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Nervös wirft Ottilie Burkstaller den Pinsel hin und stößt ein Wort hervor, das einem männlichen Kraftfluch recht ähnlich klingt. Diese gräßliche Klopferei und das Getrampel!
So wie heute empfand die Malerin diese Störung noch nie. Endlos scheinen die Reparaturarbeiten und das Durchbrechen einer der Wände zur Vergrößerung von Frau Soncas Atelier zu dauern. Wenn nur die kranke Frau Halliger unten nichts hört! Freilich kommen erst noch Majors! Aber ein derartiger Spektakel dringt ja durchs ganze Haus. Schaffen kann man da nichts. So will sie heute einmal zu Frau Thilde Degenhardt gehen. Vielleicht ist dort was über Frau Halligers Befinden zu erfahren. Aus Kathl, die ihr Hanserl ganz zur Basen gebracht hat, ist nichts Rechtes herauszubringen. Die gnädige Frau sei eben sehr krank und könne keine Besuche annehmen. Was ihr denn fehle? Man wüßte es noch nicht. Vielleicht eine besonders starke Influenza. Vor allem solle sie Ruhe haben. So traut sich die Malerin weder an der Tür anzuläuten, um sich zu erkundigen, noch den eben die Treppe heraufkommenden Doktor Mutzinger zu fragen. Der würde gleich strohgrob, denn so etwas kann er gar nicht leiden.
Bei der Schriftstellerin, der so beliebten alten Dame, ist ein kleiner Kreis versammelt. Frau Degenhardt empfängt die Künstlerin aufs liebenswürdigste und macht ihr sofort neben sich Platz.
»Ihre Frau Tochter ist leidend?« wendet sich die Malerin an Frau Degenhardt.
»Gertrud?« Die großen Augen der alten Frau werden noch größer. Aber sie ist nur erstaunt, durchaus nicht besorgt.
»Keine Ahnung habe ich; aber Vater soll morgen oder so doch mal Hinschauen.«
Heiter wendet sie sich dann an einen jungen, eben eingetretenen Herrn, der im Begriff ist in München seinen chemischen Doktor zu machen und heute der Freundin seiner Mutter einen Besuch abstattet.
»Aber das ist ja reizend, daß Sie kommen! Natürlich bleiben Sie zu einem Täßchen Tee! Ich entsinne mich Ihrer Mama so gut. Sie war sehr blond und hübsch, gewiß, –« aber schon muß die bewegliche Frau, deren etwas defektes Seidenkleid verdächtig am Boden schleppt, sich einer alten Dame zuwenden, die sie öfter besucht.
»Nun, liebe Baronin, was meinen Sie zu den Plätzchen? Hoffentlich schmecken sie Ihnen! Eine meiner Erfindungen. Ich bin aber auch sehr stolz darauf. Und haben Sie schon mein Rezept versucht? Erinnern Sie sich noch? Eine völlig zahme Gans als absolut wild auf den Tisch zu bringen. Auch mit der bewußten Sauce?«
Die Baronin bewundert laut die Vielseitigkeit Frau Degenhardts. Mit keinem Gedanken ist diese bei der Tochter. Ach was, leidend! Das Klima macht ihr eben auch zu schaffen, und sie ist ja so nervös geworden durch die lange Pflege ihres Mannes. Wird schon Vorbeigehen!
»Wissen Sie, daß Herdorff von hier fort nach Berlin oder Dresden zieht?« fragt der junge Chemiker, der zufällig mit dem bekannten Maler irgendwo eines Abends zusammengetroffen war. Er ist so froh, mit Fräulein Burkstaller über etwas ihr Fach Angehendes sprechen zu können. Betroffen horcht diese auf und gibt die Neuigkeit an die Hausfrau weiter.
»Wie schade, wie furchtbar schade,« ruft Frau Thilde aus.
»Ja, ja,« meint Ottilie melancholisch. »Unser gutes München!«
»Ja, geht es wirklich nieder als Kunststadt?« mischt sich ein junges Provinzdingelchen mit Eifer ein. Etwas Ähnliches hatte sie ja schon in der Ferne läuten hören. Nach ihrer Ansicht besteht die interessante Bevölkerung Münchens überhaupt nur aus Künstlern aller Arten oder höchstens noch Schriftstellern und Journalisten. Das übrige muß langweiliges Drum und Dran sein. Seit sie nun hier weilt, ist sie allerdings noch keinem Maler, noch weniger etwa einer Malerin begegnet. Wie die Schichten der Erde verschieden aufeinanderliegen, so auch die der Gesellschaft. Es kommt nur darauf an, in welche man gerade gerät. Die Kleine aber, zu Besuch bei Verwandten, die man getrost zu den echten, wenn auch feinen Münchener Spießern rechnen kann, hat bis jetzt in den Wochen ihres Hierseins natürlich nur in deren eng begrenzter Sphäre gelebt. Nun lauert die Kleine schon brennend darauf, Fräulein Burkstallers nähere Bekanntschaft machen zu können und durch sie womöglich das berühmte Münchener Künstlerleben oder sogar ein wenig Bohème kennen zu lernen. Eine Hoffnung und ein Verlangen, das jeden der Zunft Angehörigen zu gelinder Verzweiflung bringen kann, wenn es von Verwandten oder Bekannten, die in dieser frohen Erwartung nach München kommen, wie üblich ausgesprochen wird.
»Ach was, Niedergang! Blödsinn!« schleudert der Chemiker auf den Einwurf der Kleinen hin. Vorwurfsvoll blinzelt er ihr zu. Er empfindet was sie geäußert als Taktlosigkeit. Das hier ist doch ein Stück echten Münchener Kerns! Einem neuen Gast, einem Bekannten Ottiliens wird die Nachricht vom Weggang Herdorffs sofort entgegengeworfen mit der Frage, ob es auch wirklich wahr sei.
»Ja, es ist so,« meint dieser.
»Wie kommt es nur, daß so viele unserer besten Künstler gehen?« wendet sich die Baronin an ihn und markiert ein Interesse, das sie in Wirklichkeit gar nicht hat.
