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Am folgenden Morgen frühstückten sie ohne den Doktor, und schon waren alle fertig, als Sophie rief: «Dort kömmt er!» Und wie Sophie das rief, stand der Vikari auf, und während er ging, warf Sophie ihm die Frage nach: «Weyt Dr de nit warte und lose, was er für Bricht bringt?» Es zweiete sich dem Vikari; etwas reizte ihn zum Standhalten, und doch ging er, antwortete aber trotzig, er hätte nicht Zeit, und dSach werde er frühe genug vernehmen. «Das ist mir e Muffi», sagte Sophie, «aber gäb wie er tut, ds Herz ist ihm doch i de Hose, und warte darf er ihm nit.» «Söphi», sagte die Mutter, «du redest recht unanständig, und wenns dr Vetter ghört hätt, er hätt o nüt meh uf dr.» «Su hätt er mira», sagte Söphi, «was isch mr doch dra glege, heyg öpper öppis uf mr oder nit! Ih ha o dWehli, uf niemere nüt z'ha.» «Schäm di, Söphi, so z'rede; Ernst ists dr nit, und wenns dr Ernst wär, su wärs recht schlecht vo dr.» «Begehret Dr de, Mama, daß ih uf alle Lüte viel heyg und mi hintersinneti, wenn son es Dokterbürzi nüt uf mr het, oder soll ih gar am enen iedere Schlabi a Hals hange?»
«Sophie, los, schwyg; das ist kiflet, und zwar unanständig, du weißts wohl, wies dMama meint, und somit Punktum!» sagte der Pfarrer. «Aber es Punktum», sagte Sophie, «aber das Mal son es trockes, ih muß es gwüß e weneli afüechte»; und somit nahm sie erst den Papa obenein und küßte ihn herzlich, dann die Mama, und während Sophie noch daran war, trat der Doktor ein. «Ih chume ebe recht», sagte er. «Ja, Rudi», sagte Sophie rasch, «wenn du nicht gekommen wärest, so hätte ich den Kaffee ab dr Glut gestellt.» «Oh, ih meine nit wegem Kaffee, sondern wegem Küsse, jetz wird dr Kehr a mir sy.» «Es ist mr leid», sagte Sophie, «wärist früher cho; aber dMüntscheni sy ab em Für, und du weißt, die erkalte plötzlig, grad wie ds Blei, wo dScharfschütze dKugle drus mache. Aber häb nit Flause, zell, wies dobe ist.» «Chumm Vetter, sitz!» sagte die Mama, «üses Papali ist scho lang gwunderig.»
«Oben geht es wunderlich, aber, wie ich glaube, besser als man hoffen durfte; das ist mir eine kuriose Frau, das. Nach dem Blutverlust und erfolgter Abschwächung ist auch die geistige Aufregung verflogen, in welcher sie sich einbildete, daß sie am Tode des Knaben schuld sei und den Tod verdient habe; sie scheint sich in den Glauben zu verwandeln, man wolle es ihr andichten, es sei aber nicht wahr. Sie ist ruhig, still und hat nichts gesagt als, sie hätte dem Bubeli keinen andern Züg gegeben als den, welchen Mädi gebracht, u wenn der nicht recht gewesen sei, so vermöge sie sich dessen nichts, man möge sagen, was man wolle. Dann scheint sie wieder tief nachzusinnen; denn auf alles Einreden, daß ja kein Mensch ihr schuld gebe, daß sie ihm treulich abgewartet und dr lieb Gott ds Bübli greycht heyg, gab sie keine Antwort mehr. Aber ich denke mir, die Sache ist auf der Besserung.» «Es ist möglich», sagte der Pfarrer, «wenn nur nicht der Gedanke sich in ihr ausbildet, es meinten es alle böse mit ihr und hätten ihr expreß sagen lassen, was sie sich eingebildet, oder aber Mädi sei schuld an des Kindes Tod, und Unwirsches gegen dieses vornimmt. Ich glaube es zwar nicht, aber man weiß es nie; was da innen ist, das ist verborgen, und was geschehen wird, weiß Gott. Und wenn man einen Gedanken zu bilden suchte in der Frau, ihren Geist an etwas heftete, könnte man da nicht vorbauend einwirken und vielleicht etwas Bösem zuvorkommen?»
«Onkel, Ihr habt recht», sagte der Doktor. «Man könnte der Alten Aufmerksamkeit auf das Kind lenken, welches das arme Fraueli entwöhnen muß, wenn es an der verfluxten Hebammenpraxis nicht zugrund gehen soll. Man könnte ihr das Kind wie zufällig zu halten geben, hier einmal, dort einmal, könnte ihr zufällig sagen, Meyeli müßte entwöhnen, man brauchte nicht zu erklären warum. Vielleicht nähme sie sich des Kindes an und würde das andere ob diesem vergessen.» «Aber Vetter, was denkst!» sagte die Frau Pfarrerin, «einer stürmen Frau ein Kind anvertrauen! Man ist ja keinen Augenblick sicher, daß sie es nicht umbringt.» «Ich glaube nicht, daß Gefahr da sei», sagte der Doktor, «im Gegenteil würde sie an diesem Kinde zeigen wollen, daß man ihr wohl ein Kind anvertrauen könne, daß sie das frühere nicht vernachlässigt. Natürlich müßte man sie anfangs nicht aus den Augen lassen, so lange, bis sie ihr früheres Wesen wieder gewonnen, ihre sonstigen Ausübungen angenommen hätte!»
