Paul Grabein
Ursula Drenck
Paul Grabein

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22. Kapitel.

Ein leises Klopfen an die Tür.

Wigand fuhr aus seinem Sinnen auf und rief sein »Herein!« Ein junges Mädchen erschien mit einer Mappe voll Postsachen.

Es war die Abendstunde, wo Wigand mit der Oberin alle nötigen Angelegenheiten für den kommenden Tag zu besprechen pflegte. Allein Ursula hatte sich heute bei ihm entschuldigen lassen: Sie fühle sich doch nach den vielen Nachtwachen jetzt recht abgespannt. Sie hätte sich daher schon gegen sechs nach Haus begeben, um sich einmal wieder im eigenen Bett ordentlich auszuschlafen. So brachte denn jetzt an ihrer Stelle die Sekretärin die ganze Korrespondenz und Briefeingänge des Tages Wigand aufs Zimmer.

Seiner Aufträge und Unterschriften gewärtig, blieb das junge Mädchen wartend im Zimmer stehen. Aber Wigand warf einen Blick auf die Uhr – schon acht durch! – und er winkte ab:

»Danke, Fräulein Gerth! Sie brauchen nicht länger zu warten. Ich erledige alles selbst.«

Froh, ihr langes Tagewerk beendet zu sehen, entfernte sich das Mädchen und Wigand blieb allein zurück. Aber er ließ die Postsachen unberührt liegen wie das Abendbrot, das schon seit einer Stunde hinter ihm auf dem Sofatisch auf ihn wartete. Langsam lehnte er sich wieder in den Sessel zurück, seine Gedanken da aufzunehmen, wo sie der Eintritt der Sekretärin unterbrochen hatte.

Ursula! Um sie drehte sich sein Denken in dieser stillen Stunde. Immer wieder mußte er an ihre Mitteilung heute denken, daß sie es nun endgültig beschlossen habe, Diakonisse zu werden, und immer wieder befiel ihn das Gefühl erstickender Angst, daß er sie sicherem Verderben entgegengehen sähe, ohne daß er sie zu retten vermöchte. Ihm war's, als sähe er sie vor den Mauern stehen, die sie für immer der Welt entziehen, sie lebendig begraben sollten. Dies blühende, reiche Leben, diese Schätze hochsinniger Weiblichkeit sollten nun in dumpfer Krankenhausluft in einförmig freudlosem Dienst an Fremden langsam welken und verdorren!

Ah! Er ballte die Hände in aufsteigendem Ingrimm gegen das Schicksal, das dies so wollte. Aber was wütete er gegen das Fatum? War es nicht so ihr eigener Wille, ein freiwilliges Gelübde, das sie ungezwungen getan?

Ja, wenn es nur wirklich ungezwungen gewesen wäre. Er stützte grübelnd die Stirn in die Hand. Hatte sie nicht vielleicht am Sterbebette Freds eine Zwangsvorstellung gepeinigt und zu dem verzweifelten Entschluß getrieben, an den sie sich nun gebunden fühlte? Wigand zermarterte sich den Kopf, den Grund für einen solchen Gewissenszwang bloßzulegen. Eine geheime Schuld – vernachlässigte Pflichten ihrem Gatten gegenüber. Aber sie hatte doch, wie er selbst gesehen, dessen Launen und Leiden stets mit rührender Geduld ertragen. Also das konnte es auch nicht sein.

Was aber dann?

Es blieb eben nur die eine Annahme: Sie hatte genug kennen gelernt von den Enttäuschungen der Liebe und der Ehe. Sie wollte nicht noch einmal den vernichtenden Kampf um scheiternde Hoffnungen durchmachen, sie fühlte ihre wunde Seele dem nicht mehr gewachsen. Da hatte sie sich denn gelobt: Nie wieder etwas davon! Lieber entsagen, verzichten auf das Trugglück und im ernsten Arbeiten für die leidenden Mitmenschen Ersatz dafür suchen.

Gewiß, so mußte es sein.

Wigand richtete sich auf. So ging es also ihr wie ihm: Auch er würde nicht zum zweiten Male wagen, in den schwankenden Nachen des Glückes zu steigen. Freilich, ein Unterschied war da zwischen ihr und ihm: Wenn er nicht mehr daran dachte, so geschah es, weil er nie aufgehört hatte, an sie zu denken, sie zu lieben.

