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»Herr Doktor ist noch nicht drinnen.«
Das gerade vorübergehende Hausmädchen bemerkte es zu der stellvertretenden Oberin, die sie an die Tür zu Wigands Sprechzimmer klopfen sah. Es war acht Uhr morgens, wo dieser sonst immer gerade in die Klinik zu kommen pflegte. Auch Ursula war eben erst ins Haus getreten und hatte nur schnell in Beates Zimmer abgelegt.
»Es ist gut,« dankte sie leicht dem Mädchen und trat dann entschlossen schon immer in den Raum ein. Sie mußte ihn sprechen, ehe er noch mit einem andern hier ein Wort gewechselt, das vielleicht alles zu spät machte!
Trotz ihrer festen Entschlossenheit trat nun aber doch ihr Fuß zaudernd über die Schwelle des Zimmers. Eine bange Scheu legte sich ihr beklemmend ums Herz. Daß sie hier so eindrang! – Was würde er von ihr denken? Überhaupt, wie würde er aufnehmen, was sie ihm sagen wollte?
Heute nacht, wo sich ihr in schweren Kämpfen dieser Entschluß aus der Seele gerungen hatte, da war ihr ja alles in der fast ekstatisch erregten Stimmung so klar, so überzeugend erschienen: Sie mußte einfach so handeln, und er würde sie selbstverständlich richtig verstehen. Alles würde gut werden.
Aber nun, wo sie ihr Vorhaben im nüchternen Licht des Alltags betrachtete, kam es ihr so ungeheuerlich vor. Und bebenden Herzens, in tiefstem Zagen stand sie nun da und wagte kaum zu atmen in dem Raum, wo sie der Hauch seiner Persönlichkeit anwehte.
Nun drängte, während sie angstbeklommen auf jeden Tritt draußen lauschte, in wilder Flucht alles noch einmal auf sie ein, was sie bestürmt hatte seit gestern, wo sie abends still auf ihrem Zimmer gesessen hatte. Immer und immer wieder hatten ihr da seine Worte vom Morgen in den Ohren geklungen: »Die Frau, die ich haben möchte, werde ich nie haben.« Und dazu sein Blick, sein trauriger Blick, wie der in ihrem Herzen brannte!
Sie wußte es nun: Er liebte sie unverändert wie ehedem – wie damals in der längst entschwundenen seligen Jugendzeit, wie später in jenen Leidenstagen am Genfer See, wo sie seine noch einmal emporlodernde Liebe so selig und unselig gemacht hatte. Und abermals, zum dritten Male fiel ihr jetzt ihr Schein ins Herz – zum letzten Male nun und kein loderndes Flammen mehr, nein, nur ein letztes blasses Aufleuchten noch, dem bald das traurige Erlöschen folgte.
Sie hätte in Tränen zerfließen mögen, so todestraurig war ihr selbst ums Herz; aber ihre Augen blieben trocken. Nur, wie sie brannten in unsagbarem Schmerz! – Da sah sie noch einmal den Stern ihres Glückes aufschimmern, mit zuckenden Händen hätte sie nach ihm greifen mögen – aber da stand sie starr mit ineinander gekrampften Händen: Sie durfte ja nicht – ihr Schwur an Freds Sterbelager!
In diesen Stunden der Qual hatte sie Wigands Brief erreicht. Ein furchtbarer Geißelhieb traf da ihre gemarterte Seele, aber er machte sie aufbäumen und in verzweifeltem Ringen ankämpfen gegen die ehernen Bande, die sie so erbarmungslos umschlossen.
Die wenigen, aber schrecklichen Worte seines Schreibens hatten sich wie Flammenschrift in ihre Seele gebrannt; sie standen ihr mit jedem Federzug vor den Augen:
»Sehr geehrte gnädige Frau!
Ein Zufall hat mich soeben belehrt, welches Spiel Sie mit mir getrieben haben, daß Sie gewähnt haben, ein zertretenes Herz mit Händen voll Gold aufwiegen zu können! Ich kann zu Ihrer Entschuldigung nur annehmen, daß Sie überhaupt nicht fähig sind, zu ermessen, was Sie mir damit antaten, als Sie mich mein Leben von Ihrer Gnade fristen ließen. – Ich würde auf der Stelle aus diesem Hause eilen, in dem ich seit dieser Entdeckung zu ersticken drohe, wenn mich nicht die Pflicht gegen meine Patienten hinderte, einfach davonzulaufen. So bleibe ich denn – notgedrungen – bis ich einen geeigneten Vertreter beschafft, was in wenigen Tagen geschehen sein wird.