«Nein, schäme dich, Rudi!» sagte Sophie. «Für den Besten habe ich dich nie angesehen, so wüst dich aber doch nicht geglaubt. Weißt du, wie du mir vorkömmst? Als ein Priester des Molochs, der seinem Götzen, dem Moloch, Kinder opfert. Anne Bäbi, die dumme Frau, ist das häßliche Bild und stellt deinen Götzen dir dar, den du, wie ich von Papa gehört, Kunst nennst. Deiner Kunst willst du das arme Kindlein opfern, nicht mit Gift, das versteht sich, das tust du nicht, auch nicht mit vermessenen leiblichen Mitteln, wahrscheinlich weißt du auch, da du fast ein Professor bist, daß die Ärzte mit solchen nur im äußersten Notfall fechten. Notfall ist nun keiner da; denn soviel ich dir abgemerkt, ist das nicht ein Notfall, wo bereits die Hoffnung wächst, sondern das ist ein Notfall, wo nach menschlicher Ansicht, und zwar nach wohlerwogener Ansicht, keine Hoffnung mehr da ist, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge die Rettung von Seite der Menschen (unsereiner, Herr Doktor, nicht so gelehrt wie Ihr, behält Gott immer vor) an der Anwendung eines einzigen Mittels hängt. In einem solchen Fall wagt man an den halb aufgegebenen Patienten ein sogenanntes desparates Mittel, wo es heißt: ‹Vogel, friß oder stirb!› Der Vogel ist der Patient; das Mittel aber ist seiner Natur nach tot, fühllos, in des Menschen Willkür gestellt. Nun hast du einen Patienten auf der Besserung, und deine Kunst hat sinnreich ein Mittel aufgegriffen, das möglicherweise ihn heilt, aber dieses Mittel ist ein lebendig Kind, ein Mensch, und das Mittel kann ob der Kranken verloren gehen am Leibe vielleicht, an der Seele höchst wahrscheinlich. Aber das redet dir dann niemand nach, sondern es heißt nur, du seiest bsungerbar e Gschickte, du hättest ds Jowägers Anne Bäbi uf dr Stell zweggha. Aber wenn du das tust, so gruset es mir ab dir, und dein Lebtag sage ich dir Kindlifresser, du wirst auch meinen, es syg ume es King.»
Der Doktor hörte diesem Ausfall anfangs zu wie allen Reden Sophiens, in denen ihm gewöhnlich ein Ball zugeschleudert wurde, welchen mit Geschick zurückwerfen zu können er sich bewußt war. Im Verlauf der Rede ward er doch ernst, denn eine solche ernste Rede hatte er nie von Sophie vernommen. Er war wohl aus den kindischen Neckereien, welche zwischen verwandten Knaben und Mädchen meist stattfinden, heraus, aber er stand doch mit Sophie noch auf dem verwandtschaftlichen Standpunkte, wo man sich nur zuwirft, was einem eben zur Hand kömmt, und wo man noch oft die süße Liebe in Bitterkeiten und Salze hüllt, umgekehrt wie man es mit widerlichen Heilmitteln macht, Wurmmitteln zum Beispiel. Ein Mädchen kann die schönsten Gespräche führen mit sich selbst, manchmal sogar mit einer Schwester, aber gegen einen Vetter, der ihm lieb ist, oft ohne daß sie es weiß, ist sie einer Kastanie gleich voll Stacheln um und um, und vom Kerne merkt er nichts, bis Liebe oder Zorn, beide sind gleich in ihrer Wirkung, werden aber ungleich umgrenzt, den Kern schwellen, die Schale sprengen, den Kern zutage legen. Nun liebt aber ein Mädchen, in welchem wenn auch unbewußt die Liebe sich reget, Kinder mit besonderer Zärtlichkeit, und wo es eines habhaft werden kann, da läßt es die ganze Zärtlichkeit, welche das Herz ihm schwellt, am Kinde los. Daher Sophiens Zorn.
«Du redest wie ein halber Doktor», sprach der Doktor, «man hört dir an, daß der Onkel auch einer ist.» «Ein halber, wirst du meinen», warf Sophie hinein. «Aber», fuhr er fort, «du nimmst die Sache viel zu streng; hast du nicht gehört, daß man die Frau überwachen soll? Da kann dem Kinde nichts geschehen.» «Das weißt du nicht», sagte Sophie, «und wenn einmal die Alte das Kind in ihre Hände nimmt, so läßt sie es nicht wieder los, sondern macht es wie mit ihrem Sohne und mit dem gestorbenen Knaben, sie verderbt sie am Leibe oder an der Seele. Es ist ein rechtes Glück, daß der Knabe hat sterben können, es weiß kein Mensch, was es aus ihm gegeben hätte. Und jetzt willst du das lieblichste Kind von der Welt, das so freundlich ist und seiner Mutter wie aus den Augen geschnitten, der Großmutter in die Hände spielen, um es zu vermeisterlöslen und ein recht ungezogen, uwatlig Ding aus ihm zu machen! Man sollte gar keine Kinder in die Nähe von solchen Menschen lassen, geschweige dann sie brauchen wie ein Zugpflaster oder eine Haarschnur.»
Der Doktor hörte Sophie so verwundert zu, daß er gar nicht an eine Antwort dachte. Da sprach der Pfarrer: «Sophie, dein Eifer ist schön, aber ganz verständig ist er nicht. Wenn du keine Kinder in Händen lassen wolltest, in welchen sie verdorben werden könnten, wo wolltest du mit all den Kindern hin, und wären vielleicht deine Hände die rechten? Das mahnt mich gerade daran, als wenn du keine Kirschen auf den Bäumen wolltest reifen lassen, weil sie die Spatzen fressen könnten, oder keine Erbsen ins Freie setzen aus Furcht vor den Tauben. Vor allen Gefahren kann man nicht sein, Gott muß man auch etwas anvertrauen können; alles voraus berechnen, beraten, verhüten kann man nicht. Sieh, da leben wir wieder als ohnmächtige Wesen unter einer höhern Macht, und unglücklich oder torrecht sind wir nur, wenn wir diese Macht vergessen, in ihr Gebiet greifen, uns oder etwas Anderes an ihre Stelle setzen wollen.
