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Der Oktober läßt sich wonnig und heiter an; man könnte glauben, es sei Mai, wenn die teilweise schon fast völlig kahlen Baumwipfel nicht wären. Das Volksbad steht drüben beinahe wie ein Schloß an der wildrauschenden Isar, die Hochwasser hat, eine Folge starker Regengüsse, die tagelang im Gebirge niedergegangen sind. Vorgestern wäre der Fluß noch fast an allen Stellen des Münchener Burgfriedens zu durchwaten gewesen; dann begann rapid das Steigen des Wassers und hielt die ganze Nacht an.
Hoch droben im fünften Stock des stattlichen, neuen Hauses der Steinzdorfstraße lehnt Ottilie Burkstaller am Fenster. Mit einem Feldstecher bewaffnet, späht sie hinunter auf den ausgelassenen, wildfröhlichen Fluß und das lebhafte Treiben. Die lichtgrauen, lebendigen Augen sind scharf genug, um auch ohne Hilfe in weite Fernen schauen zu können, aber sie interessiert sich mächtig für alle Einzelheiten und studiert bei derlei Anlässen auch gerne Gesichter und Mienen der Menschen. Ihre Ohren, unter einem Wust dunkelbrauner, rauher Haare verborgen, lauschen begierig auf die Stimmen, die lachend, rufend, oder hellaufkreischend durch die klare Herbstluft zu ihr heraufdringen. Die schlecht gezeichneten Nüstern der etwas dicken Nase ziehen die köstliche Luft ein, die direkt von der lichtbläulichen, fein getönten Bergkette zu kommen scheint. Plötzlich wirft Ottilie Burkstaller den Kopf heftig zurück, so daß zwei Seitenkämme dem lose aufgenommenen Haar entfallen, streckt die Arme wie in einem heißen Verlangen zu dem azurnen Himmel empor und dehnt und reckt ihren prachtvollen, hochgewachsenen Körper wie ein Raubtier, das halb träge, halb schon wieder beutelustig ist.
Dann nimmt die Malerin aufs neue das Glas und richtet es wieder auf das wütende Hochwasser, das schon beträchtlichen Schaden getan hat, besonders bei den Brücken- und Wasserbauten. Drei Notstege, an der Frauenhofer- und Corneliusstraße über den Hauptarm der Isar, waren während der Nacht weggerissen worden. Baumaterial, Balken und Sand werden nun von den kaffeebraunen und trübgelben Wellen in fröhlich tändelndem Spiel flußabwärts getragen. Eine ganze Armee von Arbeitern ist von einer Baufirma beauftragt worden, das Auffangen des Holzes zu besorgen; seit den frühesten Morgenstunden schaffen sie da unten. Von der neu erstandenen Prinzregentenbrücke bis weit hinauf zur Thalkirchener Lände pilgern die Menschen vergnüglich und neugierig, um sich das zahme Hochwasserl und seine Begleiterscheinungen anzusehen. Ein großes Floß mächtiger Fichtenstämme hat man mühsam eingefangen und vorerst am Ufer angeseilt. Eine Schar armer Leute, alte und junge, Männer, Frauen und Kinder sammeln viele Holzstücke jeglicher Größe, die unaufhörlich heranschwimmen. Nicht nur Holz, auch allerlei totes Getier bringen die trüben Wellen der rebellisch schäumenden Isar mit. Katzen, Hühner, eine Unmenge Ratten und Mäuse. Endlich kommt, anfangs von der erregten Menge für einen menschlichen Leichnam gehalten, – der Kadaver eines großen, schwarzen, rasselosen Hundes herbeigeschwommen. Immer mehr müßige Neugierige sammeln sich an. Ein graues, lebendiges Mäuschen, das auf einem toten, irgend wie festgekeilten Huhn in heller Angst herumvoltigiert, ist imstande, Stürme der Heiterkeit und eine Unmenge mehr oder weniger witziger Bemerkungen des anspruchslosen Publikums zu entfesseln. Weiter und weiter rauscht, zischt und tobt mit schmutzigem Gischt die tolle Bergjungfrau, ›Isara, die Reißende!‹ Eine kalte aber herrliche Luft weht vom Gebirge. Klar, breit und stolz steht das Maximilianeum in seiner zweifelhaften Schönheit auf der kleinen Höhe. Mit einem tiefen Aufatmen empfindet Ottilie wieder einmal das Glück, München ihre Heimat nennen zu dürfen. Und hier im Haus gefällt es ihr auch so gut, besonders seit sie Frau Professor Halliger kennt, die im zweiten Stock wohnt.