»Ja, verehrte gnädige Frau, das ist nicht so mit ein paar Worten zu sagen. Warum? Warum? Sie finden da bei den Söhnen dieses Hauses die beste Auskunft. Ich meine allerdings nicht etwa den Herrn Bauamtmann« – der Sprecher lächelt dabei Frau Thilde ganz liebenswürdig zu, und diese erwidert ebenso – »sondern Carlo und Ludwig. Letzterer hat neulich in einer Versammlung trefflich darüber gesprochen!«
»So erzählen Sie doch!«
»Er meint, es sei eben einfach in Wahrheit gar niemand hier, der dazu berufen sei, sich unserer Künstler, besonders derjenigen einer bestimmten Richtung, anzunehmen. Wer ist denn auch bei uns schließlich imstande, die Leute fest anzuketten und zu fesseln? Mit vollem Recht behauptet ihr Sohn, daß es niemanden hier gäbe, der die Kraft und das Vermögen besitze, die Vertreter der Gedanken einer einheitlichen bildenden Kunst am Ort festzunageln. Das wirklich einheitliche Bild einer Kunst aber verlangt, seinem Wesen nach, auch einheitliche Leitung durch eine Hand. Sehen Sie bloß nach Darmstadt, nach Weimar. – Kleine Nester, nicht? Aber – aber –! Na, hätten Sie Freund Ludl nur reden hören.«
»Es lebe der Kunstverein, – es lebe unser guter, guter Glaspalast! Besonders diese denkbar ungünstigste aller Kunstausstellungsstätten der Welt! Dieser alte Kasten ist das wahre Symbol der von zwei Ministerien gepflegten bildenden Kunstzustände Münchens!«
Ottilie Burkstaller spricht mit beißender Schärfe und offenem Ärger. Ihr unschönes Gesicht, das so reizvoll sein kann, trägt einen zornigen Ausdruck. Der Doktor, der vorhin gesprochen, freut sich ebenso an dem Ebenmaß dieser Frauengestalt wie über den ehrlichen Ingrimm der Malerin.
»Bravo, Fräulein Ottilie! Recht haben Sie!«
Frau Degenhardt seufzt: »Was mich betrifft, so verschmerze ich unsern Theodor Fischer am schwersten. Ich habe ihn als Künstler wie als Mensch gleich gern gemocht. Und mein Gott, – auch Eckmann ist schon so lange unter dem Rasen! Liebe Baronin, –noch ein Täßchen gefällig? Haben Sie zum Beispiel von Haider gekannt?«
Die Dame verneint verlegen. Sie lebt jedenfalls in einem Gesellschaftskreis, der ihr, obwohl sie geborene Münchnerin ist, die Welt der Kunst und deren Meister in jeder Beziehung nur oberflächlich erschlossen hat. Hätte man sie nach dem Gothaer gefragt, so würde sie dagegen tadellos zu antworten gewußt haben.
»Sehen Sie,« sagt jetzt Ottilie, »mein und Frau Professor Halligers Hausherr, Herr Hubmair, der manchen blauen Lappen fliegen läßt, um die Kunst zu unterstützen, meinte eines Morgens, als er mir auf der Treppe begegnete, mit Stolz und Genugtuung: ›Ja ja – i bin alleweil z' haben, wann's sich drum handelt, so an armen Teufel von Bildhauer oder Maler zu unterstützen, der wo sich kein Schwartenmagen und kein' Weißwurst mehr leisten kann und verhungern tät, wann unser oans net wär. Mein Gott, die Leit san eben a mal da! Und d' Fremden, die kemma, wollen halt alleweil Bilder und G'schtadien sehen und finden dann die Atiliers, wo's drin ausschaugt wia bei die Wilden, so viel intressant. Aber dös sag i: mir in München, mir braucheten gar koan Kunst net, über dö alleweil a so a G'schrei is. Mir ham ja unser Bür, und des macht uns koaner net nach. A net die gar g'scheiten Berliner drunt. Jez Ham die Chemiker raus bracht, daß 's am Wasser liegen tuat. Wann's a all's ham, Hopfen und Malz von uns und unsere Leut a no dazu, dös Wasser hams aber do net. Jez, i hätt' des nia glabt. I schmecks 's ganz Jahr koan Wasser net. I spucks aus, bal's mir a mal zufällig ins Maul kimmt!‹
Alle brechen in Lachen aus, denn allmählich hat Ottiliens Gesicht wirklich eine wunderliche Ähnlichkeit mit irgend einem derartigen biederen Bierspieß bekommen.
»Sie könnten zur Bühne gehen,« sagt die Baronin sehr erheitert.
Der junge Chemiker wischt sich mit dem rotseidenen Cachenez die Lachtränen aus den Augen, aber die kleine Provinzlerin fällt der Malerin einfach um den Hals.
»Nein! Zum Küssen! So echt, so lustig! Süß einfach! Ach bitte, bitte zeigen Sie mir doch so einen!«
Die Künstlerin verspricht es ganz ernsthaft. Sie ladet das junge Mädchen, das puterrot vor Wonne ist, ein, sie in ihrem Atelier aufzusuchen, und macht dabei noch geschickt Reklame für die Sonca. Dann steht sie auf und empfiehlt sich. Die begeisterte Maid aber begleitet sie bis zur Türe.
