Rudolf Greinz
Krähwinkel
Rudolf Greinz

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Die Liedertafel von Rabenstein

Die Rabensteiner taten es nicht anders. Eine Liedertafel mußte her, obgleich ihr kleines Städtchen kaum dreitausend Bewohner zählte. Aber Stadt blieb Stadt, auch wenn sie noch so klein war. Und eine richtige moderne Stadt ohne Liedertafel war einfach nicht zu denken.

Der Herr Notar hatte die Idee aufgebracht und hatte sie den Leuten förmlich eingeimpft, bis ein jeder von ihnen die feste Überzeugung besaß, daß es ohne eine Liedertafel überhaupt kein Leben mehr sei in Rabenstein. Der Herr Notar war ein sangesfroher Junggeselle. Wo er ging und stand, im Gasthaus und auf der Straße, überall sang oder summte er zumindest seine Lieder vor sich hin.

Manchmal schmetterte er sie auch im hohen Tenor in die Lüfte. Das klang oft so jäh und unvermittelt und öfters auch recht mißtönig und schrill, daß die Leute verwundert aufschauten und bedenklich die Köpfe 252 schüttelten. Daß dieses auch Kunst sein sollte, war nicht einmal einem Rabensteiner beizubringen.

Daß aber der Herr Notar ein äußerst kunstverständiger Mann sei, davon war schließlich ein jeder in der Stadt überzeugt. Deshalb hatte man auch den Notar zum Vorstand der neu zu gründenden Liedertafel gewählt.

Seit die Liedertafel existierte, kam tatsächlich Schwung in das gesellschaftliche Leben der Stadt. Es gab Konzerte und Vereinsabende, und endlich schwang man sich sogar zu einem Ballfest während des Faschings auf.

Das gab eine ganz ungewöhnliche Aufregung im Städtchen. Schon Wochen vorher hatte sich das Vergnügungskomitee gebildet und hielt Sitzungen über Sitzungen ab. Die Schwierigkeiten, die es zu bewältigen gab, waren aber auch beinahe unüberwindliche.

Es war ganz selbstverständlich, daß man nur die allerersten Kreise der Stadt zu dem Fest einladen konnte. Zu den allerersten Kreisen zählten natürlich der Herr Bezirksrichter und der Herr Bezirksgerichtsadjunkt, der Doktor und der Forstmeister, und wenn man ein bißchen Nachsicht walten ließ, auch der Bürgermeister, der Apotheker, der Hauptlehrer, der Tierarzt und der Steuerverwalter.

253 Dann kam lange nichts und dann erst die ehrsame Bürgerschaft. Die große Schwierigkeit aber war, daß gerade diese Bürgerschaft den größten Teil der Mitglieder stellte. Da war zum Beispiel der Sattlermeister Eberl, der unstreitig die beste Kraft verkörperte, da er über einen prachtvollen hellen Tenor verfügte.

Der Herr Sattlermeister war ein bescheidener kleiner Mann, den man sich auch in der besten Gesellschaft zur Not gefallen lassen konnte. Um so schrecklicher waren seine Angehörigen, vor allem seine bessere Ehehälfte. Um was der Meister zu bescheiden war, um das trat seine Frau selbstbewußter auf.

Die Frau Meisterin war eine stattliche Frau, um etliche Jahre älter als ihr Mann, resolut und laut in Stimme und auffallend in Gebärden und Benehmen.

Die Damen der Gesellschaft konnten sich nicht gut mit dieser Frau als einer zu ihnen gehörigen abfinden. Die zarte Frau Doktor erklärte dem Notar unter Tränen, lieber daheim bleiben zu wollen, als sich dem Risiko auszusetzen, daß diese rohe Person bei der Quadrille ihr Visavis werden könnte.

Es bedurfte der ganzen Überredungskunst des Notars, um die Frau des Stadtarztes dahinzubringen, 254 doch im Interesse der guten Sache dieses Opfer auf sich zu nehmen und sich am Ballfest zu beteiligen.