Majors a. D., die viele Kinder besitzen, haben sowohl die vierte wie die fünfte Etage gemietet. Jede hat acht Zimmer; heroben sind vier als Ateliers gedacht und gebaut. Hier haben Major Templers nur ihr Fremdenzimmer; die übrigen Räume geben sie wieder ab. Die Malerin Burkstaller und ein kunstbeflissener Rheinländer, der zwar kein Talent, zum Glück aber reiche Eltern besitzt, sind direkte Nachbarn. In dem Gelaß mit Oberlicht, das vom schmalen Gang getrennt gegenüber dem Fremdenzimmer liegt, haust ein schüchterner, semmelblonder Jüngling, der eine etwas rätselhafte Existenz führt. Von ihm weiß man nur, daß er Lichtdrucke für Architekten fertigt und pünktlich seine Miete zahlt. Am anderen Ende der Reihe hat eine äußerst schicke, rothaarige Dame unbestimmbaren Alters ihr Domizil aufgeschlagen. Gut ist, daß es dicht an der Treppe liegt, denn viele Füße, fast soviele, wie bei Major Templer, – trappen herauf und herunter. ›Camilla Sonca, Spezialistin für moderne Frauenbekleidung‹ steht auf einem sehr originellen dreieckigen Schild im Jugendstil, das in zweiter Auflage auch im Hausgang zu sehen ist. Der Hausherr, ein reicher, ehemaliger Bäcker, der jetzt ›aufspüllt‹, hatte zwar gemeint, daß der in der allgemeinen Tafel neben dem Eingang an der Mauer eingelassene Name genügend sei und daß er sich nicht noch die andere Seite verschandeln lassen wolle. Allein das Schild blieb doch. Madame Camilla Sonca, die übrigens ein absolut reines Münchnerisch sprechen kann, wenn sie es auch nur da anwendet, wo sie es für angezeigt hält, hatte bei jenem kleinen Kampf in wenigen Minuten gesiegt. Herrn Hubmairs Augen waren keineswegs blind für weibliche Reize. Sie bohrten sich tief in das Stückchen weißen Halses, das über dem weiten, raschelnden Seidengewand einer Kundin hervorschaute, das Madame probeweise trug. Er hörte kaum, daß sie ihm gewandt entwickelte, wie das Schild nur Schmuck in dieser Nüchternheit bedeute, und daß es doch auch Christenpflicht sei, als starker, mächtiger und schöner Mann eine schwache, kämpfende Frau nach Kräften zu unterstützen. Das sei auch modern! Der zierliche Frauenkörper schmiegte sich dabei beinahe an den klobigen des Hausherrn, und dieser konnte mit hochrotem Gesicht seine flimmernden Äuglein nicht mehr von dem Plätzchen zwischen dem Kleidausschnitt und dem Hals trennen. Rothaarige mit ihrer weißen, appetitlichen Haut mochte Herr Hubmair gar zu gern. Die dicken, beringten Finger näherten sich bedenklich. Allein Madame entwischte ihnen gewandt. Ein Aufblitzen dieser nicht unverdächtig schwarz umrandeten, grünlichen Sterne verhieß aber Herrn Hubmair, daß vielleicht, – wenn das Schild, – und dann – –
Im Innersten ihres Herzens hält sich die Schneiderin, – um die Welt hätte sie sich nie so genannt, – für vollkommen ihrer Zimmernachbarin, der Malerin, ebenbürtig. Ob diese nun Bilder malt und sie Kostüme fertigt, das ist dasselbe, wenn nur Kunstwerke entstehen; und daß die aus ihrem Atelier stammenden Gewänder solche sind, davon ist sie nicht nur überzeugt, sondern es ist Tatsache. Sie weiß, was sie kann! Nicht umsonst war sie lange in Paris.
Bald nachdem Herr Hubmair das liebe Speckhalserl gesehen hatte und besonders nachdem er bei einem Morgenbesuch gefunden, daß Madame auch reizende Arme und Fußerln besitze, versicherte ihm die hübsche Inwohnerin eines Tages ehrlich und offen, daß sie dem Major die hohe Miete nicht mehr bezahlen könne, weil das Geschäft nicht gut genug gehe, daß sie also kündigen und in einem Vierteljahr ziehen müsse. Des Hausherrn Augen wurden dabei noch runder und traten so nach außen, als wollten sie aus dem roten Gesicht springen. Darauf platzte er heraus:
»Net um all's! Schauen S', Madamerl, dös derf net sein! Mein größt' Freud' wär ja hin, wann i Ihna nimmer b'suchen könnt' da heroben, und wer weiß, wie's nachher wo anderscht für Ihna wär'!«
Dann streichelte er ihr rotes Haar, die weißrosige, leicht bepuderte Haut und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Er konnte nicht sehen, wie es in ihren grünen Augen triumphierend aufzuckte. Ihr Haupt, – sie saß wie geknickt auf dem eleganten Stuhl ihres Schlafgemachs, das zugleich Empfangssalon sein muß, – ruhte fast auf Hubmairs dickem Leib, über dem die mächtige goldene Uhrkette mit vielen Anhängseln sich strammte. Da fuhr sie auf:
»Herr Hubmair, ich muß sehr bitten! Ich bin eine anständige Frau und laß mir von keinem etwas schenken. Man weiß schon, auf was so eine Großmut zuletzt heraus kommt.«
Er aber, der sie entzückt anstarrte, verwahrte sich gegen alle Verdächtigungen. Er sei ja ein alter Ehemann und habe schon vor langem in Ehren die silberne Hochzeit feiern können. Wenn seine Alte auch bereits eine Ewigkeit krank läge, so lasse er sie das doch nicht entgelten; er habe nur gemeint, einem strebsamen, braven Menschenkind helfen zu sollen. Ganz ohne jeglichen Hintergedanken! Außerdem sei sie ja auch eine so reinliche, ordnungsliebende Dame und hielte alles gut im ganzen Stockwerk; und wie gesagt, – ihm wäre ihr Bleiben eine Freude gewesen.