»Also doch eigentlich Reform? Und alles, – auch die Wäsche? Selbst um die kümmert sie sich? Und wirklich schön? Nein, ich muß eine Toilette dort bekommen! So etwas ganz Malerisches und echt Münchnerisches. Aber dann könnte ich's am Ende wo anders gar nicht weiter tragen?«
»Ja, Fräuleinchen, glauben Sie vielleicht, hier laufen die Damen herum wie die Narren? Machen Sie doch gefälligst Ihre hübschen Augen auf. Adieu!«
War das nun einfach grob oder originell oder vielleicht eben einfach ganz echt münchnerisch? Aber das wird in dieser genialen Stadt schon der Brauch sein, so gerade heraus seine Meinung zu sagen. Durchaus nicht gekränkt, sogar in sehr gehobener Stimmung, geht die Kleine wieder hinein und serviert aufs neue Tee, den sie jetzt wie von daheim gewohnt zum dritten Mal aufgießt und der darum nur mehr recht wenig Anklang findet. – – –
Die Burkstaller aber rennt mehr als sie geht. Ganz blindlings. Sie hat gar kein Ziel. Sie ist in einer seltsamen Stimmung, weiß heute eigentlich gar nicht recht, was sie will, hat wieder einen jener Tage voll Unrast und Unlust und fühlt sich von innen gedrängt und gestoßen, hin und her gezerrt und gequält. Allerlei Erinnerungen zwischen sonstigen wirren Gedanken verfolgen sie, und sowohl Herr Hammerl wie Gaston Lankdendever spielen plötzlich darin wieder eine Rolle. In einer der kleinen Seitengassen, die von der Burgstraße hinüber zur Frauenkirche führen und die ganz still und einsam liegen, bleibt sie plötzlich stehen, zur Verwunderung eines Mädelchens, das einen alten Schuh als Puppe aufgeputzt in ihren Armen hält, und sagt ganz laut, indem sie ihre Arme ausbreitet: »Wenn es nur schon Fasching wäre!« Hätte irgend jemand, der ihr nahe genug steht, um ihre Gepflogenheiten zu kennen, diesen Ausruf gehört, so wäre der wohl recht erstaunt gewesen. Ottilie Burkstaller und Münchener Fasching! Mag dieser nun kurz oder lange währen, so umschließt er jedenfalls eine Zeitspanne, innerhalb deren sich die Malerin stets auf Reisen befindet. Wahrscheinlich. sehr rastlos und abwechslungsbedürftig, denn sie gibt nie eine Adresse an. Man ist das längst gewohnt an ihr, und auch ihre Schülerinnen wissen, daß innerhalb dieser Wochen ihre Lehrmeisterin nicht zu haben ist. Viele Menschen nehmen an und verbreiten ihre Meinung auch nach Kräften, daß dieses Verschwinden zu einer Zeit allgemeiner lustiger Tollheit, da Jugend und Schönheit doppelt keck die Welt regieren, einer gewissen Schwäche des Mädchens entstamme. Es leide furchtbar unter der unleugbaren Häßlichkeit seines Gesichts und hätte das freilich recht törichte Gefühl, wie eine Ausgestoßene, Unberechtigte in all dem Flimmer, trunkenem Liebes- und Gefallsuchtstaumel zu erscheinen. Wird sie von einzelnen befragt, was sie veranlasse, chronisch gerade während des Karnevals zu verreisen, pflegt die Malerin lakonisch zu antworten: »Ich mag eben dieses Getue nicht!« Mehr ist nie aus ihr herauszubekommen.
In Gedanken versunken schlendert sie noch eine Weile dahin, dann rast sie fast, ohne allen Grund, nach Haus. So leise wie möglich geht sie die Treppe hinauf, besorgt schielt sie auf Frau Halligers Haustüre und nimmt dann die letzten Stufen in ein paar Sätzen. –
Im verdunkelten Schlafzimmer liegt Gertrud.
Wie war's gewesen, wie war es doch nur gewesen? Und wann? Gestern? Aber sie kann es nicht mehr zusammenstellen. Das Fieber, das in der Nacht so heftig eingesetzt, die wahnsinnigen Kopf-, Ohren- und Gliederschmerzen hatten das andere, Seelische völlig übertäubt. Macht doch ein gewisser Grad körperlicher Schmerzen die der Seele scheintot oder schiebt sie wenigstens beiseite. Aus einem unruhigen, erst gegen Morgen eingetretenen Schlaf wurde sie durch eine laute, rauhe Stimme geweckt. Nun horchte sie verwirrt. Hatte die etwas zu tun mit dem, was vorher geschehen war und dessen sie sich plötzlich nicht mehr entsinnen kann? War denn nicht etwas Kostbares von Lise und To vernichtet worden? Aber schon legten sich wieder Nebel als erstickende, schwere Decke auf ihr neu erwachendes Gedächtnis und damit auch ein dumpfes Gefühl der quälenden Pein. Draußen schrie und tobte einer. Sie war sich ganz klar und wußte, daß sie diese Stimme vorher schon gehört. Jedenfalls aber nicht so. Wie schrecklich es klang! Sie läutete; aber Kathi kam nicht und sonst stürzte sie doch immer gleich herbei auf das erste Klingelzeichen. Eine große Angst überfiel die Kranke. Sie sprang aus dem Bett, aber ihre Kleider waren nicht da; nicht einmal ihr Schlafrock. Nur die weichen Pantoffel standen bereit, und ein großer Schal lag über der Stuhllehne; den wand sie sich um ihre Gestalt, die bis zu den Füßen nur vom weißen Nachtgewand bedeckt war. So stand sie dann zitternd unter der Türe, und die unsinnigen, wilden Anklagen eines erregten, aufgehetzten und in den dunkelsten Vorurteilen steckenden Mannes drangen auf sie ein wie giftige Pfeile. Was schleuderte er ihr nicht alles entgegen? In wenigen Minuten! Seines Kindes Tod habe sie auf dem Gewissen! Schwarz wurde es ihr vor den Augen. Dann war es plötzlich wieder seltsam still geworden, und sie lag aufs neue in ihrem Bett, neben dem Kathi jetzt aber als strenge Wächterin saß. Sie hatte schleunigst an Doktor Mutzinger telephoniert, der gleich im Wagen kam und auch eine Pflegerin mitbrachte.
Das lahme Kind tot! Tot und ich schuld, ging es noch immer wild durch Gertruds Hirn. Was sie sonst mit ihrem klaren Verstand einfach als Torheit von sich abgewiesen hätte, wurde nun zu einem feurigen Berg, der sich ihr auf die Brust wälzte. Der Arzt, der sich aus Freundschaft für Frau Halliger bei dem ihm wohlbekannten Chef des Krankenhauses über den Fall genauest erkundigt hatte und natürlich unter anderen Umständen nie ein Wort über das unverhoffte, traurige Ende ihres Schützlings zu seiner Patientin gesagt hätte, hielt es jetzt fürs beste, ihr genauesten Bericht zu erstatten. Er tat es in seiner kurzen, bündigen Art, ruhig, fachlich, aber zugleich in einem sanften Ton, der günstig auf die Kranke wirkte. Selbst in dieser Verfassung konnte sich Gertrud den überzeugenden Klarlegungen, – daß eben einzig und allein dieser hinzugetretene tragische Umstand, die plötzlich aufgetretene Blinddarmentzündung, die rasend schnell um sich gegriffen, den Tod des Kindes herbeigeführt habe, – nicht entziehen. Doktor Mutzinger fügte zum Schluß seinem Bericht noch allerlei philosophische Bemerkungen hinzu; waren diese auch nicht neu, so beruhigte allein schon seine Stimme ihre Nerven.