Ein Glück, daß sich der Notar so gut darauf verstand, mit Damen umzugehen. Überhaupt ein Glück, daß gerade der Notar der Vorstand der Liedertafel war. Ihm zuliebe fügten sich die Damen schließlich doch und nahmen die etwas stark gemischte Gesellschaft mit in den Kauf. Denn außer der Sattlermeisterin kamen noch andere zweifelhafte Elemente in den Kreis.

Der erste Bassist war der Rauchfangkehrer Müller, ein Mann von ganz netten Umgangsformen, solange er nüchtern war. Hatte er aber etwas zu viel über den Durst erwischt, dann vergaß er guten Ton und gute Sitte und erzählte es jedem, der es hören und nicht hören wollte, daß seine Frau vor der Heirat als Dienstmädchen bedienstet gewesen sei.

Alle im Städtchen kannten natürlich diese interessante Tatsache schon längst, aber es war ihnen ungemein peinlich, immer und immer wieder daran erinnert zu werden.

Der Kaufmann Zollner, welcher der Bürgermeister von Rabenstein war, hatte gar eine Kellnerin geheiratet. Die hatte sich zwar glänzend den Verhältnissen anzupassen verstanden. So gut, daß die Damen geneigt waren, es ihr beinahe zu verübeln. Ihre 255 Kleider waren stets nach dem neuesten Schnitt, ihre Hüte von einer geradezu herausfordernd einfachen Eleganz und ihr Haar immer hochmodern frisiert.

Die Damen, besonders die Frau Bezirksrichter, fanden, daß es eigentlich eine Frechheit war, sich so chik zu kleiden. »Denn . . .« meinte die Frau Bezirksrichter mit etwas spitziger Stimme . . . »man sollte doch niemals vergessen, von welcher Abkunft man war.«

Die Frau Bezirksrichter verschwieg aber sorgfältig, daß auch sie vor ihrer Verheiratung einmal dienendes Brot gegessen hatte. Sie erzählte nur, daß sie einer Beamtenfamilie entstamme, was vollkommen der Wahrheit entsprach. Nur daß ihr Vater, der kleine Steuerbeamte, seine zahlreiche Kinderschar bald von der Schüssel kriegen mußte und daß Fräulein Karoline schon in recht jungen Jahren als Kinderfräulein in einer großen Stadt ihr Unterkommen suchen mußte . . . davon schwieg die Frau Bezirksrichter wohlweislich.

Dort lernte sie ihren Mann als Universitätsstudenten kennen und lieben . . . und sobald es ging, heiratete er das Mädchen.

Aus dem lieben süßen Mädel von einst war gar bald eine richtige Dame geworden, die es verstand, 256 der Stellung ihres Gatten mit Würde und Anstand gerecht zu werden . . . die es liebte, immer und bei jeder Gelegenheit den ersten Ton im Städtchen anzugeben. Besonders auf Sitte, Form und Anstand hielt die Frau Bezirksrichter. Die Damen fühlten sich eigentlich in ihrer Gegenwart unbehaglich. Trotzdem unterwarfen sie sich ihrem Urteil und richteten sich genau in allem nach dem, was sie tat.

Die Frau Bezirksrichter war auch so ziemlich die einzige Frau in der Stadt, für die der Herr Notar nicht den richtigen Ton aufzubringen verstand. Seinen galanten Schmeicheleien gegenüber blieb sie eiskalt, und nicht einmal der ritterliche Handkuß, mit dem sich der Notar stets bei den Damen zu verabschieden pflegte und der ihnen so ungemein gefiel, übte auf sie die geringste Wirkung aus.