Du hast deine Meinung nur in Beziehung auf diesen Fall geäußert; aber ich kenne sie wohl, du meinst eigentlich, man sollte keinen Großeltern Kinder anvertrauen, indem unter ihren Händen die Kinder vermeisterlöslet würden. Du kömmst mir mit diesem fast vor wie der Doktor mit seinem Doktern; glücklich Erziehen, glücklich Heilen hat niemand in seiner Macht; wohl dem, der nur treu ist, und wenn du den Großeltern die Kinder nehmen wolltest, so wäre es etwas Ähnliches, wie wenn der Doktor den Kranken keine geistige Hülfe zukommen lassen wollte. Sonnenschein ist wohl herrlich und die Hauptsache, aber ohne Tau verkümmerten im Sommer die Pflanzen doch. Die Eltern sind die Sonnen der Kinder, in ihrer Wärme reifen sie. Aber trocken sind die Eltern oft, ergriffen von des Tages Mühen, ihre Zeit gefüllt mit Arbeit; Befehlen und Zurechtweisen, das ist ihre immer wiederkehrende Aufgabe, Niederdrücken das aufkeimende Böse ihre beständige Mühe. Die Großeltern sind der Tau der Kinder, sie sinds, die mit ihrer freien Liebe die kindliche Liebe nähren, frisch erhalten, immer ein offenes Herz haben für der Kinder Leiden und Freuden, dafür sorgen, daß das Gemüt des Kindes nicht erstarre im rauhen Leben, sondern weich und offen bleibe dem Guten, dem Schönen, der Liebe.
Und wiederum erquicken die Kinder das alternde Herz, das sonst ganz öde wäre und ebenfalls vertrocknete. Denn die Kinder sind dem elterlichen Herzen entwachsen, bedürfen der Hülfe weniger, sind verschlossener geworden; an ihrer Statt ziehen die Großkinder ein und füllen es mit neuen Freuden, neuen Hoffnungen, erquicken es täglich mit dem Tau der Liebe. So hat der liebe Gott für das menschliche Herz gesorget, daß es weich bleibe im Leben. Erst gibt er einen Bräutigam, der schließt es auf, dann kommen Kinder und reinigen es, dann kommen Großkinder und erhalten es weich und warm, bis endlich Gott selbsten kömmt und es verklärt mit seiner Klarheit. So hat es Gott gewollt, es ändern wollen wäre Aberwitz und Grausamkeit; so könnte man mit dem gleichen Recht den Mädchen die Liebhaber verbieten, weil manches Mädchen durch sie verdorben, oder gar das Heiraten, weil noch mehrere dadurch an Leib und Seele unglücklich geworden sind.
Das Zusammenleben der Großmutter mit den Kindern bei Jowägers kann später jedenfalls nicht verhütet werden; des einen oder des andern wird sie, wenn sie wieder zurechtkömmt, was wir zu Gott hoffen wollen, doch wieder insbesondere sich annehmen, dasselbe mehr oder weniger zu dem ihrigen machen. Nun ists doch wahrhaftig besser, sie wähle dieses freundliche, milde Mädchen statt einem wilden, kräftigen Burschen. Ein solches Mädchen wird sie weitaus am wenigsten verderben, weil sie es nie von den übrigen wird losreißen können, denn ein solches Mädchen will allen lieb sein. Der vorige Bube hingegen war von allen mehr oder weniger getrennt, konnte mit der Großmutter alles machen, gegen alle nahm sie ihn in Schutz, darum frug er auch allen andern nichts nach. Möglicherweise wäre der verdorben worden, aber da hat Gott geholfen; möglicherweise hätte er durch den Zwiespalt, in welchen er mit allen immer mehr geriet, den bösesten Einfluß auf die Frau gehabt und die ganze Haushaltung gestört. Wer weiß aber, was die alte Frau in den Händen eines lieben, kleinen Mädchens wird, und ob dasselbe nicht recht versöhnend und mildernd auf ihre Seele wirket? Und das sollte nicht zu versuchen sein, Sophie, was meinst du?»
«Verzeiht, Papa», sagte Sophie, «ich bin ein vorschützig Ding. Rudi, es ist mir leid, wenn ich hart war und grob. Aber es kam mir schrecklich vor, so ein Kind als Mittel zu gebrauchen, und so stelltest du es dar; jetzt, da der Vater das Geistige herausgekehrt hat, fasse ich es, und belehren lasse ich mich gerne. Bis nit höhn!» «Nein, lieb Bäschen», sagte der Doktor, «wer wollte höhn sein? Auf diese Weise sehe ich Mädchen gerne böse. Aber ich muß wahrhaftig fort und kann vielleicht morgen nicht wiederkommen. Onkel, ich hätte eine Bitte an Euch!» «Was?» «Ginget Ihr mir nicht heute oder morgen zu der Frau und sähet zu, wie es steht, und versuchtet, sie zu erkunden und aufzurichten? Sollte irgend etwas Bedeutendes vorfallen, so sendet mir einen Expressen!» «Aber Növö, ich bin ein Geistlicher!» «Onkel, straft mich nicht; ich bin nicht schlechter als Sophie, die läßt sich ja auch belehren. Aber geht der Vikar zu ihr, so – schlage ich ihm beide Beine weg, er hört dann laufen.»
Das vom Doktor vorgeschlagene Mittel hatte seine erwünschte Wirkung, freilich nur langsam. Anne Bäbi wiederholte öfterer, es sei nicht schuld, und wenn man ihm lange einen Herr schick, ders säg, so sei es doch nicht wahr. Mädi hätte den Züg gebracht; was fürige es gewesen, wisse es nicht, Mädi werds wissen, sie sollten das fragen. Es hätte schon lange gemerkt, daß es ihm das Bubeli nicht gönnen möge, aber sein Lebtag hätte es an allem schuld sein sollen.
Der Pfarrer, vor welchem es auch so redete, wollte ihm sagen, es denke kein Mensch daran, ihm die Schuld aufzubürden. Da fragte es, warum man ihm da so einen schwarzen Mann habe kommen heißen, der ihm das habe sagen müssen, er hätte da neuis von einem Traum gesagt; das sei nur gewesen, damit es nichts merken solle, aber es hätte es doch gemerkt. Das sei gefahren wie Feuer durch ihns durch, es hätts geduecht, ke Stung möge es mehr leben, und es sei ihm noch so, wenn es dSchuld sein solle.