Jetzt schläft die Kranke erschöpft ein und träumt, wie das tote Mädelchen aus der Ferne von seinem Vater durch Winken und Zurufe immer mehr aufgereizt sich als schwarzgekleideter Engel auf Lise und To stürzt und diese aus den sie umklammernden Mutterarmen reißt, hinab in einen tiefen, steinigen Abgrund. Frau Halliger hört die zwei Körper auf den Felsstücken auffallen, an denen Blut, Kleider- und Fleischfetzen hängen bleiben. Nur Detlev Dombrowsky verhindert sie, sich auch hinabzustürzen. Mit einem lauten Schrei, fieberheiß und mit Schweiß bedeckt, erwacht Gertrud endlich aus dem entsetzlichen Traum.
»Ruhig, ruhig, – Traudl, komm trinke etwas!«
Das kann nur Onkel Toni sein oder Ludl oder Carlo, – oder, – oder, – – dann aber erkennt sie den, der an ihrem Bett sitzt, während die Pflegerin am Tisch den Eisbeutel frisch füllt. Otto! Kann das sein? Aber wirklich ist's des Bauamtmanns Gesicht, das sich mit besorgtem Ausdruck über sie beugt. Seiner Stimme Klang, sein ganzes Wesen ist verändert. Weich, gut und lieb, vielleicht nur ein wenig zu stürmisch in seiner Zärtlichkeit ist er. Keine Spur seiner sonstigen, ewig beißenden, nörglerischen oder besserwissenden Art.
»Nur ganz zufällig bin ich gekommen, um dich zu meinem Schrecken so krank zu finden. Wie eine Ahnung war's! Mich hatte heute morgen eine solche Sehnsucht nach dir erfaßt!«
Sie lächelt ihn dankbar an, kann aber nicht sprechen und verfällt wieder in Fieberschlaf. Währenddessen sitzt der sonst so zappelige Mann, der immer von einer nervösen Unrast getrieben wird, geduldig da und wendet kein Auge von dem nur zu rosigen Antlitz der Schwester. Er gibt sich dabei den schmerzlichsten Gedanken hin. Kein Zweifel, – sie wird sterben! Das kann nur eine ganz gefährliche Krankheit sein!
»Natürlich Lungenentzündung?!« wendet er sich, – in der Zerstreutheit seine Stimme gar nicht dämpfend, – an die Pflegerin.
»Aber gar keine Spur nicht, Herr Bauamtmann! Bis jetzt haben wir nur einen recht schweren Anfall von Influenza, von dieser zuwidrigen Krankheit, aber noch ohne alle Komplikationen konstatiert.«
»Na, wird schon noch kommen!«
Er geht, finster und blaß, mit zusammengekniffenem Mund und schwerem Herzen. Ja, ja! Als ob er nicht das Traudl gern, o so gern hätt'? Sein kleines Schwester!! Aber immer muß man eben irgend eine Angst dafür ausstehen!
Am Nachmittag kommt ein Korb mit Südfrüchten, vor allem herrliche Zitronen zur Limonade. »Vom Herrn Bauamtmann,« richtet die Überbringerin aus. Gegen Abend telephoniert er dann, anfragend, wie es gehe. Kathl antwortet der Wahrheit gemäß und fügt hinzu, daß die gnädige Frau sich so gefreut und sich so arg gewundert hätte über die Sendung. So arg gewundert! So arg! Über das muß Bruder Otto doch nachdenken.
Bei aller Fieberhöhe und den Schmerzen, die vom ganzen Leib Besitz ergriffen haben, kommt doch über die Kranke zu ganz später Abendstunde eine größere Klarheit. Alles so still im Haus! Wo ist Grete, ihr lieber Gast, wo sind die Kinder? Aber da weiß sie schon wieder, daß alle gestern mittag mit den Eltern Degenhardt, Carlo und Ludwig, nach Tegernsee gefahren sind, um über Neujahr dort die Gastfreundschaft einer Dame der hohen Aristokratie zu genießen, die draußen eine herrliche Besitzung hat und – im Augenblick wenigstens – einen Kultus mit der originellen, famosen Familie Degenhardt treibt. Nach dem heftigen Schneefall einer Nacht war herrliches, klares, steifes Winterwetter eingetreten, mit Sonnenglanz zu Mittag und Sternenpracht zur Nacht, so daß es sich schon lohnen konnte, dabei der Berge Schönheit in ihrem Silbergewand zu genießen. Frau Gertrud, auf die sich die Gräfin am meisten gefreut hatte, weil die ihr noch am neusten war, sollte mit Buchlehner nachkommen. Der Professor wird von der Dame als unausscheidbares Inventarstück dieser Familie bezeichnet. Sie nennt den berühmten Meister und liebenswürdigen Mann auch sonst sehr gerne ihren Gast. Nur auf die Exzellenzen und auf Otto erstreckt sich der Degenhardt-Kultus der Gräfin noch nicht. »Fad sind's mir,« meint sie auf gut münchnerisch. Insgeheim ärgert sich Frau Hela entsetzlich über die Dame, weil sie dieselbe bei allerhand Wohlfahrtssitzungen und Vereinsgelegenheiten früher kennen gelernt als diese ihre Angehörigen und sich die Gräfin dabei zwar immer sehr korrekt, sehr liebenswürdig, aber doch sehr entfernt gegenüber Exzellenz benommen hatte.