Ich darf wohl aber erwarten, daß Sie so viel Rücksicht wenigstens auf mich nehmen werden, daß Sie mir Ihren Anblick in diesen Tagen ersparen. Ich kann die geschäftlichen Angelegenheiten so lange – ohne jeden Schaden für Ihr Unternehmen – mit Schwester Martha und der Sekretärin erledigen.
Wigand.«
In unaussprechlicher, stummer Qual hatte Ursulas Herz gezuckt: Das konnte er von ihr denken – so ihr Werk hilfsbereiter Freundschaft auffassen? Sein Leben hatte sie neu ausrichten wollen, und nun hatte sie es ganz zertrümmert. Nun würde er sich verzweifelt hinaustreiben lassen in den Strom der Welt und irgendwo zerschellen und ertrinken. Durch sie – wieder um ihretwillen!
Wie ein böser Dämon hatte sie stets und stets nur verheerend in sein Leben eingegriffen, und nun das Ende: Für das Gute, das sie gesät, hatte sie Verderben geerntet – seine Liebe hatte sich nun in Haß gewandelt.
Nein, nein! schrie es in ihr auf, und wie ein Aufruhr ihres ganzen Innern bäumte sich alles dagegen auf. Nein, nein! Es sollte nicht sein – sie wollte nicht, und wer wagte es, sie daran zu hindern?
Warum sollte er zugrunde gehen und sie? Warum sollte sie das erlösende Wort nicht sprechen, das ihm den furchtbaren Irrtum benahm, das ihm ihr Herz zeigte, wie es sich blutig wand in Sehnen nach ihm? Warum nicht?
Ah, du blasser Schatten da, der du auftauchst aus dumpfer Gruft, willst du es wehren? Was starrst du mich so ernst, so herrisch an? Was willst du? Hab' ich dir nicht genug gegeben – meine Jugend, meine schöne, unwiederbringlich-verlorene Jugend, an deiner Seite vertrauert in unsäglichem Leid? Hab' ich damit nicht gesühnt, was ich an Leid über dich gebracht, ohne es doch zu wollen? – Oder meinst du, ich sei gebunden durch mein Gelübde, das ich in selbstvergessener Verzweiflung und übertriebener Reue tat? War's nicht aus freien Stücken, daß ich's gab? Was hindert mich nun, es zu widerrufen!
Nein, nein – du sollst mich nicht mehr schrecken, mir den Willen nicht lähmen! Ich will nicht, hörst du? Ich will nicht. Ich will nicht mehr in sklavischer Furcht, sobald du Schatten nur erscheinst, mich angstvoll ducken und alles Sehnen und Hoffen wieder verjagen – nein, ich stehe aufrecht und sehe dir ins Gesicht: Komm her! Auge in Auge! Unsere Rechnung ist ausgeglichen. Frei bin ich von meiner Schuld gegen dich! – Das Übermaß der Last, das du auf mich gehäuft, es läßt mich jetzt abschütteln, was mich zu Boden drücken will. Frei will ich sein und meinen Anteil haben an Leben und Glück. Ich will – und du wirst mich nicht hindern! – –
Hundertmal hatte es Ursulas Seele, aus langer Knechtschaft sich emporraffend im Selbsterhaltungstrieb, hinausgeschrien in dieser Nacht – in einem Freiheitstaumel. Der Schrecken vor Freds Schatten war gewichen in diesem gewaltig daherbrausenden Sturm neu erwachenden Lebens; auch jetzt in der Stunde der Entscheidung trat er nicht mehr ängstigend vor ihre Seele. Und doch war nun ihre Brust so eingeschnürt – die zage Scheu des liebenden Weibes, das vor dem Manne den Schleier von ihrer Seele ziehen will.
Da – jetzt draußen Schritte, Worte – seine Stimme! Ursula fuhr sich mit der Hand zum Herzen. Und nun ging die Tür auf. Wigand trat ein.