Der Pfarrer versuchte nun, ihm zu erklären, daß das sein Vikari gewesen, den niemand habe kommen heißen. Aber man hätte viel von ihrem Unglück geredet, und alle Leute hätten ein grusam Bedauern mit ihr gehabt, und da sei es gar wohl möglich, daß dem Vikari das im Traum vorgekommen sei. «Jawolle», sagte Anne Bäbi, «e sellige Herr, u de no e junge, wird von ere alte Frau traume! Und wenn er son es Bidure mit mr gha het, warum chunnt er de u seit, ih syg dSchuld?» «Ihr werdet ihn unrecht verstanden haben», sagte der Pfarrer, «er hat wahrscheinlich das Gegenteil gesagt, nämlich, Ihr hättet das Kind nur zu lieb gehabt, und deswegen hätte es Gott zu sich genommen.» «Su ist er e Sturm», sagte Anne Bäbi, «weiß dä de nit, daß es heißt, mi soll dKing liebha? Warum lat me de sellig umeangere laufe? Aber ih chas notti nit glaube.»
Unterdessen war Meyeli mit dem Kinde hereingekommen; draußen war ihm gerufen, da bot es dasselbe der Mutter dar und frug, ob sie es nicht einen Augenblick halten wolle, es komme gleich wieder. Das Kind machte anfangs ein Dureli (verzog das Gesicht zum Weinen), lächelte aber gleich wieder, machte ein freundlich Gesichtchen und streichelte die Großmutter mit seinen Händchen. Unterdessen sprach der Pfarrer: «Seht, meine liebe Frau, daß kein Mensch an solche Dinge denkt; sie würden Euch nicht ein Kind anvertrauen, wenn sie Euch nicht besser trauten als Ihr meint. Und das Kind könnte Euch nicht so lieben, wenn Ihr es nicht gut mit den Kindern meintet, die wissen es, wer es gut mit ihnen meint und wer nicht.» Sein Lebtag, sagte Anne Bäbi, hätte es die Kinder immer gliebet, sie sollten das neue afe wüsse un ihm de nit selligs zumute. «Aber gäll, du meinst das nicht», sagte Anne Bäbi zur Kleinen, «du fürchtest dich nicht vor der Großmutter? Gäll, du weißt, die tut dir nichts? Son es King het mängist meh Vrstang as groß Lüt. Aber wes es Unglück gä hätt, si wäre dSchuld gsi u hätte müsse dSchang ha, ih hätt mi desse nüt vrmöge, warum hei si mr welle dSchuld gä!»
Sobald Meyeli wiederkam, sagte Anne Bäbi: «Seh, nimms u gib ihm z'suge, u de chann ihs sauft no e weneli ha.» «Mutter», antwortete Meyeli, «ih säuge nimme.» «Säugst nimme, warum nit?» «Dr Dokter hets bifohle», antwortete Meyeli. «Es wird öppis angers sy», sagte Anne Bäbi, «aber wer het dr de ds King gha zNacht?» «Mädi», antwortete Meyeli. «Mädi, so, Mädi, dem vertrauist du de dys King, un ih bi dGroßmutter; so, jetz gsehn ih, wie drs meinit! Aber Mädi, die Täsche, solls nit ha, ih tues nit!» «Mutter, Ihr seid ja krank gewesen, wer hätte Euch da mit einem Kind plagen können? Sonst bhüetis, wem hätte man es lieber geben wollen?» «Aber ih bi nimme krank, u daß es ds Mädi heyg, tue ih nit, ih bi dGroßmutter; gäll, du arms Kingli, du hest müsse bim ene sellige Mönsch sy!»
Und Anne Bäbi wendete von selber Stund an alle Aufmerksamkeit auf das Kind, und wenn es schon zuweilen noch seine Pfeile abschoß und sagte, es duechs, es wells zrschryße, daß me ihm selligs dSchuld gä heyg, u si chönne selber dSchang ha, wes unger dLüt chömm, un es wär ne recht gscheh, wes ihm grate wär, so waren das nur hohle Worte und weder Salz noch Pfeffer darin. Es waren gleichsam nur so Leuchtkugeln, welche Weiber sehr oft bei der Hand haben, um alles um sich herum im Respekt zu erhalten. Es wäre aber sehr schwer auszumitteln, was Anne Bäbi kuriert, ob nach der Ansicht des Doktors die Liebe zum Kind oder eine andere Kraft, welche gar nicht in Rechnung gebracht worden, die Eifersucht gegen Mädi.
Wer berechnet da unten die Kräfte, welche sich regen, wenn von außen her etwas an den Menschen gebracht wird, irgend etwas in ihm in Bewegung zu setzen oder stillestehen zu lassen? Wir können rechnen ganze Bogen voll und akkurat ausrechnen, was jede Zahl in sich enthält, zweimal zwei oder xmal x, können abteilen den Hafer den Pferden und wägen das Wasser, welches ein Mühlrad treiben soll, aber im Menschen innen, da können wir nicht rechnen; es kann der Arzt nicht rechnen mit Bestimmtheit, wenn er den Leib heilen will, noch viel weniger, wenn er die Seele in der Kur hat. Des Menschen Inwendiges gleicht einem Gemache, dessen Wände aus lauter Knöpfen bestehen, die aber sämtlich verborgen sind; man mag sich in demselben bewegen, fast wie man will, so berührt man einen und merkt es nicht. Und dieser Knopf bewegt eine Feder, und etwas springt heraus, an das man gar nicht gedacht hat. Bald ists der Keim zu einem Übel, den man hervorruft, ein verborgenes Feuer, das den Rest der Lebenskraft verzehrt, bald eine eingeschlossene Kraft, die dem Leben neuen Aufschwung gibt, die Heilung alleine übernimmt.