Als am Ende des dritten Tages die Körpertemperatur gesunken ist, die Schmerzen nachgelassen haben, überkommt Gertrud die Erinnerung an das, was sich abgespielt, bevor sie erkrankte, mit vernichtender, grausamer Klarheit. Durch sie wird die Szene mit dem Vater des lahmen Kindes fast völlig verwischt. Wie sie hört, daß Professor Buchlehner, ohne ihre plötzliche Erkrankung zu ahnen, zur verabredeten Zeit gekommen sei, um sie zur Fahrt nach Tegernsee zu holen, und dabei der Kathl erklärt habe, unter diesen Umständen gleichfalls hier bleiben zu wollen, war sie sehr erregt darüber geworden, daß man ihn nicht zu ihr gelassen. Sie muß ja mit ihm sprechen, – muß! Aber die Pflegerin befolgt genau Doktor Mutzingers Befehle und läßt niemanden herein. Sie findet auch, daß es sehr gut sei, daß gerade jetzt die jungen, lustigen Vögel alle ausgeflogen seien. Junge, lustige Vögel! Tief seufzt Gertrud auf. Ihr Herz zieht sich in doppeltem Weh zusammen, als Kathl ihr eine entzückende, mit Maiblumen bepflanzte Jardiniere nebst einem Billett des Barons bringt! Darin steht nur: »Warum höre ich noch immer nichts darüber, wie die Kinder es aufnahmen? Harre in unruhiger Sehnsucht!«
»Ein alt's, dumm's Schaf bin i,« schimpft Kathl sich selber draußen in der Küche. »Und i hab g'meint, was vom Herrn Baron kommt, kann und darf i ihr net vorenthalten, und das müßt sie auch freuen! Jetzt aber is 's g'rad, als hätt' i meim gnädigen Frauerl einen Totenkranz 'nein'bracht, und sie mag die Blumen gar net sehen. Freilich, – sie riechen halt auch z' stark für ein Krankenzimmer!« Bekümmert schürt sie das Herdfeuer nach, über dem allerdings nicht viel zu kochen ist.
Obwohl die Maiglöckchen längst verbannt sind, haben sie einen intensiven Duft zurückgelassen. Gleichsam in mächtigen Wellen aus flüssigem, heißem Blei fühlt ihn Frau Halliger um sich wogen. Sie meint, jeden Augenblick müsse sich eine davon, gleich dem Feuerberg in den letzten Nächten, schwer auf ihre Brust legen.
Die Kinder sind fort! Oh, nicht nur nach Tegernsee, nein weit, weit fort sind sie, ganz weg von ihr! Sie werden ihr nie verzeihen, so ganz und wirklich verzeihen, daß sie ihnen einen Stiefvater geben wollte. Immer wieder dieses Wort! Und doch hatte sie in jenem Licht Detlev noch nie betrachtet. Sind doch auch die Kinder viel zu herangewachsen für einen Stiefvater! Aber einen Freund sollten und könnten sie an dem von der Mutter heiß geliebten Mann haben, einen, der treu zu ihnen stünde, wie kein zweiter auf der Welt. So sanft, so zart, aber doch völlig durchdrungen von der Sehnsucht nach einem eigenen Glück, das die Kinder ja einstens gewiß noch erfassen und begreifen würden, hatte sie ihnen nach dem Frühstück, in der gemütlichen Blumenecke des Wohnzimmers, ihre eigene Hoffnung dargelegt; eine Hoffnung nur, – nicht etwa einen Entschluß. Im letzten Moment hatten sich aber dann ohne ihr Wollen und Zutun, wie von selbst, ihre Worte umgeformt. Als ihre Blicke auf das Bild Rolands gefallen, hatte sie seine ringende, ersterbende Stimme aufs neue wieder gehört; da war ihre Sprache immer schüchterner und weniger eindringlich geworden. Als sie geendet, war es im wohlig warmen Zimmer, auf dessen Teppich die Ofenglut eine breite, brandrote Scheibe warf, ganz still geworden. Man konnte die kleinen Kohlenstückchen zwischen den glühenden Stäben des Rostes durchfallen hören; sonst war es unheimlich, quälend still! Zag, beinahe demütig suchten ihre von nahenden Tränen feucht glänzenden Augen die Blicke der Kinder. Aber Lise starrte abgewendet zwischen Tulpen- und Hyanzinthengläsern in die schneeschweren, bauchigen Wolkenballen, die sich am trüben Himmel türmten, und To zeigte nur ein trotziges, unschön entstelltes Gesicht. Er war zur Genüge von Lise aufgestachelt und gereizt worden, damit er gewiß kampfbereit genug sei, wenn auch sein weiches Herz ihn nicht ungerührt in das Antlitz der Mutter sehen ließ. Ein Schuldgefühl, das immer mehr wuchs, beschlich ihn dabei. Diese ganzen Ferien hindurch war sie nur zärtlich, nur offen und warm gegen ihn gewesen; er dagegen hatte sich so oft von Lise in einem so – so – so unangenehmen Ton über die Mutter vorreden lassen und hatte nicht den Mut gehabt, energisch dagegen zu protestieren. Einmal hatte er es versucht; aber die Schwester sprach wie ein Buch, sie hatte so eine ganz besondere, sichere Art und schien ihm wirklich durchaus überlegen. Später hatte er dann wohl wieder diese Eindrücke abgeschüttelt und sich gedacht, daß Lise sich törichten Phantastereien hingebe. Sie hatte Onkel Detlev ja nie gemocht! Er aber schon! Ja gewiß! Aber freilich – als Stiefvater – und sich dann, wie die Schwester als sicher prophezeite, hänseln und verspotten lassen zu müssen von den Kameraden im Kadettenhaus, – und das würden die Bengels natürlich tun, versteckt oder offen, – das nicht! Um Himmels willen nicht! Mutter ist einfach, wie die Schwester sagte, exaltiert! Wie er ihr dann so gegenüberstand! Allen Mut nahm er zusammen, sah nicht in diese Augen, deren Blick ihm so weh tat, und abgewandt, mit in den Hosentaschen geballten Händen, stieß er wild heraus:
»Mutter! Wenn du uns das antust, so – so – komme ich nie mehr heim in den Ferien, und wenn er dich uns ganz nimmt – und es kommt immer so, wenn ein Fremder der Stiefvater von so großen Kindern werden soll, dann, – dann erschieße ich mich noch eines Tages, – später!«
Ganz schnell war er dann aus dem Zimmer gerannt, denn es hätte doch nicht viel gefehlt, so wäre er wie ein ganz kleiner Junge in Tränen ausgebrochen. Mutter tat ihm ja so leid! Wäre Lises allmählicher, raffinierter Vorbereitungsunterricht nicht gewesen, aus seinem Innern heraus hätte er anders gehandelt. Wie lieb, wie rührend hatte die Mutter gesprochen, beinahe gebeten; und – und einsam mußte sie sich ja fühlen, wenn dann erst Lise später zum Beispiel heiraten würde, – Mädchen heiraten ja fast immer; und er, – er stände dann womöglich irgendwo, ganz weit entfernt, in einem preußischen Regiment! Aber so wie ihm die Schwester alles erklärt hatte! Nein, recht hatte sie, wenn sie ihm empfohlen, nur ja nicht weich zu werden. Das Unglück, die Schande mußte ja abgewendet werden. Aber jetzt vor allem heraus! Die Türe rücksichtslos ins Schloß geworfen, – die seiner Stube drüben gleichfalls – den Riegel vor. – Dann aber lag die schlanke, hochgewachsene Knabengestalt quer über dem Bett hingestreckt und bebte in nervösem Weinen. Tief hatte sich der dunkle Kopf in die Kissen gebohrt, damit man nur ja das Schluchzen drüben nicht vernehmen solle.