Der Notar fühlte es auch gar bald, daß er der Bezirksrichterin in keiner Weise gewachsen war . . . und wenn er sie anfangs umschmeichelte, so ließ er diese Methode endgültig fallen und nahm ihr gegenüber einen kühlen Beobachterstandpunkt ein. So entdeckte er auch bald, daß ihn die Bezirksrichterin im Grunde ihrer Seele haßte. Ein Gefühl, das er ehrlich und vom ganzen Herzen erwiderte.

Die Frau Bezirksrichter war eine noch junge Frau, 257 in der Mitte der dreißig, und trotz ihrer Kinderschar noch immer hübsch und appetitlich zum ansehen. Was sie in der Stadt unbeliebt machte, war eine ihr eigene würdige Herablassung, die alle empörte und die ihnen trotz allem imponierte. Gerade diesem Benehmen verdankte sie die dominierende Stellung, die sie im Städtchen einnahm.

Die Bezirksrichterin war vom ersten Augenblick an eine Gegnerin der Liedertafel gewesen. Erstens schon deshalb, weil die Gründung derselben ein Werk des Notars war und sie diesen nun einmal nicht ausstehen konnte. Sie durchschaute mit klugem Blick, daß der Notar diese ganze mühevolle Arbeit nur zu dem einen Zweck unternahm, um sich in Pose zu setzen und im Städtchen eine führende gesellschaftliche Stellung zu erringen und zu behaupten.

Daß der Notar zum Vorstand der Liedertafel gewählt wurde, betrachtete sie geradezu als eine ihrem eigenen Gatten angetane Schmach. Denn von Rechts wegen hätte man wenigstens dem Bezirksrichter diese Ehrenstellung zuerst anbieten müssen. Die Bezirksrichterin war aber zu klug und viel zu vorsichtig, um ihre Abneigung, die sie gegen die Liedertafel hegte, öffentlich zu zeigen.

Sie wußte genau, daß sie in diesem Fall alle gegen 258 sich gehabt hätte. Der Notar galt nun einmal viel zu viel bei den Damen der Stadt, und auch die Männer mochten ihn merkwürdigerweise alle recht gut leiden. Das kam wohl daher, daß der Notar jeder einzelnen Dame den Hof machte, aber ohne daß er deshalb eine von ihnen besonders bevorzugt hätte.

Er hatte eine eigene Art ritterlicher Verehrung für das zarte Geschlecht. Aber niemals und mit keinem Wort oder Blick war er einer der Damen je zu nahe getreten. Das mochten die Männer wohl fühlen und waren ihm dafür dankbar und vertrauten ihm auch.

Nur die Frau Bezirksrichter, die traute ihm absolut nicht. Sie witterte hinter allem und jedem, was der Notar tat, einen Hintergedanken . . . und ganz so unrecht hatte sie damit auch nicht.

Der Herr Notar hatte nämlich seit mindestens einem Jahr eine heimliche Liebe. Kein Mensch in der Stadt hatte eine Ahnung davon. Nicht einmal die junge Frau, der seine stille Zuneigung galt. Die lebte so still und zurückgezogen, und alle Annäherungsversuche des Notars scheiterten an dem einen Umstand, daß eine tiefe soziale Kluft ihn von der heimlich Angebeteten schied.

Seit mehr als einem Jahr lebte nun Frau Annemarie im Städtchen und fühlte sich wie in einen 259 weltfernen Erdteil verpflanzt. Ohne sich viel zu besinnen, hatte sie dem flotten Forstwart die Hand zum Bunde fürs Leben gereicht und war ihm willig und gern nach seinem Bestimmungsort gefolgt. Er stammte aus angesehener Familie, war hübsch und gut und hatte ein feines, gewandtes Auftreten.

Das genügte der jungen Annemarie, die als Waise bei einer alten Tante ziemlich einsam gelebt hatte. Die alte Dame war froh, als sich ein Freier für ihre junge Nichte fand. Sie dachte nur daran, daß sie nun diese nicht mehr unbeschützt würde zurücklassen müssen, wenn der Tod in kurzer oder ferner Zeit bei ihr Einkehr hielt. Und gar so lange ließ er die alte Dame auch nicht auf sein Kommen warten. Schon im ersten Winter nach Annemaries Hochzeit hielt er Einkehr in dem kleinen Vorstadthäuschen, das der Waise so lange Zeit eine Heimat gewesen war.