Nein, nein! Belogen hatte er sich, wenn er gewähnt hatte, nur die Kameradin fortab in ihr sehen zu können, nur wie für eine Schwester für sie zu empfinden. Wenn er es wirklich noch nicht gewußt hatte – der heutige Tag hatte ihm die Binde von den Augen gerissen. Was hatte er gelitten heute morgen, da, wie sie mit den Kindern kniete, ein Bild madonnensüßer Weiblichkeit. Wie hätte er sie da emporreißen mögen an sein Herz, an seine Lippen! O, wenn er nur ein sekundenlanges Aufleuchten in ihren Blicken, ein einziges letztes Fünkchen jenes Sonnenglanzes gewahrt hätte, der ihm einst da gestrahlt hatte – keine Macht der Erde hätte ihn zurückgehalten, im Sturm hätte er sich sein Glück zurückerobert!

Aber nichts glänzte ihn mehr an aus diesen Augen – erloschen war die Glut für immer.

Schwer atmete er. Er konnte, er konnte es ja nicht fassen: Wie konnte denn das zu Ende gehen, in nichts sich auflösen, was einst so groß, so gewaltig, so unbezwinglich gewesen war? Sah er's doch an sich. Und wenn er noch zwanzig, noch dreißig Jahre sein Leben weiterschleppen sollte, das würde nie in ihm ersterben – so wahr er in dieser Stunde sein Herz in tiefstem Weh brennen fühlte.

Und sie? In ihr war alles, alles vergessen und erstarrt. Die Jahre mit ihrem Leid hatten das Licht ausgelöscht, das ihm einst so sonnig gestrahlt hatte. So war es aber nicht die wahre, starke Flamme gewesen – nur ein flackerndes, schwaches Feuer, das dem rauhen Sturmblasen nicht standhielt. Ja, ja – nicht anders war sonst dies schnelle Verglimmen zu erklären. Und doch, er hätte einst auf diese heilige, starke Flamme geschworen. – War es überhaupt Frauenart so, wollte die Glut beständig neu genährt sein, vertrug sie nicht, daß der Hüter sich lange von ihr schied? Oder war eben nur Ursula eine jener schwachen, unbeständigen Weibesnaturen?

Fruchtloses, schmerzliches Wühlen und Grübeln! Es führte ja doch zu nichts. Wigand raffte sich auf. Es war wohl doch schon so das beste: sie ging den Weg, den sie sich gewählt, fand in eng begrenztem Kreis den Halt, den sie für das Leben brauchte, und er suchte Trost in seiner Arbeit.

Wigand zog mit einem Ruck den Sessel an den Schreibtisch und nahm die Mappe mit den Postsachen zur Hand. Eine Anzahl laufender Korrespondenzen mit Patienten und Geschäftsleuten, Rechnungen, Quittungen – da hier, ein Bankavis von der Deutschen Bank, mechanisch überflog er das Blatt Papier, aber plötzlich stutzte er – die Höhe der Summe ließ ihn doch genauer zusehen. 2500 Mk., eine so große Zahlung – was war denn das? Er begann die Zeilen zu lesen, das Datum – ach so, der Quartalserste, die fällige Miete für die zwei Etagen des Gartenhauses, in denen die Klinik eingerichtet war. Aber, halt – hier auf einmal Ursulas Name? Was hatte denn der – noch einmal las er langsamer, aber da stand klar und deutlich: »Im Auftrage von Frau Ursula Drenck beehren wir uns, Ihnen beifolgend 2500 Mk. zu übersenden, über deren Eingang Sie gefälligst auf beiliegender Postkarte quittieren wollen.«

Ja – aber mein Gott, was hieß denn das? Wenn da gestanden hätte: »Im Auftrag von Fräulein von Rommertz«, aber so? Verständnislos starrte Wigand das Papier an, nun sah er noch einmal hin, aber da stand ja der Name des Fräulein von Rommertz, da oben – aber als der der Adressatin! Also die Bank hatte die Summe im Auftrage Ursulas an deren Freundin gesandt. Ja, aber warum das? Hatte Fräulein von Rommertz denn nicht selber genug verfügbare Mittel? Sie sollte doch so vermögend sein. Wie kam also Ursula dazu?

In Wigands Gesicht zuckte es plötzlich auf – ihn flog da eben ein Gedanke an, ein Verdacht.

Finster brütete er vor sich hin. Aber nicht doch, nicht doch – solche Komödie konnte man ihm doch nicht vorgespielt haben. Und er setzte sich hin, schob das rätselhafte Schreiben beiseite und wollte weiterarbeiten.

Aber wieder und wieder kam dieser quälende Verdacht. Da sprang er auf: Es half nichts, er mußte sich Gewißheit verschaffen. Aber wie?