Frau Gertrud war an sich nicht entmutigt durch das Betragen ihres jungen Sohnes. Unreif! Ein Knabe! – Gott sei Dank noch völlig Kind! Auch die Drohung des Selbstmordes traf sie nicht tief. Sie kannte ihren Jungen zu genau! Vermochte doch To von jeher sehr schlecht zu heucheln und zu lügen. Mit klarem Blick erkannte sie den Einfluß der Schwester auf den jüngeren Bruder – aber im Herzen spürte sie bei dieser Erkenntnis einen heftigen Stich. To würde, besonders da er von je Detlev sehr zugetan gewesen, sicher bald ganz anders denken, sein Benehmen ändern. Als er die Tür so rauh und hart zugeschlagen hatte, so daß die Frau geglaubt, ihr ohnehin furchtbar schmerzender Kopf müsse entzwei gehen, hatte sie das Gefühl gehabt, als würde jetzt eine, wenn nicht wirkliche, so doch eine moralische Ohrfeige für den Jungen am Platz sein. Zorn wollte aufsteigen in ihr; eine Art Trotz ließ sie den Rücken steifen und ihre Lippen sich schürzen. Aber nur einen Augenblick; dann sank sie auf einem Stuhl müde zusammen. Rasch streiften Lises Augen die beweglichen, ausdrucksfähigen Züge ihrer Mutter und darauf die Tür, hinter welcher der Bruder verschwunden war, dann trat sie zu der Gebeugten und strich ihr kosend über den Kopf. Dabei fröstelnd spürte diese die feuchtkalten Finger an ihren Schläfen.
»To ist ein dummer, frecher Bengel! Wie kann er bloß so – aber siehst du, Mutter, er ist eben noch ein Kind. Freilich, ein solches fühlt oft gerade, – jedoch lassen wir ihn!«
Dann verstummte sie nachdenklich und versuchte möglichst ruhig zu überlegen. Frau Halliger gab keinen Laut von sich und schüttelte nur endlich nervös Lises Hand vom Scheitel ab.
Eine noch aus frühester Kindheit stammende Antipathie gegen den Baron hatte sie nie wie den Bruder in ein warmes Verhältnis zu ihm treten lassen. Die Abneigung war seit dem Münchener Aufenthalt durch Eckebergs, die auch Otto sehr darin beeinflußten, nur noch mehr verstärkt worden. Eine besondere Eigentümlichkeit Helas, die doch in mancher Hinsicht eine so wackere Frau ist und eine große Anzahl trefflicher Eigenschaften besitzt, besteht darin, ihr fern stehenden, unbekannten Menschen aus Gertruds Bekanntenkreis ohne weiteres Mißtrauen und Geringschätzung entgegenzubringen. Niemals hätte sie oder Otto in Wahrheit das geringste Nachteilige über Dombrowsky zu sagen gewußt. Dennoch sprachen ein kurz hervorgestoßenes, brutales Wort des Bauamtmanns, ein spezifischer Augenaufschlag mit besonderer Mundverzerrung der Exzellenz ein höchst abfälliges Urteil. Wie oft hatte Lise das schon erlebt, wie häufig es mit einer gewissen Freude geradezu provoziert! Ihre Gefühle kamen ja der Annahme, daß Detlev nicht ohne Grund so wenig von den Verwandten geschätzt würde, eilig und gerne entgegen. Während gerade in letzter Zeit ihre schon vor Jahren aufgestiegene Angst neue Nahrung erhalten hatte, war ihr nach und nach zur absoluten Sicherheit geworden, daß der Baron keineswegs des Kultus würdig sei, den der verstorbene Vater mit ihm getrieben hatte und den die Mutter bis zum heutigen Tag aufrecht hielt.
Mit der jüngst versprochenen, selbstverleugnenden Hingabe an ihre Mutter war es Lise keineswegs so ernst. Sie wollte nur Zeit gewinnen und auch Terrain! Sie beharrte eigensinnig darauf, daß es ein Fleck aus der Familienehre, eine Schande vor der Welt bedeute, wenn Mutter sich wieder vermähle. Auch das hatte Tante Hela schon hervorgehoben, und Onkel Otto hatte mit finsterem Gesicht an seinem schlecht gepflegten Schnurrbart kauend dabei gesessen. Ein unsäglich widerwärtiges Gefühl beschleicht das junge Mädchen, wenn es sich vorstellt, eines Tages gar noch dem Baron gehorchen, ihm mit gewisser Ehrerbietung und respektvoll begegnen und am Ende auch noch zusehen zu müssen, wie er Mutter herzen und küssen würde. Aber nicht einmal die Eifersucht des zärtlich liebenden Kindes ist dabei. So fühlt Lise gar nicht für die Mutter. Es ist, – aber sie würde es ja nie zugeben – eine Fülle von Selbstsucht und Eigennutz dabei, denn sie denkt auch an pekuniäre Nachteile, die ihr erwachsen könnten. Nimmermehr darf diese Ehe zustande kommen, nimmermehr! Keinen Gedanken widmet sie dabei dem Glück oder Unglück der Mutter, deren Jugend, Schönheit oder deren ureigenem Recht an das Leben. Nur an sich denkt Lise, sie, sie und nochmals sie!
Wahres und Unwahres, Falsches und Echtes in ihr taten sich zusammen, um sie zur perfekten Schauspielerin zu machen. Nur nicht etwas verderben durch Trotz, durch falsches Auftreten wie vorhin To. Sie wußte schon, wo der Mutter verwundbarste Stelle sei. Ohne es irgendwie besonders zu schätzen, empfand sie deutlich, daß Gertruds ganzes Wesen und Sein in der Liebe zu ihren Kindern wurzle und diese ihr das Höchste bedeuteten, und erkannte mit ihrem frühreifen Verstand, daß die Mutter wohl dazu zu bringen sein würde, ihr eigenes Liebes- und Lebensglück ihren Kindern aufzuopfern. Nur richtig müßte man es anfangen.