Bricht eine verzehrende Kraft hervor, geht es bös, so sagt der Eine, das sei ein alter Rest, von dem hätte er nichts gewußt, oder da sei etwas ungsinnet dazugekommen, an das man nicht gesinnet; wenn das nicht gewesen, so wäre er gerettet worden ohne anders; ein Anderer aber sagt, da sei etwas, über das man noch nicht im reinen sei, oder denkt es wenigstens, denkt, welchen Knopf man wohl berührt, aber renommieren tut er nicht, macht freilich auch mit vielem Werweisen vor dem Krankenbett dem Leidenden nicht Angst. Bedenkliche Gesichter und unschlüssige Mienen gehören allerdings auch nicht vor den Kranken, sonst verliert er Mut und Zutrauen so gut wie die Soldaten, wenn der Feldherr nicht mehr weiß, wo er ist, oder gar den Weitern nimmt.
Geht es aber gut, ungsinnet, so sagt der Eine: «Ja gäll, han ihs nit gseit, han ihs nit troffe, macht das e Andere o?» Der Andere aber sagt: «Das hab ich nicht geglaubt; das haben wir Gott zu danken, der hat es über Menschenvermögen zum Besten gewendet.»
Kurioserweise nun halten die Menschen mehr auf dem Renommieren als auf dem sich Demütigen, und nicht nur bei Ärzten, sondern allerwärts, und je übersüniger einer tut, desto ein größeres Herrgötzli machen die Leute aus ihm, aber nur ihm zum Verderben; denn noch kein Goliath ist erstanden, dem nicht sein David nachgekommen wäre. Aber es war von Anfang so: der Teufel war der erste Renommist, Marktschreier, Rühmi, und Eva glaubte ihm auch mehr als Gott. Wo die Lüge überzieht in einem Menschenherzen, da zieht auch der Glaube an die Lüge vor, aber wer aus der Wahrheit ist, der erkennet die Wahrheit. Diese Wahrheit wäre der Schlüssel zu manchem Rätsel, wenn man ihn nur beachten wollte.
Den Doktor ärgerte diese Hülfe durch die Eifersucht, wo er nur auf Liebe gerechnet, nicht schlecht. Er gehörte nicht unter die, welche sich zuschreiben, an was sie nicht gedacht; dagegen wenn eine Kraft ins Spiel kam, an die er nicht gedacht und ihm die Heilung verdarb, so machte er sich schwere Vorwürfe, eben daß er nicht daran gedacht. Er ärgerte sich besonders darüber, daß da, wo man etwas Gutes erwarte, etwas Schlechtes zum Vorschein komme. Wir hätten eine Saunatur, sagte er, es erleide einem, Mensch zu sein. Längs Stück sehe man an einem Menschen nichts Gutes; komme einmal etwas zum Vorschein, an dem man Freude haben könne, und sehe man es genauer, so sei es so schlecht als das andere, nur hätte es der Teufel schön angestrichen. Rechne man im Menschen auf eine gute Kraft, so sei die nicht da, lasse einen im Stich, und statt derselben springe eine schlechte hervor und verrichte den gleichen Dienst. Das mahne ihn gerade, als wenn Teufel mit Schwänzen und Hörnern den Dienst von Engeln verrichteten, wo einem ob den Teufeln die ganze Sache verleidete, wie gut sie an sich auch wäre. So müsse es einem erleiden, mit dem geistigen Menschen zu tun zu haben, wo lauter Trug sei, alles täusche, wenn man nicht auf lauter Böses rechne. Da sei es in Beziehung auf den Körper doch unendlich besser, die Rechnung weit sicherer zu stellen und weit mehr zu trauen.
Der Pfarrer war nicht gleicher Meinung. Daß der Körper leichter zu behandeln sei als die Seele, gab er gerne zu; aber daß Böses im Menschen Gutes wirke, das sei eben das Trostreiche, ohne welches man verzweifeln müßte, ohne welches die Welt längst schon auf dem Kopfe stünde. Das sei eben Pfand und Siegel, daß der Teufel kein Gott sei, der mit unserm Vater im Himmel um den Sieg ringe, so daß dato noch zweifelhaft sei, welches obenauf komme, das Reich des Lichts oder das Reich der Finsternis. Es tue wohl der Teufel wüst und suche, was er vermöge; aber das eben sei sein Fluch und der Fluch aller derer, die ihm verfielen, daß sie wüst tun müßten fort und fort, aber nicht nur nichts abbrächten, sondern das Gute fördern, Gottes tätigste Diener sein müßten, siehe Exempel an Joseph und seinen Brüdern, Christus und den Juden.
Und wie es mit den Wesen sei, so sei es auch mit den Kräften; wie bös die auch seien, Gott spanne sie in seinen Pflug und pflüge damit sein Ackerfeld, daß es grüne und Früchte trage. Wenn man alles wegtun wollte auf Erden, was der Geiz, der Neid, die Ehrsucht usw. getan, es würde armselig aussehen auf Erden. Nun fromme das Gute, welches er wirke mit böser Kraft, dem Täter nichts zum Heil seiner Seele, im Gegenteil, zur Sünde werde es ihm gerechnet; dem Christen gereiche diese Wahrheit zur größten Freudigkeit; wie es auch stürme um ihn und dunkel werde zuzeiten, er zweifle nicht, werde nicht irre im Dienste des Vaters, dem jede Kraft zu Diensten stehe, der in die Hölle führe und wieder hinaus, der mit seinen Feinden trotz ihrem Winden seine Zwecke wirke.
«Ja, ja, das ist alles recht schön, Onkel», sagte der Doktor, «aber eine verpfuschte Natur haben wir doch, und das ists, was mich eben ärgert, daß ich mir selbst erleide, mich selbst anspucken möchte. Ich glaube es nicht, aber möglich wärs doch, daß der Teufel mich ritte in meinem Berufe, mich spornte, Andern voranzukommen, und das könnte mich so ärgern, daß ich dem Teufel zum Ärgernis mein Lebtag im Bette liegen bliebe, um ihm zu zeigen, daß ich nicht sein Narr sein möge.»
