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Als Ferris eine Stunde später in Tredwells Begleitung das Haus verlassen wollte, fühlte er sich am Arm berührt. Er wandte sich um und sah Hickory vor sich stehen.
Entschuldigen Sie, sagte der Detektiv mit höflicher Verbeugung, in der Bibliothek wartet ein Herr, der Sie zu sprechen wünscht, ehe Sie fortgehen.
Sie begaben sich nach dem bezeichneten Zimmer und blieben tieferschüttert auf der Schwelle stehen. Die hohen Bücherschränke an den Wänden, der große, mit Akten und Papieren bedeckte Mitteltisch, die ganze wohlbekannte Einrichtung und dazu der leere Armstuhl vor dem ausgebrannten Kamin – es war ein düsteres Bild.
An einem Fenster am andern Ende des Raumes hatte ein Herr, anscheinend in ein Buch vertieft, gestanden, jetzt wandte er sich und trat auf sie zu.
Sie erlauben, daß ich mich Ihnen vorstelle, sagte er, mein Name ist Gryce, ich bin Beamter der Neuyorker Geheimpolizei.
Sie hier, Herr Gryce? rief der Bezirksanwalt erstaunt, wie ist das möglich?
Der berühmte Detektiv verbeugte sich, Horaz Byrd, einer meiner Untergebenen, hat mich gerufen, sagte er. Vor etwa sechs Stunden erhielt ich seine Depesche in Utica. Der junge Mann ist bei dem hier schwebenden Kriminalfall beschäftigt, ich hoffe, er hat sich Ihre Zufriedenheit erworben und genießt Ihr Vertrauen.
Ich halte große Stücke auf Herrn Byrd, entgegnete Ferris, aber daß er nach Ihnen schickte, geschah ohne meinen Auftrag. Um wieviel Uhr ist denn sein Telegramm von hier abgegangen?
Um halb zwölf, unmittelbar nach Herrn Orkutts Unfall. Wahrscheinlich glaubte Byrd meiner Hilfe bei dieser neuen Verwicklung zu bedürfen, da er sich allein ihr nicht gewachsen fühlte.
Ferris warf einen forschenden Blick auf den erfahrenen Detektiv. Es kommt mir durchaus nicht ungelegen, daß Sie hier an Ort und Stelle sind, sagte er, Sie werden vernommen haben, welche schmähliche Anklage soeben gegen den trefflichen Rechtsanwalt, einen unserer angesehensten Bürger, erhoben worden ist. Das Fräulein, von welchem sie stammt, hat dergleichen völlig grundlose, wahnsinnige Verleumdungen schon früher vorgebracht. Sie muß an Geistesstörung leiden, und ich rechne auf Ihren Beistand, um den Namen meines sterbenden Freundes von dem Schimpf zu reinigen, den sie ihm angetan hat.
Bester Herr, entgegnete Gryce, den Blick vertraulich bald auf diesen, bald auf jenen Gegenstand im Zimmer richtend, wir leben in einer Welt voll Trug und Schein. Große Geister, die wir bewundern, Herzen, auf die wir uns verlassen, täuschen uns oft durch Treulosigkeit, Gewalttat und Hinterlist. Das ist eine schreckliche Wahrheit, aber wer vermag sie zu leugnen?
Unwillig und betroffen sah Ferris den Detektiv an. Was, rief er, auch Sielassen sich durch die Fieberphantasien meines unglücklichen Freundes betrügen, der schwer verletzt an einer Kopfwunde darniederliegt? Können Sie im Ernst den Worten einer Rasenden trauen, die eben erst vor Gericht wissentlich falsch ausgesagt hat?
Auch Tredwell konnte seinen Verdruß über die Rede des Detektivs kaum unterdrücken; ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf den Tisch. Unsinn, rief er, wie kann man den Mann für einen solchen Narren halten?
Gryce ließ sich nicht beirren. Zunächst, mahnte er eindringlich, werden wir Maßregeln ergreifen müssen, damit durch die Personen, welche die Beschuldigung vernahmen, die böse Nachrede nicht weiter verbreitet wird.
Ich habe allen, die zugegen waren, Schweigen anbefohlen, sagte Doktor Tredwell. Schon aus Achtung für Orkutt wird man meinem Wunsch willfahren.
An uns ist es, das Andenken eines Mannes, der in so hohem Ansehen steht, rein und makellos zu erhalten, meinte Gryce. Darum ist es vor allem unsere Pflicht, sein Verhältnis zu der Ermordeten völlig klarzustellen.
Orkutt hatte nichts mit ihr zu schaffen, als daß er bei ihr zu Mittag aß, weil sie gut kochte. Das ist stadtbekannt. Von einer andern Verbindung zwischen ihnen kann nicht die Rede sein. Gryce blickte zu Boden. Sie vergessen, meine Herren, sagte er, daß es der Rechtsanwalt war, der zuerst den Schauplatz des Mordes betrat, einige Minuten früher als alle übrigen. Sobald ein Verdacht gegen ihn verlautet, wird man sich dieser Tatsache erinnern.
