Rudolf Greinz
Krähwinkel
Rudolf Greinz

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Das Abenteuer von Rovereto

Das war schon vor ziemlich vielen Jahren, als man noch im tiefsten Frieden lebte und die Züge vollgepfropft mit Menschen vom Norden nach dem Süden sausten.

Als mich mein Weg zum erstenmal über den Brenner führte, da hielt ich mich in der alten Stadt Rovereto in Südtirol auf. Eigentlich wollte ich nur zwei oder drei Tage verweilen. Aber schließlich wurden aus den Tagen ein paar Wochen. Und das kam so . . .

Im Herbst war es. Ein herrlicher Oktober. Ich durchwanderte die kleine Stadt von Süd nach Nord und von West nach Ost. Besah mir alles, was es zu sehen gab. Die schönen alten Paläste am Corso Nuovo, das Castello mit dem malerisch felsigen Hintergrund und die alte steinerne Brücke, die über den Leno hinüberführt nach Santa Maria.

In Santa Maria war's, wo sich mein Schicksal für die nächsten Wochen entscheiden sollte.

166 Die engen Gassen und Gäßchen der schon sehr italienisch anmutenden Südtiroler Stadt machten bei Tag einen ziemlich menschenleeren Eindruck. Nur durch den Hauptstraßenzug, der vom Corso Rosmini hinüber zum Castello führt, war es etwas lebhafter.

In den Abendstunden zwischen fünf und sieben Uhr gestaltete sich das Straßenleben äußerst lebendig. Da traf sich, wie es mir schien, ganz Rovereto. Die Damen geputzt, mit zierlichen Schritten und lebhaftem Geplauder, die Herren in angeregten lauten Gesprächen, daß der Fremde manchmal meinen konnte, es sei ein heftiger Zank entbrannt.

So recht südländisch ging es hier zu. Und wälscher Süden waren die Bauten, die etwas unsauber aussehenden Gassen und Läden . . . wälscher Süden war der Zauber, der inmitten einer engen öden Gasse plötzlich einen romantischen Winkel erstehen ließ oder große farbige Klexe . . . hervorgerufen durch Wäsche, die man von dem einen Haus zu dem gegenüberliegenden aufgespannt hatte und die von lauer Südlandslust bewegt leise und geheimnisvoll wehte. Irgend ein schmutziger Bengel kauerte vor einem Haus und schrie aus Leibeskräften etwas, das man unmöglich verstehen konnte. Es war kein Lied und war doch 167 eines. Es klang melodisch mit seinem einförmigen, sich stets wiederholenden Refrain.

Im Zwielicht der hereinbrechenden Dämmerung lagen die hohen Häuser der Stadt und machten einen graudüstern Eindruck. Mitten im harmlosen Durcheinander dieser fröhlichen Menschen ertönte oft der heisere Schrei eines Maronibraters. Köstlicher Duft von frisch gerösteten Kastanien stieg verlockend in die Nase, so daß man gar nicht anders konnte, als sich ein Päckchen davon zu kaufen.

Und dann wieder jugendlich übermütige Mädchenstimmen hinter mir. Neckisches Geplauder und Gekicher. Alles kannte sich da. Alles grüßte sich. Es war die Heiterkeit des Südlandes, die mich gefangen nahm, wenn ich auch als ein Fremder durch diese Gassen und neben diesen Menschen wandelte . . . scheinbar nicht beachtet und doch von allen genau gesehen und jedenfalls auch glossiert.

Rovereto war ja nie ein Mittelpunkt des Fremdenverkehrs, nicht einmal eine Station desselben. Die Züge sausten an dem alten Nest vorüber weiter nach Süden zu. Und wenn sich der eine oder andere Südlandswanderer in Rovereto aufhielt, so mußte es eine besondere Passion sein. Er wurde jedenfalls beachtet. Vielleicht nicht immer freundlich.

168 Eine solche Passion für das Nest hatte mich schon in den allerersten Tagen erfaßt. Ich konnte mich nicht so rasch trennen. Es waren so wundervolle Schlenderstunden. Ich hatte ja alle die Gassen schon gesehen. Und trotzdem gefielen sie mir immer wieder.

Ich beschloß aus dem recht stimmungslosen Gasthof zu ziehen und mir ein Privatquartier zu suchen. Ich fand denn auch bald ein großes schönes Zimmer in einem alten Palazzo der Vorstadt Santa Maria. In einem gerade hervorragenden Zustand befand sich das alte Gemäuer nicht mehr. Es war mehr ein Zeuge entschwundener Herrlichkeit. Man hatte den weitläufigen Bau schon längst an Mietparteien vergeben.

