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Maria und die Mutter

Einer Frau war ihr Mann gestorben und hatte ihr nicht mehr Kinder zurückgelassen als einen einzigen Sohn, der ihr darum besonders lieb war. Nun fügte es sich eines Tages, daß ihr ein großes Leid um ihn erwuchs, denn er wurde gefangen und in Ketten und Halsring von seinen Feinden in den Kerker verschleppt. Da weinte und klagte die Mutter Tag für Tag und schrie zu Marien, sie möge ihr Kind aus seinen Banden und von allen Feinden befreien. So trieb sie es lange, aber all ihr Gebet verschlug nichts und niemand kam, der ihrem Sohn die Tür des Kerkers aufgeschlossen hätte. Da wurde sie des Gebetes, das ja doch nicht erhört wurde, am Ende überdrüssig und begab sich in eine Kirche, darin sich ein meisterlich geschnitztes Marienbildnis mit dem Kindlein auf dem Schoße befand. Als sie sah, daß niemand sonst in der Kirche war, trat sie einfältig, wie sie war, an das Bild heran, faltete die Hände und fiel traurig auf ihre Knie: »Heilige Jungfrau Maria«, sagte sie betrübt und weinend, »ich habe dich nun so oft gebeten, abends und morgens, du wollest mir gnädig von meinem Kummer helfen und mir meinen lieben Sohn fröhlich von den schlechten Menschen erlösen, die ihn dort gefangen halten. Aber ich sehe wohl, wenn ich zu dir und deinem Kinde rief, so ist es allzeit für nichts gewesen. So will ich denn damit aufhören, denn die Mühe kann ich mir sparen. Doch werde ich dir genau so mitspielen, wie man mir getan hat. Denn wie all mein Trost gestorben ist, so will ich dir dein Kind auch wegnehmen und es als eine Geißel für das meine behalten. Not bricht Eisen. Denn glaube mir, ich bringe dirs nicht wieder zurück, es wäre denn, daß du auch mir meinen Sohn herbeischaffst. Tu, was dir gefällt! Ich trage das Kind jetzt nach Hause.«

Damit trat sie hinzu und nahm ihr das Bild des Kindleins aus dem Schoße. Dann wickelte sie es in ein Tuch und trug es heim in ihr Haus. Heimlich ging sie in ihr Kämmerchen, nahm allerlei seidene Tücher und anderes Zeug und hüllte das Bild fein säuberlich darein: so legte sie es sorgsam in ihre Truhe. »Wenn deine Mutter dich hier lassen will«, sagte sie, »so möge sie's tun! Aber das eine weiß ich: gibt sie mir nicht meinen Sohn heraus, so wirst du ihr nie und nimmer wiedergebracht.«

In derselben Nacht aber ging Maria, die allen Menschen gütig ist, zu dem Kerker, darin der Sohn gefangen und elend darnieder lag, öffnete ihm die Tür und löste seine Ketten und Bande. »Liebes Kind«, sprach sie, »geh nun frei und ohne Zwang dahin zu deiner Mutter und sage ihr, daß ich dich erlöst habe. Aber sie solle mir nun auch mein Kind wiedergeben, das sie mir vordem an deiner Statt genommen hat.« Da eilte der Knappe fröhlich nach Hause und erzählte der Mutter alles, was ihm widerfahren war. Als diese ihn sah, freute sie sich ohne Maßen, schloß sogleich ihren Kasten auf, nahm das kleine Bildnis heraus und lief damit zu der Kirche. »Hier hast du dein Kind«, sprach sie und setzte es wieder in der Jungfrau Schoß, »denn wer kennte wie du, was eine Mutter leidet?«


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