So stand Lise blaß, die weißen Lippen fest zusammengekniffen, vor der schon jetzt so niedergedrückten Frau, die zudem bereits die Mattigkeit der ausbrechenden Krankheit in ihrem Körper verspürte. Ängstlich hingen Gertruds trübe brennende Augen an der Tochter. Plötzlich sank diese, von wirklich großer Erregung erfaßt, vor der Mutter in die Kniee und schlang die Arme um deren mädchenhaften Leib.
»Habe ich dir denn nicht gesagt, daß ich immer und immer bei dir bleiben wolle, daß du nie allein und einsam sein würdest? O Mutter, – Mutter!«
Ein Aufschluchzen erreicht schmerzend Frau Halligers Ohr und – Herz.
»Wenn es aber dennoch sein müßte, Mutter, – müßte, – wenn wir dir also ein Nichts sein würden, – warum dann gerade, – gerade der Baron?«
Der blonde Kopf mit feuchten, flehenden Augen war nach oben gewendet. Gertrud suchte schon nach geeigneten Worten, um ihrem Kind zu erklären, was ihr diese Liebe zu Detlev bedeute, daß Lises kindlich und optimistisch gebaute Luftschlösser ja doch zusammenstürzen und daß sie selbst damit dann naturgemäß verlassen und einsam sein werde. Nun aber vergaß sie über der herausgehörten, halbversteckten Anklage gegen Dombrowsky, was sie zu sagen beabsichtigte. Unwillkürlich reckte sie sich aufrechter, und ihre Augen bekamen einen strengen Blick, einen stahlharten Ausdruck, wie sie mit rauher Stimme zurückfragte:
»Was, – was – soll das heißen, – was hast du gegen Det – gegen den Baron, – der uns so lange schon nahe stand, und den auch euer Vater –«
Lise zuckte zusammen und schnellte dann zornig in die Höhe. Jetzt galt es auch dieses Mittel anzuwenden. – Sofort nahm sie sich wieder zusammen. Mit herabhängenden Armen und gesenktem Kopf eine Erklärung vermeidend, sagte sie mit sanfter Stimme, die ebenso wie Stellung und Haltung für Gertrud etwas Ergreifendes hatte:
»Vom Vater, vom Vater sprichst du! O warum mußte er sterben? Ja, Mutter, vergißt du denn seiner nun so völlig?«
Ein echter, heißer Schmerz aber stieg nun in dem jungen Mädchen auf, so stark wie es einen solchen überhaupt zu fühlen vermochte. Den Vater hatte es ja wirklich nach Kräften geliebt. Einen kurzen Augenblick lang sah dann Lise sogar ihr eigenes Wesen als wahres Zerrbild vor sich: eckig und scheckig zusammengesetzt aus den widersprechendsten Eigenschaften, beschmutzt sogar! Eine Sekunde lang verspürte sie auch etwas Schmerzendes, Unbequemes, so wie plötzlich die Reue einen Menschen zu fassen pflegt. Aber da war Lise auch schon wieder die alte. Nur kam unter dem Einfluß des aufgewallten edleren Gefühls weicher, eindringlicher, als es ihr sonst möglich gewesen wäre, heraus:
»Wir wollen ja nur dich behalten, Mutter, ganz und gar für uns, ohne Teilung. So fest hatten wir von je an deine treue Liebe geglaubt. Nimmermehr aber würde sie uns dann bewahrt werden in alter Stärke. Mutter, Mutter, willst du uns denn verdrängen lassen, selbst verdrängen, halb und halb verstoßen um eines Fremden willen?«
Dann ließ das junge Mädchen die rasch und fest ergriffenen Hände der Mutter fallen, stand auf, nahm eine steife Haltung an und schloß eisig:
»Wenn du aber nicht anders handeln zu können glaubst, wenn eine größere Macht dich zu, – zu dem – anderen zwingt, so handle eben wie du es für recht findest und verantworten zu können meinst. Wir, deine Kinder, können dich nicht hindern. Aber, – werden wir dir entrückt, – völlig, – auf ewige Zeiten, – dann wundre dich auch nicht, beklage dich nicht. Wir werden unseren Weg eben allein, nun doppelt verwaist, suchen und finden müssen!«
Jetzt erschrak Lise doch vor der Mutter erdfahlem Gesicht. Ein heißer, wilder Kampf tobte in der unglücklichen Frau. Aus dem Chaos erstand dann aber die Empfindung, als sei die Schuld riesengroß, die sie trotz allem vorhergegangenem Ringen in schweren Zweifeln doch nun zu begehen im Begriff war, gänzlich überwältigt durch das Glück über Detlevs plötzliches Erscheinen. Wie war es nur möglich gewesen, daß sie je im geringsten hatte abweichen können von dem selbst vorher doch als einzig recht erkannten Pfad? Und wenn auch zur Stunde aller Zwiespalt beseitigt werden könnte, so hätte sie doch nimmermehr ihr Lebensglück auszubauen vermocht auf dem zerbrochenen oder doch geschädigten der eigenen Kinder. Nun erscheint ihr selbst Tos kindisches Betragen in einem völlig anderen Licht. Wie tief erschüttert schien der Junge zu sein! Und hier vor ihr Lise, ihre Älteste, ihr Kind tausendfältiger, nicht nur körperlicher, auch so ganz besonderer seelischer Schmerzen! Kann doch kein Mensch ahnen, was sie darum gelitten, in welch entsetzliche Unklarheit des Fühlens und Denkens sie einstens die Geburt des Kindes versetzt hatte. Später dann! Schwer, so schwer war Lise zu erziehen gewesen! So schwierig und mühevoll, ihrem komplizierten Charakter einsichtsvoll verstehend zu folgen und das am Geist so viel mehr wie am Gemüt entwickelte Geschöpf gerecht zu beurteilen, günstig zu beeinflussen. Wie ein herrliches, unendlich lohnendes, aber noch unvollendetes Werk will ihr die jugendliche Tochter erscheinen, das nimmer reifen könnte, so reifen, so werden, wie sie es sich erhofft, unter anderen als den Mutteraugen und -händen. Sie hatte ja nie daran gedacht, sich dieser wundervollen Pflicht etwa als Detlevs Weib zu entziehen. Verehrte und würdigte doch der Geliebte in ihr gerade die Mutter so sehr. Aber – Lise hatte recht! Wenn Gertrud auch niemals ihre Kinder im geringsten vor Detlev zurückgesetzt, etwa um seinetwegen weniger geliebt hätte, Halbheit hätte doch daraus entstehen müssen; und wenn es dem Einfluß von Dombrowskys faszinierender Persönlichkeit endlich in der Tat gelungen wäre, in ihr jenen durch Rolands Sterbestunde entstandenen Zweifel zu bannen, so daß sie, von der eigenen Liebe hingerissen, sein Weib geworden wäre, – ihre Kinder hätte sie doch nie, – nie und nimmermehr sich dadurch entrückt sehen, verloren wissen mögen. Deutlich empfand wieder Gertrud, wie groß das Muttergefühl in ihr war, wie es alles übrige, das Größte auch, verschlang.