Die Familie, wo ich wohnte, gehörte so gewissermaßen zum besseren Mittelstand von Rovereto. Der Vater: Ettore Toglia war Beamter beim Magistrat. Ich bildete ein Art Ereignis für das ganze Haus und die Nachbarschaft. Denn es gehörte eben nicht zu den Alltäglichkeiten, daß sich ein Fremder gleich für einige Zeit häuslich in Rovereto niederließ.

Die Familie des würdigen Herrn Toglia mußte ziemlich zahlreich sein. Wenigstens begegnete ich in den ersten drei Tagen immer wieder neuen Gesichtern, mit denen ich allmählich bekannt gemacht wurde.

Da war zunächst Herr Toglia selbst und seine 169 Gattin, die Signora. Beide dick und von einem gewissen öligen, fetten Glanz umwoben . . . mir kam unwillkürlich der Vergleich mit zwei fetten Sardinen in Öl. Dann war die Großmutter da, die Nonna, auch fett, jedoch im ganzen Habitus mehr wie eine dicke Kreuzspinne . . . Zwei halbwüchsige Jungen und drei halbwüchsige Mädeln lernte ich kennen. Dann zwei erwachsene Söhne, die irgendwo in Kondition standen und nur zum Essen heimkamen. Ein paar Tanten, Kousinen und sonstige Verwandte. Und endlich die Krone des Hauses Toglia, die Signorina Beatrice, die älteste Tochter des Ehepaares.

Sie mochte anfangs zwanzig sein und neigte auch schon ein wenig zur Üppigkeit. Übrigens war sie bildhübsch. Eine jener italienischen Blondinen mit dem rötlichen Schimmer in den Haaren, den dunkeln Augen und dem feinen blassen Teint, die eigentlich viel gefährlicher sind, als ihre schwarzen Schwestern . . . Vielleicht gerade deshalb, weil man sie unter der Sonne des Südens nicht vermutet und sie einem viel aparter erscheinen, als der landläufige Typus.

Mit der schönen Beatrice war denn auch bald ein regelrechter Flirt im Gange. Ich konnte nicht sagen, daß ich in das Mädel verliebt war. Dazu hatte sie zu wenig Geist . . . oder sagen wir aufrichtig gar keinen 170 Geist. Bildung natürlich auch gleich Null. Aber Rasse hatte sie. Das mußte man ihr lassen. Über kleine gegenseitige Neckereien ging es nicht hinaus. Es war eine ganz nette kleine Abwechslung.

So war seit meinem Einzug bei Toglias ungefähr eine Woche verstrichen. An einem warmen sonnenhellen Oktobertag, als ich gerade ins Restaurant gehen wollte, stand die Tür von Beatrices Zimmer, die auf den gemeinschaftlichen Vorsaal mündete, offen.

Es war mir noch nie vergönnt gewesen, einen Blick in dieses Heiligtum zu werfen. Ich blieb unwillkürlich stehen. Das hübsche Mädchen lag im Schaukelstuhl und tat nichts. Wie gewöhnlich. Ich räusperte mich. Sie fuhr empor, wurde etwas verlegen und lud mich dann ein, einzutreten.

Ich kam dieser Aufforderung natürlich sofort nach. Wir plauderten in ihrem Zimmer, immer bei offener Tür. Sie zeigte mir Verschiedenes an den Wänden, Fächer, Photographien, kleine Andenken.

Endlich blieben wir vor einer Kommode mit bauchigen Schubladen stehen. Darauf befand sich eine zierliche Alabasterbüste von zwei Liebenden, die sich küßten. Ich bewunderte das Kunstwerk.

»Un bello esempio!« sagte die schöne Beatrice halblaut neben mir. »Ein schönes Beispiel!«

171 Ich drehte mich nach ihr um. Da stand sie im vollen Sonnenglanz, der durch die breiten hohen Fenster fiel, mit ihren leuchtenden Haaren, den dunkeln Augen und einem verführerischen Lächeln um die Lippen. Und diese Lippen sagten es nun noch einmal, indes die Augen einen heißen Blick auf die Büste und dann auf mich warfen . . . »Un bello esempio!«

Fischblut hätte ich in den Adern und einen Eisklumpen in der Brust haben müssen. Ich tat, was tausend andere an meiner Stelle auch getan hätten. Ich machte das »schöne Beispiel« sofort nach. Zwar fand ich einen ganz kleinen Widerstand; aber das war nur so der Form halber . . .