«Lieber Növö, ärgere dich nicht unnötig, aber werde etwas demütiger; das ist die Hauptsache, welche dir fehlt, du leidest halt auch an einer Zeitkrankheit, bist zu hochmütig, nicht gegen die Menschen, sondern eigentlich gegen Gott, und das ist eben der Unsinn. Willst Liebgottlis spielen und fühlst mit jedem Atemzug deine und Anderer Gebrechen; das macht dich taub, wirfst alle Augenblicke dem lieben Gott den Bündel vor die Tür und kriegst noch den Weltschmerz, die allerneuste Krankheit.
Drei Jungens haben von ihrem Vater drei Höfe geerbt, mager, wild, viel Steine dabei und Morast auch. Der eine der Jungen meint, was er hätte an seinem Höfchen, baut sich mitten im Dreck einen Thron von Steinen und setzt sich obenauf und brüstet sich oben, daß es ein Erbarmen ist. Dem zweiten ist der Hof zu unbedeutend, gering, er verschleudert ihn auf die mutwilligste Weise unter beständigem Schimpfen und Klagen, und erst wenn er ihn nicht mehr hat und nichts anderes dazu, fällt ihm ein, wie gut es wäre, wenn er doch wenigstens das noch hätte, was er gehabt. Der dritte aber kratzt sich wohl in den Haaren, aber er bauet sich keinen Thron in Dreck, verschleudert aber auch den Hof nicht, er räumt Steine ab, trocknet Moräste aus, säet mit fleißiger Hand, tut was möglich ist, und sieh, am Ende ist das magere, wilde Höflein doch dankbar, wird schön, ein lebend Lob seines Pflegers und lohnet ihn reich. So ists mit unserer Natur; sie ist auch ein mager, wild Höflein, aber verachte es nicht, Növö, sondern verbessere es, namentlich aus dem deinigen läßt sich so Manches machen, wächst ja schon so manches Gute wild. Falle nicht in den Fehler der Meisten, die ihr Erbteil entweder überschätzen oder zu gering schätzen; baue es, du wirst davon reichlich ernten, und Gott wird Freude daran haben. Und wo Löcher und Moräste sind, da hat Gott es wohl gemeint, wenn er Steine dazugelegt hat, mit den Steinen kann man die Löcher vermachen, eins ist wider das andere gut. Darum auch war Anne Bäbis Eifersucht da, die war auch so ein Stein, welcher ein Loch vermachte, ein Reiz, welcher den Verstand wieder aus dem Loche lockte, in welches er versunken war.»
«Ihr seid ein Kurioser, Onkel», sagte der Doktor, «Ihr dreht immer alles auf die bessere Seite, und darwider haben kann man nicht viel, aber alles so nehmen zu können, das ist eine Kunst, welche ich einstweilen nicht lernen werde. Eines aber müßt Ihr mir helfen. Euern Einfluß müßt Ihr anwenden, daß sie droben mir die alte Magd fortsenden. Das ist mir ein verfluchtes Mensch, das. Das ist eine von denen, die, wenn ihnen der Mann sagt: ‹Schwyg, oder ih schryße dr dr Gring ab!› antworten: ‹Un ih schwyge nit, u schryß ume, so surre ih no mit dr Röhre!› Die läßt mir meine Patientin nicht in Ruh; ihre Eifersucht ist nun ebenfalls erwacht, weil man ihr das Kind genommen und es der Alten gegeben, das kann sie gar nicht verwerchen. Wo sie nur kann, reißt sie dasselbe an sich, und kann sie das nicht, so stichelt sie: wenn es etwas Ungeschicktes gebe, so wolle sie nicht schuld sein, aber es duechte sie, man hätte es erfahren können, wie es ungsinnet etwas geben könne, an das niemand gesinnet.
Natürlich belfert dann die Alte auch, und das unterhält eine Aufregung, welche höchst schädlich ist. Es ist fürchterlich mit einer gewissen Klasse von Weibern. Wenn der Teufel in sie fährt, so muß es geredet sein, es muß use, und wenn jedes Wort eine Feuerflamme, die Welt ein Pulverfaß wäre, und wenn der Teufel mit einer dreizinggigen Gabel vor ihr stünde und sagte: ‹Schwyg, oder ih gable di uf!› sie schwiegen nicht: use mußs! Es ist mir schon manchmal ganz krampfhaft in die Hände gekommen und mir gewesen, als müßte ich so einer die Luftröhre etwas enger machen, und weil ich nicht durfte, hudelte es mich, als ob ich das ärgste Fieber hätte. Weiß Gott, Onkel, wenn es wirklich wahr ist, daß von jedem unnützen, geschweige dann von jedem verfluchten Worte Rechnung gegeben werden müsse, so habe ich es auch mit jenem Pfarrer, der einmal predigte, es seien keine Weiber im Himmel. Was meint Ihr, Onkel?»
«Weißt du, was der Papa meint?» antwortete Sophie rasch, «die Weiber mit den unnützen Worten würden da sein, wo die Doktoren, welche nie was Unnützes gemeint und nichts Unnützes verschrieben hatten, und so würden zirka gleich viel Weiber wie Doktoren im Himmel sein. Übrigens, mein lieber Rudi, tätest du besser, die Bibel auf dich anzuwenden statt sie ob den armen Weibern zu verdrehen; denn es heißt nicht, daß man um eines unnützen Wortes willen nicht in Himmel komme, sondern daß man davon Rechnung ablegen müsse. Und was wartet denn eigentlich dem, der die Bibel verdreht und nur spottsweise sie anwendet, könnt Ihr mir das sagen, hochgeehrter Herr Doktor?» «Aber Sophie», sagte das Mamali, «du bist doch so puckt und aufbegehrisch, der Vetter hat ja nur Spaß gehabt.» «Ich kenne den Spaß», sagte Sophie, «und was dahinter steckt; hat er aber wirklich nur Spaß gehabt, so wird er meine Worte auch nur spaßweise aufnehmen; so ein gelehrter Herr wird wissen, daß es aus dem Walde kömmt, wie man hinein schreit.»