Ein jähes Erschrecken, dann ein aufflammender Zornesblick – also sie doch hier, trotz seiner Bitte! – und schnell griff seine Hand wieder zur Tür.
»Nur ein Wort – ich beschwöre Sie!« Flehend rief sie es.
Ein kurzes Schwanken.
»Sprechen Sie,« befahl er dann, noch an der Tür.
»Sie tun mir bitter unrecht in Gedanken.« Ursula preßte die Hände krampfhaft um die Lehne des Stuhls, an die sie sich hielt. »Zwar haben Fräulein von Rommertz und ich allerdings den wahren Sachverhalt hier vor Ihnen geheim gehalten –«
Ein bittrer Laut entrang sich seinen Lippen, so daß sie die Hände zu ihm erhob.
»Nur fürs erste! Später – zu geeigneter Gelegenheit sollten Sie natürlich alles erfahren. – Aber wie konnten Sie mir das – das Motiv unterschieben?«
Statt jeder Antwort traf sie nur sein flammender Blick, der ihr bis in die innerste Seele drang.
»Im glühenden Wunsche, Ihnen als Freundin die Wege ebnen zu können . . .«
»Reichten Sie mir eben das Almosen hin!« Verächtlich, mit erglühenden Wangen, schleuderte er es ihr ins Gesicht.
Ursula wurde bleich; einen Augenblick rang sie noch einmal mit ihrer Scheu den letzten Kampf. Dann kam es leise, aber fest entschlossen von ihren Lippen:
»Sie glauben, ich fühlte mich schuldig Ihnen gegenüber, weil – weil ich Ihnen seinerzeit ein Gefühl vorgetäuscht, das ich nie für Sie besessen?«
Ihre Augen hatten sich zu Boden gesenkt. Blaß, aber unsagbar lieblich stand sie so in ihrer Zartheit vor ihm. Mit blutendem Herzen empfand er es, während er dumpf erwiderte:
»Muß ich es nicht glauben, wo alles für Sie vergessen ist, was einst zwischen uns war?«
»Und wer sagt Ihnen das?«
Noch leiser fragte sie es, aber die wenigen Worte ließen ihn zusammenzucken.
»Ihr ganzes Verhalten, Ihre kühle Gemessenheit mir gegenüber; Ihr Entschluß, Diakonisse zu werden; Ihr Gelübde, nicht wieder zu heiraten!«
Eine sekundenlange Stille, ihr Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf; dann klang ihre Frage:
»Wollen Sie wissen, warum ich dies Gelübde tat?«
»Nun?«
»Weil ich in jener Sterbestunde mich einer schweren Gedankensünde schuldig gemacht – weil ich mich mit meinem geheimen Sehnen zu einem andern Mann geflüchtet hatte.«
»Ursula!« Ein gedämpfter Aufschrei, und nun hatte er ihre Hände von der Stuhllehne an sich gerissen, ihre zitternden, eiskalten Hände. »Zu mir?«
Da neigte sie kaum merkbar ihr Haupt.
»O – du!« Wie ein Sturmwind brauste es über sie dahin, im nächsten Moment hatte er sie an seine Brust gerissen und seine Lippen tranken die Tränen von ihren Lidern. »Und nun – Ursula, dies Gelübde?«
»Ich hab' es widerrufen, in dieser Nacht!«
Zum erstenmal glänzten ihn wieder die dunklen Augen an im alten, strahlenden Leuchten, und fest umschlangen ihre Arme seinen Hals. Sie ließ ihn nun nicht mehr – nie!
So verharrten sie lange, in der Seligkeit des Wiederfindens nach langer qualvoller Trennung.
Dann nahm Wigand die geliebte Frau mit sanfter Zärtlichkeit schützend an seine Brust, in seinen Arm. Das war die Stätte, wo sie nun immer ihre Zuflucht haben sollte, und, sein Haupt über das ihre neigend, sprach er mit halblauter Stimme, in der es leise nachklang von allem Weh:
»Wir sind lange irregegangen, Ursula, und die beste Zeit unseres Lebens hat uns dieses Irren gekostet: Eine verlorene Jugend. Aber« – und innig drückte seine Rechte ihren Kopf an sich – »Höheres ist uns wiedergewonnen: unsere Liebe. Und die bleibt nun bei uns – immerdar!«