Nun sah man die junge Frau Forstwart in ihren schwarzen Trauerkleidern durch die Stadt wandern und bewunderte mit heimlichem Neid die vornehme Art und Haltung der Fremden. Denn eine Fremde war sie ihnen allen geblieben. Sie wußten nicht viel von ihr und hielten sich ihr auch fern.

Der Forstwart hatte mit seiner Frau bei den ersten Familien der Stadt seine Antrittsbesuche gemacht und 260 wurde steif und kühl empfangen. Er hatte geglaubt, daß seine Abkunft ihn zu dieser gesellschaftlichen Kühnheit wohl ermächtigen würde. Aber in kleinen Städten denkt man anders und ist besonders streng im Urteil, wenn die soziale Stellung des Mannes nun einmal eine untergeordnete ist.

Und das war hier der Fall. Ein Forstwart gehört nicht zu den ersten Kreisen und muß sich mit den kleineren Bürgerkreisen bescheiden. Und wenn er auch von noch so guter Familie abstammt und seine Frau auch noch so ein feines Fräulein gewesen sein mag . . . hier im Städtchen wird auf hergebrachte Sitte und Ordnung gehalten.

Die Frau Forstmeisterin, die sozusagen die Gattin des ersten Vorgesetzten des Forstwartes war, nahm sich auch kein Blatt vor den Mund, als sie den Besuch des jungen Paares erwiderte. Ganz trocken sagte sie es heraus, daß es bei diesem einen Besuch bleiben müsse. Denn Forstmeister und Forstwart gehörten nicht an einen Tisch.

Frau Annemarie war dunkelrot geworden bei den groben Worten der Forstmeisterin, und heiße Tränen der Scham stiegen ihr trotz aller Überwindung in die Augen.

Die Forstmeisterin, eine derbe, etwas plump 261 geratene Blondine, war im Grunde ihres Herzens eine seelengute Frau. Es tat ihr sofort leid, daß sie die junge Frau gekränkt hatte, und sie lenkte auch gleich wieder gutmütig ein.

»Tun's mir's nit verübeln, Frau Forstwart!« sagte sie beim Abschied und hielt die feine zarte Hand der jungen Frau in ihrer breitderben mit warmem Druck fest. »Wissen's, ich hab' das nit so bös gemeint. Ich hab's Ihnen nur einmal explizieren wollen, wie's bei uns der Brauch ist. Sie wissen's und verstehen's halt nit anders, und bei Ihnen in der großen Stadt wird's halt auch nit so genau genommen werden. Da ist das natürlich ganz anders. Da bei uns aber tät' ja bald kein besserer Mensch mehr mit meinem Mann verkehren, wenn der mit seinem Forstwart Bruderschaft trinken tät'. Aber deswegen können's schon öfters zu mir kommen, junges Frauerl, gelt? Und ich freu' mich recht, wenn's kommen, und meine Elsa, die kann auch nur von Ihnen profitieren. Sie haben doch gewiß eine feine Bildung gehabt, nit wahr?« forschte sie dann neugierig weiter. »So sehen's nämlich aus!« versicherte sie nicht ohne Bewunderung.

»Meine Frau ist bei den Salesianerinnen erzogen worden!« sagte der Forstwart mit Betonung. Die Unterredung war ihm im höchsten Grade peinlich, und 262 er hatte Mühe an sich zu halten, um der Frau seines Vorgesetzten keine Grobheiten zu sagen.

