz umgenommen, vermochte sie jedoch nicht über die andere Schulter zu ziehen. Er half ihr mechanisch.
Sie tastete im Dunkeln mit dem Fuß nach den Stufen; er sprang über die Stufen hinweg auf die Erde, reichte ihr die Hand und half ihr hinunter.
Sie gingen beide auf dem schmalen Pfad, mit zögerndem Schritt, als wenn eins vom andern etwas erwartete. Beide quälte der eine unklare Gedanke, wie sich wohl noch ein Vorwand zum Bleiben finden ließe.
Jedes von ihnen erkannte, daß der andere Teil von seinem Standpunkt aus recht habe, aber beide gaben sich dabei der stillen Erwartung hin, doch noch selbst zu triumphieren. Er hoffte, sie ganz auf seine Seite zu bringen, während sie immer noch annahm, daß er ihr nachgeben würde – eine Annahme, die sie selbst als hinfällig erkennen mußte, da es, bei allem guten Willen, doch nicht möglich war, daß ein Mensch ohne weiteres seine Überzeugung, seine Weltanschauung abtat und gegen eine andere vertauschte.
Das Bewußtsein, daß dies ihre letzte Zusammenkunft war, daß sie fünf Minuten später füreinander, vielleicht auf immer, Fremde sein würden, drückte sie beide tief nieder. Sie waren von dem Wunsch beseelt, diese fünf Minuten so lange wie möglich festzuhalten, noch einmal in ihnen das Vergangene zu durchleben und, wenn möglich, eine Hoffnung für die Zukunft aus ihnen zu schöpfen. Doch hatten sie andererseits die Empfindung, daß es eine Zukunft für sie nicht gab, daß ihrer nur die Trennung harrte, die für sie so unvermeidlich war wie der Tod.
Sie gingen langsam bis zu einer Stelle, wo er einen niedrigen Zaun überspringen mußte, um auf den Weg zu gelangen, während sie von da aus auf einem schmalen Pfad durchs Gebüsch in den Park gelangen konnte.
Mit gesenktem Kopf, in tiefer Niedergeschlagenheit, stand sie jetzt am Fuß des Abhanges. Ihr ganzes Leben zog an ihr vorüber, und nicht einen Augenblick fand sie darin, der so bitter gewesen wäre wie dieser. Ihre Augen standen voll Tränen.
Sie hätte sich nun wohl umwenden mögen, um wenigstens noch einmal nach ihm zurückzuschauen und im Fortgehen gleichsam aus der Ferne die Größe des Glücks zu ermessen, das sie verlor. Mit bitterem Schmerz empfand sie den Verlust dieses Glücks, das nun für immer entschwand, doch wagte sie nicht, zurückzuschauen, das hätte so viel bedeutet wie ein »ja«, das sie auf seine schicksalsschwere Frage ihm zugerufen hätte. Ihr Herz wand sich in Qualen, als sie nun langsam ein paar Schritte bergan ging.
Er näherte sich dem Zaun – gleichfalls, ohne zurückzuschauen, in bösem Grimm, wie ein trotziges Tier, das von seiner Beute lassen mußte. Er hatte nicht gelogen, als er sagte, daß er Wera achte, doch achtete er sie wider seinen Willen, wie der Krieger im Kampf den Feind achtet, der sich tapfer schlägt. Er verfluchte diese Stadt der Toten mit ihren vermorschten Begriffen, die diese lebendige, freie Seele in Fesseln hielt.
Seinem Schmerz war keine Rührung, kein Mitleid beigesellt – es war ein böser, unnachgiebiger Schmerz, der nur zu neuem, kräftigerem Zuschlagen antrieb. Es war mehr eine wilde, wütende Verzweiflung als ein Schmerz.
Er hätte Wera zerbrechen, vernichten mögen, wie man eine kostbare Sache, die einem anderen gehört, im Zorn vernichtet – nur, damit niemand sie besitze. Er hatte ihr selbst gestanden, daß er mit jeder anderen außer mit ihr so verfahren würde. Sie war ihm nicht ins Garn gegangen. Es blieb ihm somit wohl nichts weiter übrig als die rohe Gewalt, als eine Räubertat, um ihrer für einen Augenblick Herr zu werden.
Doch dieser äußerliche Sieg hätte ihm bei Wera nicht die volle Genugtuung gewährt, die er jeder andern gegenüber empfunden hätte. Als er jetzt von ihr ging, zürnte er nicht nur darum, daß die schöne Wera ihm entschlüpfte, daß er vergeblich Zeit und Kraft verschwendet und seinem Werk entzogen hatte. Er zürnte vielmehr aus beleidigtem Stolz und litt im Bewußtsein seiner Ohnmacht. Er hatte Weras Phantasie, vielleicht auch ihr Herz besiegt – nicht aber ihren Verstand und ihren Willen.
In dieser Hinsicht hatte sie eine unbeugsame Stärke gezeigt, die seiner Beharrlichkeit gewachsen war. Sie besaß Charakter, und sie wußte sich mit trotzigem Sinn aus dem alten, toten Leben, das sie umgab, ein stark pulsierendes neues Leben zu gewinnen. So wurde sie für ihn, wie auch für Raiskij, zur Repräsentantin eines neuen, edlen Typus voll selbständigen geistigen Lebens und stolzen Eigenwillens.