Er sann nach. – Ah, richtig! So mußte ihm Auskunft werden. Schnell ging er hinüber in das Zimmer der Sekretärin. Sie war schon fort, so mußte er eine Weile suchen, ehe er in dem Bücherregal mit den Shannonregistern den richtigen Band fand. Er kümmerte sich ja sonst nie um diese rein kaufmännischen Angelegenheiten des Unternehmens.

Nun blätterte er mit fliegenden Händen: D – hier, Deutsche Bank, eine ganze Anzahl von Korrespondenzen – sie interessierten ihn nicht – rückwärts, rückwärts bis zum Termin der ersten Mietzahlung vor knapp einem Vierteljahre! – Da, hier, Wigands Finger zitterten, wie sie die Seite umschlugen, und nun ließ er den Band schwer auf den Tisch fallen: Da war wieder derselbe Brief, wörtlich derselbe; auch diese Miete hatte Ursula gezahlt!

Eine Weile stand Wigand wie erstarrt, dann tat er auch noch das letzte. Er durchflog auch alle die anderen Schreiben der Bank – es war, wie er es ja nun nicht anders mehr erwartete: Alle, alle Bezahlungen für die Klinik waren von Ursula geleistet; also nicht Fräulein von Rommertz – Ursula Drenck war die wirkliche Besitzerin der Anstalt, die Freundin war nur vorgeschoben.

Wigand richtete sich langsam auf und stützte sich schwer auf den Tisch. Das war eine furchtbare Entdeckung!

Aber warum diese Komödie – warum?

Seine Gedanken flogen zurück, in jene Stunde, wo Ursula ihn zu bestimmen gewußt hatte, die Position hier anzunehmen. Er vergegenwärtigte sich noch einmal jedes Wort, das sie gesprochen. Gewiß, sie hatte ja damals ganz so getan, als ob sie nur im Interesse der Freundin, oder doch hauptsächlich deswegen, ihn gewinnen möchte – aber nun lag es ja klar zutage: nicht um der Freundin willen, um seinetwillen war das alles geschehen. Sie hatte ihm eine Existenz schaffen wollen – darum, einzig und allein darum, diese ganze Komödie!

Eine heiße Röte schoß plötzlich in Wigands Antlitz, eine Röte der Scham: Er, der nie im Leben eines Menschen Hilfe nachgesucht, hatte – ohne daß er es wußte, freilich – Unterstützung empfangen, Almosen!

Und zu der Scham gesellte sich auflodernd der Zorn: Wie durfte sie das wagen? Gerade sie!

Und wieder durchzuckte ihn ein aufblitzender Gedanke: Ja, gewiß – so war es! Weil sie sich innerlich schuldbeladen gegen ihn fühlte, weil sie ihm statt lauteren, klaren Goldes der Liebe damals ein wertloses, unechtes Empfinden täuschend gegeben, das ihn dann hineingelockt hatte in all sein Unglück, darum hatte sie ihm jetzt das getan.

Haha! Bitter lachte Wigand auf. Mit Geld, mit wohlfeilem Geld hatte sie ihre Seele freizukaufen und ihn abzufinden gesucht!

Schwer sank er in einen Stuhl; das war ja ein Schlag, noch schwerer als alles, was ihm bisher von ihr gekommen war.

Minutenlang saß er so regungslos. Nun war ja alles wieder vernichtet – nun hieß es also wieder von neuem beginnen. Ja, nicht einmal die Möglichkeit, bei der Schutztruppe einzutreten, bot sich ihm jetzt, nachdem er seine Meldung wieder zurückgezogen hatte. Er konnte sich doch nun nicht wieder von neuem melden – sich lächerlich machen! Was also nun?

Aber ganz gleich, was auch kommen würde, jetzt hieß es nur hier ein Ende machen – ihr das Almosen vor die Füße werfen, das sie gewagt hatte ihm zu reichen.

Mit einem Ruck erhob sich Wigand, stellte das Briefregister wieder an seinen Platz und ging hinüber in sein Zimmer. Schwer streifte dort am Schreibtisch seine Feder über das Papier hin.

Dann klingelte er.

Die Schwester du jour erschien.

»Bitte, Schwester Martha, hier der Brief muß sofort an Frau Drenck. Friedrich« – der Diener, der unten im Souterrain wohnte – »soll ihn gleich hintragen.«

»Gewiß, Herr Doktor. Ich werde es dringlich machen,« versprach die Schwester und nahm das Schreiben mit fort.

So war Wigand denn wieder allein. Aber es litt ihn nicht in dem engen Raum. Er zog sich an und ging aus dem Haus, dessen Luft ihn jetzt mit Zentnerlast bedrückte, in dem er nicht mehr atmen konnte.

 


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