Der Anblick Lises sprach fast mehr wie alle Worte. Wie gebrochen erschien das junge Mädchen Gertrud. Wie es sich jetzt wieder gezeigt hatte! Auch in dieser Stunde empfand die Mutter abermals deutlich, wie in dem noch unentwickelten Geschöpf die schönen und guten Anlagen rangen mit ungünstigen, wie nötig verständnisvolle Beobachtung und Leitung dem jungen Menschenkind sein würden. Und vor allem der Liebe bedurfte es, einer unermüdlichen, hingebenden, einer, die selbstlos alles erträgt und nimmer wankend ausharrt um der Vollendung des großen Werkes willen. Ihre Kinder, ihre Schätze, – das Vermächtnis des Mannes, den sie, verehrend zu ihm aufblickend, so tief geliebt, dessen Fleisch und Blut! – was durften ihre Wünsche, ihr Glück dagegen sein? Auch die Detlevs! Er müßte sich beugen wie sie, vor dem Gewaltigeren, dem Mächtigeren, und wenn er ihr zürnte ob ihres Wankelmutes, so müßte sie es tragen zur gerechten Strafe dafür, daß sie schwach und inkonsequent gewesen. Um Haaresbreite hätte sie ja das Andenken des geliebten Toten entweiht. Und hatte sie sich nicht selbst, ihr Gewissen dabei einlullen wollen? Nun zeigte ihr Lise den rechten, einzigen Weg. Die wahre Mutter müßte unter allen Umständen ihren Kindern aufzuopfern fähig sein, was ihr an eigenem Glück beschieden gewesen wäre. Glück? Halb, – vergänglich gewiß nur hätte es zudem ja sein können, mit der verfolgenden Erinnerung an das Geschehene. –
Gertrud Halliger versuchte sich zu erheben. Aber die Füße wollten sie nicht tragen; sie sank wieder auf den Stuhl zurück. Lise sprang herzu und stützte sie; an ihr Halt suchend, raffte die kranke Frau sich in die Höhe. Dann standen sie sich Aug in Auge gegenüber. Gertrud hatte die Arme schon erhoben, um sie um den Hals der Tochter zu schlingen, da meinte sie etwas Unerklärliches, sie Abstoßendes unter deren halb gesenkten Lidern hervorblitzen zu sehen, und ihre Hände sanken wieder herab. Aber das konnte ja nur Täuschung der überreizten Nerven gewesen sein. So umfaßte sie wirklich ihr Kind und drückte stumm einen heißen Kuß auf dessen gebeugte Stirne. Dann sagte sie langsam und mit schwerer Zunge: »Ich, – ich – will nichts anderes mehr als eure Liebe!«
In Lises Gesicht leuchtete es freudig auf, stürmisch wollte sie die Mutter umarmen. Aber diese wich nun zurück und stand jetzt auch ganz fest auf den vorhin so schwachen Füßen. Da trat das junge Mädchen wie von Unsichtbarem hinweggetrieben von ihr zurück und wich in das schützende Dunkel der Portiere. Aufrecht, ganz gerade, mit den Bewegungen und dem Gesichtsausdruck einer Nachtwandelnden schritt Gertrud stumm gegen die Türe ihres Schlafzimmers, die fest ins Schloß fiel; dann war es ganz ruhig geworden
Ein Kältegefühl überkam jetzt Lise. Sie horchte, auch dann noch vom Gange aus, aber sie vernahm nichts, – nichts. –
Das Essen mußten die zwei Geschwister, To mit roten Augen, allein einnehmen. Dann fuhren die Großeltern vor, um die Enkel, – erst abends sollte Grete Mannes nachkommen, die den ganzen Tag zu tun hatte, – zu der Tegernseer Exkursion abzuholen. Die beiden Alten waren so vergnüglich und lebhaft wie je. Kathl meldete, daß die gnädige Frau zu Bett liege und zweifelsohne starkes Fieber habe. Sie hätte schon gestern geklagt über Kopf und Gliederweh.
»A kleines Influenzerl halt,« meint Doktor Degenhardt gemütlich.
»Das wird sich bald wieder machen!« sekundierte ihm Frau Thilde. »Nur aufpassen und später gut und vernünftig nähren, Kathi! So kleine Ragoutchens, leichte, pikante Sachen, die ansprechen. Ich werde Ihnen einige Rezepte –«
»Schnackl, da wird jetzt net kocht! Schnell, ihr Bambsen, kommt's; der Zug wartet nicht, jetzt müssen wir halt schon gehen!«
Dann lugten Uz und Schnackl ein Momenterl zur Tochter hinein, – etwas bange vor Ansteckung und deshalb nur durch eine Türspalte. Sie fanden, daß diese ganz gut aussähe, obwohl sie nur eben im Halbdunkel eine Gestalt auf dem Bett erkennen konnten. To zögerte auf der Schwelle nochmals, als wolle er nun doch der Mutter noch Lebewohl sagen trotz Lises Abmahnung.
»Nein, Unsinn! Wenn sie doch Ruhe haben will! Sie schläft ja,« herrschte ihn die Schwester an.
»Geh, Toerl! Sie kommt ja in ein bis zwei Tagen doch nach; mach keine Gschichten net. Nix wie in Wagen nunter!«
Degenhardt war eben unter allen Umständen ein lustiger Großpapa.