Sie küßte wirklich herrlich, die rotblonde Beatrice mit den dunkeln Augen. Es war Seele, Leidenschaft, Bewußtsein in diesen Küssen. Wenigstens bildete ich mir's ein. Natürlich waren es mehrere Küsse. Schöne Beispiele muß man doch etwas reichlicher nachahmen.

Zwischen einem und dem andern Kuß fragte sie mich immer wieder, ob ich sie wohl liebe. Ich müßte ja ein Barbar gewesen sein, wenn ich das verneint hätte. Zudem freute sie diese Versicherung so sehr, daß sie mich immer wieder von neuem küßte. Und sie küßte wahrhaft gottvoll. Lange, mit vollen Lippen 172 und mit einer gewissen inbrünstigen Andacht. Wenigstens kam es mir so vor.

Zuletzt mußte ich's ihr schwören, daß ich sie liebe. Als sie auch diesen Schwur hatte, schob sie mich sanft zur Tür hinaus . . . und ich ging ins Restaurant essen. Mit großem Appetit. Es gehörte überhaupt zu meinen Eigenschaften, daß ich nach solchen Erlebnissen immer einen Mordshunger hatte. Eigentlich ist das eine Brutalität. Aber ich kann nichts dafür.

Nach dem Mittagessen ging ich noch in ein Kaffeehaus. Dann ein kleiner Spaziergang und heim. Signorina Beatrice war den ganzen Nachmittag nicht zu sehen.

Es war bereits dämmrig geworden, als es an meine Tür klopfte. Ich öffnete selbst. Es war Beatrice. Ich wollte sie hereinziehen. Sie wehrte sich energisch. Wenigstens einen Kuß. Auch nicht. Sie hob verweisend den Zeigefinger der rechten Hand und lud mich mit einer gewissen Feierlichkeit ein, den heutigen Abend im Familienkreis der Toglia zu verbringen. Ich dankte, und sie entwischte mir wieder.

Aufrichtig gestanden war mir schon damals nach dieser Einladung etwas anders zumute. Als wenn ich verschiedenes geahnt hätte. Ich machte mich aber fertig, warf mich in meinen besseren hellen 173 Frühjahrsanzug, knüpfte die Krawatte mit besonderer Sorgfalt und ging nach dem Wohnzimmer meiner Quartierleute.

Auf mein Klopfen erscholl ein mehrstimmiges Herein! Ich fand so ziemlich alles versammelt, was ich in den letzten Tagen kennengelernt hatte.

Kaum hatte ich den Fuß über die Schwelle gesetzt, als mir Herr Toglia und Gemahlin, die beiden fetten Sardinen in Öl, entgegenwatschelten, mich nahezu gleichzeitig gerührt umarmten und küßten. Es war nicht schön. Unwillkürlich warf ich besorgte Blicke auf meinen Anzug, ob er wohl keine Fettflecken bekommen habe.

Noch ehe ich Zeit fand, mich von meinem Erstaunen über diesen zärtlichen Empfang zu erholen, drückte mir Signore Toglia beide Hände und rief: »Nein, dieses Glück für unser Kind!«

Und die Signora fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen und frug: »Sie werden sie aber ganz gewiß glücklich machen?«

»Wie? Was? Wen?« stotterte ich verwirrt hervor, ohne noch recht zur Erkenntnis der Situation gekommen zu sein.

Da fiel mir schon die blonde Beatrice um den Hals und küßte mich vor der ganzen Gesellschaft 174 mehrmals, gleich lang, mit der gleichen Leidenschaft und inbrünstigen Andacht, als da wir allein waren. Die anwesenden Zeugen schienen ihrer Liebe keinen Abbruch zu tun.

»Aber . . . ich weiß nicht . . . es muß . . .« wollte ich noch schüchtern Einwendungen erheben, als Beatrice mich endlich losließ.

Da sah ich, wie sich wieder zwei Arme vor mir ausbreiteten. Ich wollte zurückweichen. Aber sie hatte mich schon. Die Nonna nämlich. Auch sie küßte mich. Das war unbedingt furchtbar.