«Kinder, zankt nicht!» sagte der Vater, «und du, Sophie, geh und sieh, daß die Suppe uns nicht anbränntet; dein Ämtchen scheinst du mir ganz und gar zu vergessen und zu vergessen, daß ich es recht wohl leiden mag, wenn ein Mädchen mit allerlei Dingen sich befaßt, jedoch nie auf Kosten dessen, was es eigentlich soll. Du aber, Rudi, vergreife dich nicht an der alten Dienstmagd, dem Mädi, und mute den Leuten ja nicht zu, daß sie dieselbe fort tun! Ich kann wirklich nicht begreifen, wie dir nicht gleich eingefallen ist, daß dieses geradezu die entgegengesetzte Wirkung hervorbringen würde. Die Magd und die Frau sind wohl an die dreißig Jahre beieinander, und das Kifeln, welches dir aufgefallen, dauert ebenfalls an die dreißig Jahre, sie haben sich beständig gezankt und doch nie entzweit; Mädi wollte eine Art Ebenbürtigkeit behaupten, sich nicht kujonieren lassen, und Anne Bäbi wollte zeigen, daß es die Meisterfrau sei. Dieses beidseitige Streben war dreißig Jahre lang ihre Lebensfreude, war zum eigentlichen Lebenselement geworden, gab ihnen auch die beiden so notwendige Gelegenheit zum Reden, welche ihnen das schweigsame Mannevolk selten gewährte.
Gegenüber dem Mannevolk waren sie einig, machten ihm gemeinsam den Marsch, hatten ihre Freude an den Schlemperligen, welche sie ihnen anhängten. Weil sie gleichsam den gleichen Feind hatten, so meinte Mädi, sie müßten auch die gleiche Liebe haben; darum, was Anne Bäbi liebte, liebte Mädi nicht nur, sondern meinte auch, der Gegenstand dieser Liebe müsse ihns noch mehr lieben als Anne Bäbi, daher die Eifersucht. So ging es mit Jakobli, dann mit dem gestorbenen Kind und jetzt mit diesem. Das ist also gar nichts Neues, es wird Anne Bäbi nicht aufregen, wenn Mädi trumpft, wird ihm im Gegenteil ins alte Geleise helfen, aus welchem ihns nur das Unerwartete, Unbekannte brachte, ein Tod, den es seit seiner Ehe noch nicht erlebt, ein Vorwurf, den es noch nie gehört. Je mehr das Alte, Gewohnte ihns wieder in Anspruch nimmt, desto mehr werden die neuen und ungewohnten Eindrücke sich verwischen, das Gleichgewicht sich wieder herstellen. Entfernt aber die Magd, so wird Anne Bäbi neu aufgeregt, wird meinen, man habe das ihm zuleid getan, wird sich einbilden, sie seien die besten Freundinnen gewesen, und deswegen habe Mädi fort müssen; für die Folgen, welche dieses hätte, stehe ich dir nicht.»
«Aber Onkel, wenn ich bei gesundem Verstand dabei sein müßte, ich würde ein Narr; was muß das für eine Wirkung haben bei einer Frau, die eben nicht gesunden Verstandes ist?» antwortete der Doktor.
«Ihr Doktoren seid auch kurios», sagte der Pfarrer. «Ihr redet so oft davon, daß die Heilmittel einer jeden Natur angepaßt sein müßten, und vergeßt es doch so oft in der Anwendung. Davon will ich nicht reden, daß ein Fremder die Volkseigentümlichkeiten nicht beachtet, ein Stadtarzt das Leben der Landleute nicht berechnet, viele an die Familienanlagen nicht denken, sondern davon, daß ihr Ärzte so oft in den Fehler fallet, von eurer Natur und Eigentümlichkeit aus die Zustände aller andern Menschen zu beurteilen und zu berechnen.
Es gibt Ärzte, welche schwächlicher Art sind und vor vielen Dingen sich in acht nehmen müssen oder sich in acht nehmen zu müssen meinen; die gleiche Lebensweise und Sorgfalt dringen sie nun ihren Patienten auf und verderben sie auf diese Weise durch Verzärtelung. Andere bilden sich ein, wenn es sie am Kopfe beißt, es sei eine Gehirnentzündung im Anzuge, oder wenn es sie am Rücken jucket, es formiere sich eine Rückenmarkauszehrung, und nach diesem Meinen und Fürchten beurteilen sie die Zustände der Patienten und kämpfen als wie mit Löwen, während nur Mücken um sie tanzen. Handkehrum aber, wenn es sie selbst am Kopfe nicht beißt, so denken sie an keine Gehirnentzündung und sehen den bedenklichsten Zustand nur für ganz ordinäres Kopfweh an. Andere sind Meisterlose und schwatzen allen Leuten ihre Meisterlosigkeit auf, essen zeitweise keinen Salat zum Beispiel, dann soll niemand mehr Salat essen, oder trinken kein Bier, dann soll es auch männiglich lassen.»
«Aber Onkel, haltet Ihr mich denn eigentlich für einen Tropf, daß Ihr mir solche Beispiele vor Augen haltet?» fragte der Doktor.
«O nein, lieber Rudi, du bist meines lieben Bruders lieber Sohn; aber ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, daß du ein Mensch seiest wie andere Menschen. Nun hat jedes Menschen Auge seine eigentümliche Färbung, und wie die Farbe vom Sonnenlicht kömmt, das durch die Gegenstände verschieden gebrochen und zurückgeworfen wird, so brechen und spiegeln auf verschiedene Weise die Gegenstände in unserem Auge sich ab, je nachdem das Auge beschaffen, gefärbt ist. Diese Färbung wechselt bei manchem Menschen stündlich, bei andern unmerklich in der Jahre Lauf. Dieser Färbung unterliegt auch der Arzt trotz Wissen und Erfahrung, er sieht die Dinge eigentümlich an und nicht immer gleich, oft klarer, oft ganz nach eigentümlicher Stimmung.