»I' hab's ja!«
Es gelang dem Hausherrn wirklich sie zu überreden. Nach seinem Glauben eine harte Arbeit. Madame Sonca frohlockte innerlich, und nachdem er gegangen, schlug sie auf ihrem, hinter dem eleganten Wandschirm verborgenen, zu so früher Stunde noch ungemachten Bett eine Art Purzelbaum.
Fast jede Woche kommt der Hausherr und schaut nach; es ist merkwürdig, wie der sonst so Gestrenge langmütig oder blind ist gegen alle leichten Spuren der Zerstörung, die besonders von den Majorskindern in dem neuen, schmucken Haus zurückgelassen werden. Er rückt sehr früh an; bevor die Nähmädchen oder gar eine Kundin eintreffen können. Dann trinkt er nicht selten ein Schälchen Kaffee mit der schönen Freundin. Diese ist dabei meist mit einem netten Morgenrock bekleidet, der den Hals frei läßt und sich weich um ihren korsettlosen Leib schmiegt. Bis zu einem Kuß auf irgend eine verführerische Stelle kommt es manchmal; allein in der Hauptsache hält Herr Hubmair wirklich die eheliche Treue. An jedem Quartal aber legt er stumm in einem Kuvert das Mietgeld, – die Schuld Frau Sonca's an den Major, – auf den Tisch, das gleich darauf hinunter zu Templers und so indirekt in des Hausherrn Tasche zurückwandert. –
Wenn Ottilie Burkstaller während des ersten Jahres die Schneiderin traf, erwiderte sie stets freundlich deren respektvollen Gruß. Dabei aber blieb es lange. Nach und nach erst wechselte sie einzelne Male einige Worte mit ihr. Nachdem sich die Malerin in aller Heimlichkeit dem Porträtfach zuzuwenden begonnen hatte, war ihr eines Tages Madame Soncas rotes Haar, das gerade von der Sonne durchleuchtet wurde, und das pikante Gesicht verlockend erschienen. So kam es, daß die gefällige Nachbarin mehrere Sonntagmorgen der Künstlerin saß. Innerlich fühlte sich die Schneiderin sehr geschmeichelt, ließ das aber durchaus nicht merken.
Ein fertiges Porträt der Sonca stand nach einigen Wochen auf der Staffelet. Eines Morgens war die Malerin schon ganz früh mit einigen Schülerinnen nach Dachau hinaus gefahren; da kam Herr Hubmair. Frau Bierdimpfel, die Aufwärterin, machte gerade im Atelier Fräulein Burkstallers Ordnung, und die Tür war nur angelehnt. Als der Hausherr unter absichtlich lauten Bemerkungen über dies und das den Gang entlang ging, stieß Frau Sonca, die ihn höflich begleitete, wie zufällig mit dem Arm an die Pforte zu der Malerin Heiligtum. Im allerbesten Licht, das es haben konnte, präsentierte sich das Portrait. Herr Hubmair blinzelte, lächelte freudig überrascht, drängte sich ohne weiteres an Frau Bierdimpfel vorbei und stand dann schmatzend wie ein Gourmet bei einer leckeren Speise vor dem Ebenbild der Angebeteten. Die Aufwärterin schielte von einem zum anderen und machte ein unbeschreiblich verschlagenes Gesicht, das eine Mischung von Dummheit und Schlauheit zugleich darstellte. Sie scheuerte mit einer in Terpentin getauchten Bürste so heftig den mit bunten Flecken bedeckten Fußboden, daß der Schweiß nur so über ihre fahlen Wangen rieselte. Zugleich rannen lange nach Salmiakgeist riechende Wasserstraßen bis zu den Füßen des Paares. Frau Sonca, zierlich und ziemlich hoch das Kleid aufnehmend, floh hell lachend hinaus, und Herr Hubmair folgte ihr mit Elefantentritten und der Miene eines fest Entschlossenen.
»Dös muß i hab'n, 's derf kosten, was 's mag!«
Zwei Tage später kam plötzlich, als kaum die letzte Donnerstag-Schülerin gegangen, ein fremder, sehr brünetter Herr zu Fräulein Burkstaller, gab vor, ihre Studien an der Isar und vom Dachauermoos bei Heinemann gesehen zu haben und wollte nun weiteres anschauen. Er tat dann überrascht beim Anblick von Frau Soncas Porträt, fragte nach dem in aller Eile von Ottilie recht hoch angesetzten Preis und kaufte ohne Handeln das Bild. Ahnte die Malerin auch sofort, daß der Mittelsmann für den Hausherrn kam, so erfreute sie der Erfolg doch nicht minder. –