Sie stand, das erkannte er klar, in jeder Beziehung über allen Frauen, die er kannte. Er war stolz gewesen auf die Erfolge, die er bei ihr errungen hatte, und war jetzt um so unzufriedener, da er sich sagen mußte, daß sein Bemühen, sie zu entwickeln und ihren Geist mit seinem neuen Licht zu erhellen, doch bei ihr recht wenig gefruchtet habe. Es waren da, wie er meinte, mancherlei hemmende Einflüsse im Spiel gewesen – ihr »Glaube«, wie sie es nannte, und irgendein Pope von der neuen Richtung, und dieser Raiskij mit seiner Poesie, und die Großtante mit ihrer Moral, vor allem aber ihr eignes scharfes Auge und ihr Ohr, ihr feines Empfinden, ihr weiblicher Instinkt und ihr starker Wille. Alles dies stärkte ihre Widerstandskraft, versah sie mit Waffen gegen seine »Wahrheit«, lieh dem alten, gewohnten Leben rings um sie und der alten Wahrheit in ihren Augen eine so gesunde Farbe, daß seine Wahrheit und sein anscheinend aus neuen, frischen Quellen geschöpftes Leben daneben blaß und leer, unecht und kalt erschien.
Seine neue Wahrheit und sein neues Leben besaßen nicht Anziehungskraft genug, um ihre gesunde, kräftige Natur zu fesseln. Ihr selbständiger Geist zerpflückte das, was er ihr darbot, unbarmherzig und stärkte in ihr nur das Vertrauen auf ihre eigene Wahrheit.
Und nun ging sie von ihm und ließ ihm kein Pfand seines Sieges zurück, außer der Erinnerung an die Zusammenkünfte mit ihr, die verschwinden würde wie eine Spur im Sand. Er hatte die Schlacht verloren, sie entschwand ihm für immer; jetzt, wo er von ihr ging, wußte er, daß er nie wieder einer zweiten solchen Wera begegnen würde.
Er verglich sie im Geiste mit den andern Frauen, zumal denen der neuen Richtung, die ihm begegnet waren. Viele von ihnen hatten sich der neuen Lehre und dem Leben nach dem neuen Zuschnitt mit demselben Temperament ergeben wie Marina ihren Liebschaften. Er hatte gefunden, daß diese Frauen in Wirklichkeit kläglicher, fader und tiefer gefallen waren als alle sonstigen gefallenen Frauen, die ein Opfer ihrer Phantasie, ihres Temperaments oder des Goldes geworden waren, während jene Opfer eines Prinzips wurden, das sie oft genug nicht begriffen, dem sie innerlich gleichgültig gegenüberstanden und das ihnen nur als heuchlerischer Vorwand für andere Dinge diente, denen naive Naturen, wie Koslows Frau, sich auf weit einfachere, natürlichere Art ergaben.
Er schritt langsam dahin, in dem Bewußtsein, für immer etwas hinter sich zu lassen, was er niemals im Leben wieder antreffen würde. Sollte er sie betrügen, sie verführen, ihr eine Liebe ohne Ende oder vielleicht gar die Ehe versprechen?
Er erbebte bei dem Gedanken, daß er einen so groben, alltäglichen Betrug an ihr begehen sollte – und würde ein solcher jetzt überhaupt noch bei ihr verfangen? Er stampfte mit dem Fuß auf, sprang auf den Zaun und setzte bereits den Fuß auf die andere Seite.
›Ich möchte doch sehen, wie sie sich benimmt; ein stolzer Charakter! So davonzugehen! Ach was – sie hat mich nicht geliebt, sonst wäre sie nicht gegangen. Sie ist eine Schwätzerin‹, dachte er, während er noch auf dem Zaun saß.
›Einen Blick möchte ich noch zurückwerfen ... wie er es trägt – und dann für immer davongehen ...‹ sprach sie schwankend zu sich selbst, während sie im Aufwärtsschreiten innehielt.
Ein kurzer Sprung – und der Zaun wäre zwischen ihnen gewesen, daß eins das andere nicht hätte sehen können. Die äußere Trennung hätte ihre Wirkung getan, der klare Verstand, der Wille wäre stärker zum Ausdruck gelangt, hätte endgültig gesiegt.
Da wandte er sich um.
Wera stand da, als sei ihr der Weg dort hinauf zu schwer, als könne sie nicht weiter.
Mit sichtlicher Anstrengung machte sie zwei, drei Schritte vorwärts und blieb stehen. Dann wandte sie sich langsam um – und fuhr zusammen. Mark saß noch auf dem Zaun und sah sie an ... sah zu ihr herüber.
»Mark! Lebe wohl!« rief sie – und sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme, so voll Gram und Verzweiflung klang sie.
Mark zog rasch das Bein über den Zaun zurück, sprang hinunter und war mit wenigen Sätzen an ihrer Seite.
›Sieg! Sieg!‹ jubelte es in ihm. ›Sie kehrt zurück, sie gibt nach!‹
»Wera!« rief auch er in einem Ton, der wie ein Stöhnen klang.
»Du kommst zurück ... für immer? Du hast endlich begriffen? Oh, welch ein Glück! Vergib mir, o Herr.«
Sie sprach nicht zu Ende.
Sie lag in seinen Armen, und sein Kuß verschloß ihr den Mund. Er hob sie hoch empor und trug sie, wie ein wildes Tier seine Beute, nach dem Pavillon zurück.