In den Zügen der beiden Männer malte sich die heftigste Bestürzung.
Ich meine nur, fuhr jener fort, mißtrauische Leute können daran denken, daß es Herrn Orkutt nicht an Gelegenheit gefehlt hat, das Verbrechen zu begehen, da er an jenem Mittag im Hause der Frau Klemmens war.
So töricht wird niemand sein, rief Tredwell, während Ferris kaum Worte fand, um seiner Entrüstung Luft zu machen.
Wie, brauste er auf, Sie könnten wirklich glauben, daß irgend jemand in Stadt oder Land den sinnlosen Argwohn hegen würde, Orkutt habe die Frau mit eigener Hand erschlagen? Trat er denn nicht nach höchstens zwei Minuten schon wieder heraus, um uns die Todeskunde zu bringen?
Der Gedanke liegt doch nicht gar so fern, beharrte Gryce, wenn man bedenkt, daß eben vor dem Gerichtshaus darüber verhandelt worden war, wie man ein Verbrechen begehen und sich am besten vor Entdeckung schützen könne.
Es kann Ihr Ernst nicht sein, rief Tredwell, der bisher ebensowenig wie der Bezirksanwalt an die Möglichkeit gedacht hatte, daß man Orkutts letzte Worte für ein Geständnis halten würde.
Unüberlegt zu schwatzen ist nicht gerade meine Art, gab Gryce zurück. Sagen Sie mir doch, woher bekam die Witwe Klemmens das Geld, von dem sie lebte?
Das weiß man nicht.
Sie soll ja auch ein hübsches Sümmchen hinterlassen haben?
Seltsam, daß in einer Stadt wie Sibley niemand weiß, woher das Geld stammt, bemerkte der Detektiv.
Die Herren schwiegen.
Daß Orkutt ihr so viel für das Essen bezahlt haben soll, läßt sich kaum annehmen.
Das hat auch noch niemand behauptet, stieß Ferris hervor.
Aber weiß man, daß dem nicht so ist? forschte Gryce weiter. – Meine Herren, fuhr er erregt fort, ohne die Antwort abzuwarten, ich befinde mich in einer höchst Peinlichen Lage. Trotz meiner vielseitigen Erfahrung ist mir nie ein ähnlicher Fall vorgekommen. Glauben Sie mir, es wird mir nicht weniger schwer als Ihnen, an der Rechtschaffenheit des bedeutenden Mannes zu zweifeln, den auch ich verehrt habe. Aber gerade als sein Freund würde ich sagen: lassen Sie uns der Sache auf den Grund gehen und nicht eher ruhen, als bis sich die Unschuld des Rechtsanwalts noch klarer herausgestellt hat, als die der beiden andern Männer, welche vor ihm desselben Verbrechens angeklagt worden sind!
Dabei ist nur der Unterschied, nahm Tredwell das Wort, da Ferris vor innerer Erregung verstummt war, daß gegen Orkutt nicht der Schatten eines Beweises vorliegt. Auch wüßte ich auf der Welt nicht, was ihn bewogen haben könnte, der armen Frau nach dem Leben zu trachten. Es scheint geradezu unsinnig, zu glauben, er habe die Missetat mit eigener Hand verübt und dann die Heuchelei soweit getrieben, den unschuldig des Verbrechens Angeklagten vor dem Schwurgericht zu verteidigen.
Das gebe ich alles zu, entgegnete Gryce, doch hat mich die Erfahrung gelehrt, daß mancher Verdacht auf den ersten Blick falsch, grundlos und widersinnig erscheint; deshalb trete ich völlig vorurteilsfrei an jede Sache heran. Wie Sie sich erinnern werden, war bei jenem Gespräch vor dem Gerichtshause gerade von dem Verbrecher aus der Klasse der Gebildeten die Rede, dem alle Künste der List und Verstellung zu Gebote stehen und der weiß, daß der Beweggrund seiner Tat für die Welt ein Geheimnis ist.
Aber gerechter Gott, rief Ferris entsetzt, was Sie behaupten, ist ja in diesem Fall ganz undenkbar.
Im allgemeinen, fuhr der Detektiv ruhig fort, spreche ich mich selten so offen über meine Ansichten aus, wie jetzt Ihnen gegenüber. Ich befolge meist den Grundsatz, Zweifel und Argwohn für mich zu behalten, bis meine Forschungen beendet sind, und ich meine Angaben mit triftigen Gründen belegen kann. Heute liegen die Dinge jedoch anders. Zwar will ich noch durchaus nicht behaupten, daß Orkutts Worte ein Geständnis enthielten, aber an seiner Unschuld hege ich starke Zweifel. Es ist besser, Sie wissen dies zum voraus und können sich auf das Schlimmste gefaßt machen.
So beabsichtigen Sie also, was sich hier zugetragen hat, an die Öffentlichkeit zu bringen? fragte Ferris erregt.