Es hängt des Menschen Heilung also nicht bloß von des Arztes Wissen, seinem Eifer ab, sondern auch von der jedesmaligen Färbung des Auges, wenn nämlich des Menschen Heilung alleine in des Arztes Kunst gestellt wäre. Dieser Schwachheit bist du unterworfen, andern Menschen gleich, trotz allem deinem Wissen. Was dir wehtäte, die beständige Opposition, das Kifeln über nach deiner Meinung ausgemachte Dinge, das willst du verbieten und bedenkest nicht, daß es in gegebenen Naturen ein Lebensreiz nicht nur, sondern ein Lebensbedürfnis ist. Glaube mir, lieber Növö, die Beurteilung des Zustandes eines Menschen rein nach dessen innerer und äußerer Eigentümlichkeit ohne Einmischung unserer Neigung oder Abneigung, unserer Vorurteile oder vorgefaßten Meinung (unserer eigenen Subjektivität) ist eine Sache, die ins Gebiet der Unmöglichkeit gehört, wo mit der größten Anstrengung nur eine Annäherung möglich ist. Für Arzt und Pfarrer ists daher von der größten Bedeutung, dieses nie aus den Augen zu lassen; wer das nicht tut, macht sich zum Papst, und das ist eben lätz und sehr gefährlich.»
«Aber Onkel», sagte der Doktor, «Ihr nehmt mir da ein zufällig Wort wieder so schwer auf und knüpft Wahrheiten daran himmelhohe, es ist gar nicht mit Euch auszukommen.» «Lieber Rudi, eben die sogenannten zufälligen Worte drücken bestimmte Ansichten aus, sind Blätter, die von einem Stamme fallen, und der Stamm hat seine Wurzeln tief unten in der Seele, und wenn ich bei jedem Worte, das dir aus dem Munde kömmt, dir die Wurzel zeige, welche es emporgetrieben, so verzeihe es mir! Ein alter Pfarrer hat auch seine Angewöhnung, und die meine ist die, innerlich in all seiner Bedeutung nachzuweisen, was äußerlich nur als zufällig erscheinet. Und wenn ich dich auch aufmerksam machen wollte, daß du von der übrigen Menschen Beschränkung nicht frei seiest, so wollte ich dich damit nur billig machen gegen den Vikari, der aus gleichem Grunde fehlte, welcher dich auch fast einen Fehler machen ließ.»
«Aber Onkel, ich hoffe doch nicht, daß Ihr mich mit dem Vikari zusammenzählen werdet, so ein halbverrückter Sturm bin ich denn doch nicht!» sagte der Doktor. «Sieh mal, lieber Növö, wie du gleich böse wirst, wenn man dir sagt, du seiest dem Irren unterworfen wie andere Menschen, auch wenn man dich auf der Tat ertappet. Du beurteiltest das Verhältnis von Mädi und Anne Bäbi nach deinem persönlichen Gefühl und nicht nach ihren eigentümlichen Naturen, und was tat der Vikari anders? Er beurteilte die Lage von Anne Bäbi und wollte sie benutzen nach dem ihm eingebläueten Systeme, das er für das einzige wahre hält und hauptsächlich deswegen, weil er ebenfalls die Welt als ein großes Tintenfaß ansieht, durch welches man waten muß unter Heulen und Zähneklappern, um zur himmlischen Freude zu gelangen. Er macht ein so unglückliches Gesicht, und weil er meint, er habe das rechte Trom ergriffen, so meint er ebenfalls, wen man selig machen wolle, den müsse man vorerst zum gleichen Gesichte bringen.
Das ist eben die unglückliche Systemkrankheit, welche aber unter den Ärzten zu Hause ist wie unter den Theologen, unter den Pietisten wie unter den Ungläubigen. In solchen Händen wird jedes System zu dem berüchtigen Bette, in welches man seine Patienten legt; sind sie zu lang, haut man sie unten ab, sind sie zu kurz, reißt man sie auseinander, bis sie oben und unten ankommen, ob es ihnen wohl oder übel tut, frägt man nicht, man handelt nach seiner Überzeugung, und wer von seinen Kollegen nicht so handelt, den verdammt man, macht Ketzergerichte, wenn man kann, hält einen Arzt zum Beispiel, der Speck und Salat oder gar Specksalat nicht radikal verbietet, für einen Mörder von Handwerk, dem man es legen soll je eher je lieber. Darum, lieber Rudi, hudle mir den Vikari nicht!
Ich zähle dich allerdings nicht mit ihm zusammen, aber an Unduldsamkeit bist du ihm ähnlich. Ich bin auch nicht immer mit ihm zufrieden, das weiß Mamali am besten; aber ich lasse ihn gewähren, weil ihm das Vertrauen zu mir fehlt, welches die Jugend selten zum Alter hat. Mit dir habe ich offen gesprochen, weil du mir lieb bist, ich dir hoffentlich auch, und ich dich von der Einseitigkeit heilen möchte, welche so gerne den beschäftigten Arzt beschleicht, daß er alles um sich verachtet bis an sich selbst, welche Einseitigkeit übrigens auch nicht selten den ehrlichsten Geistlichen anfliegt, der einsam lebt, der um so geringer das Wirken anderer würdigt, je unverwandter er seinen Blick auf das eigene richtet. Beide werden so gerne ungenießbar für die Menschheit, aber unerschöpflich in Klagen über sie. Doch, lieber Rudi, wir kommen vom Hundertsten ins Tausendste, wie es auch wieder leicht den Leuten geht, die denken, aber selten zum Reden kommen; fangen sie jemals an, so will dann alles, was sie gedacht, auf einmal raus.»