»So! So! Bei den Salesianerinnen! Sie, eigentlich ist das recht unpraktisch, wenn man Mädeln, die kein Vermögen haben, so nobel erzieht. Wenn die nit heiraten können . . .«

»Ich habe aber geheiratet!« unterbrach da Frau Annemarie die Forstmeisterin, und ihre sonst so sanfte Stimme klang hart und rauh. »Und ich bin auch sehr glücklich geworden mit meinem Adolf . . .« fügte sie dann weicher werdend hinzu.

Ein Zug abweisenden Stolzes prägte sich dem feinen bräunlichen Gesicht der jungen Frau ein; und von jener Stunde an, in der sie die größte Demütigung ihres bisherigen Lebens hatte erdulden müssen, war sie stolz und unnahbar geworden.

Die Besuche des jungen Paares waren zum großen Teil nicht erwidert worden, und Frau Annemarie war zu stolz, um noch bei andern Familien vorzusprechen und sich vielleicht auch bei diesen eine Abfuhr zu holen.

Von nun an lebten die beiden jungen Leute ganz für sich. Ob Frau Annemarie ein großes Glück gefunden hatte, konnte niemand erfahren. Der Notar, der sich ganz ernstlich in die junge Frau verliebt hatte, 263 glaubte in dem feinen ovalen Gesicht einen Zug von verstecktem Leid zu entdecken.

Trotz aller gesellschaftlichen Hindernisse machte der Notar einmal Besuch bei Forstwarts. Das war zur Zeit, als die Liedertafel ins Leben gerufen wurde. Er benützte diesen Vorwand, um den Forstwart als Mitglied zu werben.

Da ihr Gatte nicht zu Hause war, empfing Frau Annemarie den Besuch des Notars. Ein kleines geschmackvolles Heim hatte sich das junge Paar eingerichtet. In dem behaglichen Wohnraum, in den der Notar geführt worden war, stand außer den üblichen Möbeln auch noch ein Pianino mit aufgeschlagenem Notenheft.

»Das trifft sich ja ausgezeichnet!« rief der Notar begeistert. Er hatte beim Eintritt der jungen Frau gerade in den Noten geblättert und dabei leise Melodien vor sich hingesummt . . . denn nicht einmal in einem fremden Hause konnte er es ohne Gesang aushalten. »Da tue ich gewiß keine Fehlbitte. Sie sind ja musikalisch, und ich will gerade Ihren Herrn Gemahl für unsere Liedertafel anwerben.«

Frau Annemarie bot mit einer leichten Bewegung ihrer Hand dem Gast einen Platz an und setzte sich dann ihm gegenüber aufs Sofa. In gerader, 264 aufrechter Haltung saß sie da, ein leichtes Lächeln auf den sonst streng verschlossenen Zügen.

»Die geborene Dame . . .« konstatierte der Notar für sich, und es reute ihn heimlich, daß er ihr nicht gleich zum Willkomm die Hand geküßt hatte. Vielleicht wäre sie dann weniger stolz und hoheitsvoll gewesen.

Frau Annemarie mochte kaum Mitte der zwanzig sein. Sie war eine hohe, schlanke Erscheinung von vollem, ebenmäßigem Wuchs, mit großen, dunkeln Augen und bräunlichem Teint. Das dunkle Haar trug sie glatt aus der Stirne gekämmt und zu einem Knoten gesteckt, so daß die leicht gewölbte, etwas niedere Stirn voll zur Geltung kam.

Der Notar mußte unwillkürlich an die Forstmeisterin denken, die eine ähnliche Haartracht trug. Der Vergleich fiel jedoch sehr zuungunsten der letzteren aus. Das strohgelbe, etwas struppige Haar der Forstmeisterin stand nur schlecht zu dem lederfarbigen, mit zahlreichen Sommersprossen bedeckten Gesicht, und die hohe und etwas zu breite Stirn verlieh den ohnehin nicht geistvollen Zügen einen dummdreisten Ausdruck. Dabei war die Forstmeisterin klein und ohne gerade dick zu sein doch ziemlich in die Breite geraten.