Im Gegenteil, erwiderte der Detektiv. Ich möchte Sie dringend bitten, die wirksamsten Mittel zu ergreifen, um alle, welche Zeugen des Auftritts gewesen sind, zum Schweigen zu veranlassen.
Dem Bezirksanwalt war zumute, als liege ihm ein schwerer Alp auf der Brust. Raten Sie mir, was soll ich tun? wandte er sich an den Coroner. Wenn Sie glauben, daß mir die Amtspflicht gebietet, den Fall näher zu untersuchen, will ich nicht zögern, wie sehr sich auch mein Gefühl dagegen sträubt.
Aber Tredwell war nicht weniger unentschlossen und ratlos wie er. In peinlicher Verlegenheit wandte er sich endlich an den Detektiv.
Herr Gryce, sagte er, wie Sie wissen, sind wir Freunde des Mannes, der oben im Sterben liegt; doch möchten wir nicht aus Mitgefühl für ihn die Pflichten verletzen, die wir dem Angeklagten und unserer verantwortlichen Stellung schuldig sind. Sprechen Sie, was soll geschehen?
Vor allem, entgegnete Gryce, nehmen Sie den Leuten, die noch im Sterbezimmer versammelt sind, das Versprechen ab, daß sie vor Ablauf einer Woche nichts von dem verbreiten, was sie dort gehört haben. Ferner vertagen Sie die schwebende Gerichtsverhandlung und überlassen Sie es mir und meinen beiden Gehilfen, die nötigen Nachforschungen über Orkutts früheres Leben anzustellen. Vielleicht stoßen wir dabei auf einen dunkeln Punkt oder finden irgendeinen Aufschluß über die Worte, die er auf dem Totenbette sprach. Nach Ablauf einer Woche sollen Sie Nachricht haben.
Aber Fräulein Dare?
Hat schon Schweigen gelobt.
Da die vorgeschlagenen Maßregeln dazu angetan waren, Ferris und Tredwell etwas zu beruhigen, erklärten sie sich mit allem völlig einverstanden, zumal Gryce versprach, mit der größten Rücksicht zu Werke zu gehen, weil der Gedanke, daß auf dem Namen eines solchen Mannes ein unauslöschlicher Makel haften solle, auch ihm in der Seele zuwider sei.
Noch eine Frage! rief Ferris, als er sah, daß der Detektiv sich anschickte, das Zimmer zu verlassen. Spielt nicht bei dem Verdacht, den Sie gegen unsern unglücklichen Freund hegen, auch der Aberglaube eine Rolle? In dem Verhängnis, welches ihn ereilt hat, scheint sich der Fluch der Witwe zu erfüllen. Sollte etwa Ihr gesundes Urteil dadurch beeinflußt worden sein? Der jähe Schlag, der ihn traf, erinnert so sehr an das Ende der Frau Klemmens, daß man meinen könnte – –
Gryce nahm seine grimmigste Miene an.
Es hat der Katastrophe nicht bedurft, um meine Aufmerksamkeit auf Orkutt zu lenken, sagte er; vielmehr nimmt es mich Wunder, daß der Verdacht nicht schon längst auf ihn gefallen ist. Denken Sie nur daran, wie merkwürdig das verübte Verbrechen mit der Rede des Buckligen übereinstimmte! Ehe Sie wußten, wer dieser Bucklige war – ich selbst nämlich – glaubten Sie, er müsse der Täter sein. Der Mord erschien unmittelbar als die Folge seiner Worte: der Verbrecher mußte diese wenigstens vernommen haben, wenn es nicht mit Zauberei zugehen sollte. Wäre mir durch einen meiner Gehilfen berichtet worden, daß sich ein geheimnisvoller Mord zugetragen, nachdem fünf Minuten vorher der Verlauf desselben im Beisein mehrerer Personen genau so beschrieben worden war, wie er in Wirklichkeit stattfand, so würde ich sagen: »Suchen Sie nach dem Mann, der, nachdem er das Gespräch mit angehört, sich zuerst von der Gruppe entfernte und auf dem Schauplatz des Verbrechens erschien – das ist der Mörder !« – Freilich als Byrd mir mitteilte, was sich hier zugetragen, schwieg ich, denn der Mann, auf welchen diese Voraussetzungen paßten, war – Orkutt.
Sie wollen also sagen, daß nur sein Ansehen und seine Stellung den Verdacht bisher von ihm ferngehalten haben? versetzte Ferris.
Davon bin ich überzeugt, war des Detektivs unzweideutige Antwort.
Ohne auf die Bestürzung der Freunde zu achten, schritt er hierauf nach der Tür, an welche schon mehrmals geklopft worden war, und öffnete. Byrd trat hastig ein; welche Botschaft er brachte, stand ihm im Gesicht geschrieben.
Ich bedauere Ihnen mitteilen zu müssen – begann er.
Orkutt ist tot! fiel Ferris rasch ein.
Der junge Detektiv verbeugte sich stumm.