In der darauffolgenden notwendigen Betäubung wurde ich an den Familientisch gesetzt zwischen den Papa Toglia und die Mama. Mir gegenüber saß Beatrice zwischen ihren beiden erwachsenen Brüdern. Ein mächtiger Fiasko Wein stand auf dem Tisch. Papa Toglia schenkte die Gläser voll. Nun ging es an ein Gratulieren, an ein Evviva-Trinken auf das Brautpaar.

Innerhalb der nächsten Minuten war ich in aller Form verlobt, ohne eine Silbe dafür oder dagegen sagen zu können.

Mehrmals wollte ich mich während dieses denkwürdigen Abends aufraffen und gegen die ganze Geschichte energischen Protest erheben. Wenn ich aber 175 den forschenden Blicken der beiden Brüder Toglia begegnete, dann ließ ich es gern bleiben. Ich hatte Schauermären genug von den Brüdern gehört, die zu Rächern der verletzten Ehre ihrer Schwestern werden. Und besonders der ältere der Beiden, der noch dazu den Vertrauen erweckenden Namen Rinaldo führte, hatte einen Blick, daß man unwillkürlich an ein paar Zoll kaltes Eisen zwischen den Rippen denken mußte.

Ich machte daher gute Miene zum bösen Spiel, ließ mir den Wein schmecken und kam so allmählich in eine Art Galgenhumor hinein.

Als man sich gegenseitig verabschiedete, war man so diskret, mich mit meiner »Braut« allein im Vorsaal zurückzulassen.

»Aber Signorina Beatrice«, begann ich, »wie konnten Sie . . .«

»Caro mio!« flüsterte sie zärtlich. »Die Mama hat uns gesehen! Es ließ sich nicht länger verheimlichen . . . Aber du hast mich ja so sehr lieb!«

»Die Mama?« frug ich.

»Securo! Die Türe war ja offen. Heute Mittag . . .«

»Beatrice!« ließ sich die scharfe Stimme der Signora Toglia vernehmen.

176 »Buona notte!« flüsterte die Signorina. Und davon war sie, mit einem flüchtigen Händedruck . . . ohne Kuß . . .

Der moralische Kater, mit dem ich am nächsten Morgen erwachte, war entschieden eines der interessantesten Kapitel der Zoologie.

Alles wurde mir sonnenklar. Und je klarer es wurde, desto mehr stieg die Wut in mir auf. Da war ich ja schön in die Falle gegangen! Die verfängliche Büste, die noch verfänglichere Anspielung, die horchende Mama, die segnenden Alten, die inszenierte Verlobung . . .

Aber vielleicht liebte mich die blonde Beatrice wirklich? . . . Und wenn . . . was sollte ich denn mit dem Mädel anfangen? In Rovereto konnte ich doch nicht meinem Lebensabend entgegenharren! Und sie meinen deutschen Freunden daheim präsentieren! Na, ich danke!

Übrigens liebte sie mich gar nicht. Sie wollte geheiratet sein. Und damit basta! Warum war der Fremde so dumm, ins Garn zu laufen!

So entgegenkommend die Signorina vor der Verlobung war, so prüde zeigte sie sich nach derselben. Ab und zu wäre ich einem Kuß gar nicht abgeneigt 177 gewesen. Den gab's aber gar nicht mehr ohne Zeugen. Meine Wut erhielt durch diese Fastendiät nur eine beträchtliche Steigerung.

Da die Sache im Laufe der nächsten Tage immer unheimlicher wurde und man im Familienkreis schon ernstlich die Frage der Aussteuer erörterte, reifte in mir der endgültige Plan, die Flucht zu ergreifen.

Das war aber leichter gesagt als getan. Ich wurde mit einer Sorgfalt bewacht, als wenn ich ein Anarchist gewesen wäre. Alle Familienmitglieder zeigten eine rührende Anhänglichkeit an mich. Rinaldo und der andere Bruder widmeten mir jede freie Stunde. Zuletzt mußten sie sogar Urlaub genommen haben; denn sie waren schließlich ganz unzertrennlich von mir. Dabei hatte ich eine wahre Rundreise von Einladungen zu erdulden. Ich kam also der Familie meiner Zukünftigen fast gar nicht aus den Augen.

Zum Glück trat eine Regenperiode ein. Dadurch gelang es mir, ein paar Päckchen unter meinem Wettermantel auf die Post zu bringen und heim zu senden. Auf diese Weise rettete ich meinen zweiten Anzug, einen Teil meiner Wäsche, ein Paar Stiefel und meine Bücher.