Im Geiste ließ der Notar, als er jetzt der jungen Frau gegenüber saß, sämtliche Damen seiner 265 Bekanntschaft Revue passieren, und keine konnte den Vergleich mit Frau Annemarie aushalten. Sicher war sie die allerschönste Frau in der Stadt, und auch keines der jungen Mädchen konnte sich seiner Meinung nach nur annähernd mit ihr messen. Und der Notar überlegte es gerade, daß diese Frau, wäre sie noch frei gewesen, vielleicht imstande gewesen wäre, seiner Junggesellenherrlichkeit ein Ende zu bereiten.

Auch Frau Annemarie gefiel der Notar nicht übel. Er war groß und blond, mit vollem, gutgepflegtem Bart und Haar, hatte große blaue Augen, deren Ausdruck allerdings durch einen etwas zu stark blinkenden Kneifer beeinträchtigt wurde.

Daß der Notar den Damen im allgemeinen gefiel, war wohl zu begreifen. Er verstand es, gewandt und unterhaltend zu plaudern, und verwickelte auch jetzt Frau Annemarie so geschickt in ein Gespräch, daß sie es gar nicht bemerkte, wie der Notar eigentlich weit über die übliche Zeit bei ihr verblieben war.

Der Notar hatte es verstanden, Frau Annemarie zu überreden, daß sie die abweisende Haltung, die sie anfangs zeigte, aufgab und ihm versprach, mit ihrem Mann über die Sache zu reden. Und galant küßte der schlaue Junggeselle beim Abschied die Hand der schönen Frau.

266 »Gnädigste würden mich direkt unglücklich machen durch eine Absage . . .« versicherte er und sah ihr dabei so tief in die Augen, daß Frau Annemarie dunkelrot wurde.

Und trotzdem tat der Forstwart nicht mit bei der Liedertafel, und Frau Annemarie war es wohl zufrieden.

Anfangs war sie sehr dafür gewesen. Sie war jung, und der galante Ton des Notars, der sie vollkommen als Dame genommen hatte, tat ihr ungemein wohl. Bei näherer Überlegung aber mußte sie ihrem Gatten beipflichten.

»Hör' mir auf mit deinem Notar!« hatte der gesagt. »Der Notar ist um kein Haar besser wie die andern sind. Der ist nur gekommen, weil ich eine schöne Stimm' hab' und sie mich notwendig brauchen können. Aber grad' zu Fleiß tu' ich nicht mit. Grad' zu Fleiß nit!« wiederholte er trotzig und verbittert. »Ich hab' keine Lust, mich von der hochnasigen Gesellschaft über die Achsel ansehen zu lassen. Und der Notar wär' mir grad' der Richtige. Da . . . weil's niemand sieht, küßt er dir die Hand. Vor seinen Damen, die alle um ihn herumscherwenzeln wie die verliebten Hennen um den Hahn, da schaut er dich nit an. Ich wett' dir was!« beharrte er dann eigensinnig 267 auf seiner Meinung, und Frau Annemarie senkte beschämt den seinen Kopf und vertiefte sich angelegentlich in ihre Handarbeit.

So war es denn dabei geblieben. Die Liedertafel war ohne die Forstwarts gegründet worden und feierte ihre Feste, ohne daß das junge Paar dabei gewesen wäre.

Wohl hatte der Notar noch ein paar Versuche gemacht, den Forstwart umzustimmen. Es blieb aber alles vergeblich. Ein paarmal war er sogar noch zu Frau Annemarie gegangen, hatte aber verschlossene Türen vorgefunden.

So war ihm nichts anderes übriggeblieben, als den Forstwart einmal auf der Straße zu stellen. Der Forstwart war kein sonderlich begabter Mensch. Seine Eltern, die nur über sehr beschränkte Mittel verfügten, hatten dem Drängen des Sohnes nachgegeben und ihn den Forstberuf wählen lassen. Zur Hochschule reichten erstens die Mittel nicht und zweitens auch nicht die Begabung des Jungen.