Aber mein neuer Reisekoffer! Was sollte aus dem werden? Den konnte ich doch unmöglich auf der 178 geplanten Flucht mitnehmen. Da wäre mein Vorhaben ja gleich entdeckt worden.

Um den Koffer trauerte ich ehrlich. Es gab Momente, in denen ich wirklich in Versuchung kam, ihm zuliebe den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Die Dinge nahmen jedoch einen so jähen Fortgang, daß ich genötigt war, meinen geliebten Reisebegleiter ohne weiteres Bedenken zu opfern.

An einem Samstag wurde mir eröffnet, daß wir, nämlich Beatrice und ich, am Sonntag nach der Messe zum Pfarrer gehen sollten, der uns zum Brautexamen erwarte. Das fehlte mir gerade noch.

Sonntag Morgen schützte ich heftiges Kopfweh vor, das begründet schien, da ich am vorherigen Tag eine schwere Sitzung bei einem Onkel meiner »Braut« zu absolvieren hatte. Ich würde Beatrice und die Familie von der Kirche abholen und dann mit Vergnügen zum Herrn Pfarrer gehen, versicherte ich. So blieb ich unter der Bewachung der Nonna allein zu Hause.

Draußen regnete es in Strömen. Die Nonna hantierte in der Küche. Ich schlich mich . . . es gibt schließlich doch noch unbewachte Momente . . . in meinen Wettermantel gehüllt aus dem Hause, nachdem ich zärtlichen Abschied von meinem neuen Koffer genommen hatte.

179 Ich begegnete niemandem von meinen neuen Bekannten. Gottlob! Im Regenguß wanderte ich langsam nach dem Bahnhof, damit es ja wie ein Bummel aussah und nicht wie eine Flucht.

Den Fahrplan hatte ich sorgfältig studiert. Ich mußte gerade noch den Schnellzug nach Bozen erwischen und weiter über den Brenner nach dem Norden, in die Freiheit . . . fort aus den Armen der schönen Beatrice. Meine Sehnsucht nach dem Süden war mir für dieses Jahr gründlich vergangen . . .

Die sollten mich suchen . . . die männliche und weibliche Ölsardine Toglia . . . das fette Schauerweib von einer Nonna . . . und die beiden Brüder und die Verwandten . . . mitsamt ihrem Pfarrer sollten sie mich suchen . . .

Herrgott im Himmelreich, war das ein wonniges Gefühl, als ich mich auf den weichen Polstern eines Wagenabteils zweiter Klasse ausgestreckt hatte, als der Zug angefahren war und immer rascher und rascher davon rollte, als mir Rovereto entschwand, gleich einem Traum, der nicht wiederkehren sollte . . .

Ich habe nichts mehr seitdem gehört von der edlen Familie Toglia. Wahrscheinlich ist die schöne Beatrice schon so dick wie damals die Mama . . .

180 An Rovereto bin ich schon öfters vorbeigefahren, wenn es nach dem Süden ging, allerdings stets mit einem gewissen Gefühl der Beklemmung oder sagen wir lieber gleich des Verfolgungswahnes, daß ein Mitglied der Familie Toglia plötzlich erscheinen könnte. Ich habe vor Rovereto regelmäßig meinen Hut aufgesetzt und ihn recht tief in die Stirn gedrückt . . . aus Gedankenschwere . . .

Seitdem ist eine geraume Zeit verstrichen, eine recht lange Zeit . . . Hoffentlich haben sich die Gefühle der schönen Beatrice für mich inzwischen gründlich abgekühlt . . .

Einmal trat mir das Erlebnis aber doch wieder mit geradezu unerhörter Deutlichkeit vor die Augen. Und das war gar nicht in Rovereto. Das war in München, als ich bei einem Frühschoppen im Löwenbräu saß.

Da klopfte mich ein wälscher Gipsfigurenhändler auf die Schulter. »Figurini, Signor, figurini!« Dabei hielt mir der Mann einen Gipsabguß vors Gesicht und meinte lachend: »Un bello essempio, Signor!«

Ich fuhr mit einem derart lauten Schrei vom Stuhl empor und muß den Menschen mit einem so entsetzten Gesicht angestarrt haben, daß er eilig die Flucht ergriff.

181 Der Gipsabguß jedoch war nichts anderes als jene Büste der beiden Liebenden, die sich küßten . . . da drunten in Rovereto . . . nur in Gips statt in Alabaster . . . Man kann beim hellen Tag Gespenster sehen . . . 183

 


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