In Gottes freier Natur fühlte sich der junge Bursch wohl und glücklich und überlegte nicht erst lange, daß eine mangelhafte Vorbildung ihn einmal an einer höheren Laufbahn hindern könnte.

Dem Vater waren allerdings öfters Bedenken 268 gekommen. Allein der Junge verwarf sie alle und meinte fröhlich: »Gelt, Vater, die Hauptsach' ist doch, daß ich glücklich bin, und mein Leben muß schließlich ich selber leben. Also plag' mich nit lang mit dem Studieren und laß' mir meinen Willen!«

Noch niemals hatte es ihn gereut, daß er Forstwart geworden war, bis zu dem Zeitpunkt, wo er sich sein junges Weib zur Frau genommen hatte und es einsehen mußte, daß er ihr wohl ein Heim bieten konnte, aber niemals eine Stellung. Und jetzt vertröstete er die einsame Frau wohl auf jene Zeit, wenn er Förster sein würde und sie ihr eigenes Häuschen besitzen würden . . . »Mitten im Wald . . . weißt du . . . wir beide ganz allein . . . wie ein König und eine Königin . . .« scherzte er dann und zog sie innig an sich.

Und mit leisem Widerstreben schmiegte sich Frau Annemarie an den Gatten. Ganz allmählich erwachte in ihr ein Hunger nach dem Leben, nach Jugend und Geselligkeit, von denen sie noch so wenig gehabt hatte. Sie sehnte sich so gar nicht nach dem Königreich im einsamen Wald, von dem ihr Mann ihr so vorschwärmte . . . sie sehnte sich nach der Welt, nach einer freieren, schöneren Welt, als sie in Rabenstein zu finden war.

269 Damals, als der Notar mit dem Forstwart auf der Straße zusammentraf, war all die Verbitterung, die sich in der Seele des jungen Mannes aufgespeichert hatte, mit einem Male losgebrochen.

»Sparen's die Müh', Herr Notar!« hatte der Forstwart ziemlich laut und erregt geantwortet. »Meine Frau und ich sind nichts für Gesellschaften, und in Ihre feinen Kreise werden wir ja doch nit aufgenommen. Und für die andern sind wir uns beide zu gut. Nix für ungut, Herr Notar! Hab' die Ehre!« Und höflich grüßend ließ er den Notar ziemlich verdutzt stehen.

So war denn nichts mehr zu machen, und der Notar hatte die Hoffnung, die junge Frau Annemarie jemals näher kennenzulernen, schon beinahe aufgegeben. Bis ihm der Zufall zu Hilfe kam. Wenigstens hielt er für Zufall, was in Wirklichkeit weibliche Tücke und Schlauheit war.

Die junge Frau Forstwart hatte eine alte Frau zur Bedienung, die stundenweise zu ihr kam, um ihr die groben häuslichen Arbeiten zu verrichten. Barbara hieß die Alte, war bucklig und klein, aber ganz ausgezeichnet für die Arbeit.

Wenn es irgendwo im Städtchen besonders hoch herging, wenn man sich vor lauter Putzerei und 270 Reinemachen nicht mehr zu helfen wußte, dann holte man die alte Barbara draußen vor dem Stadttor. Und wenn die kam, dann ging alles gerade noch einmal so schnell.

Auch die Frau Bezirksrichter nahm häufig die Hilfe der alten Barbara in Anspruch und war mit ihr stets sehr zufrieden gewesen. Ganz besonders schätzte sie aber die eine Tugend an ihr, daß die Alte im Grunde sehr verschwiegen war und nicht, wie es sonst die Putzfrauen zu machen pflegten, die Neuigkeiten der Stadt von einem Haushalt zum andern trug.

So war es denn tatsächlich ein Zufall gewesen, daß die Bezirksrichterin durch die alte Barbara von dem Besuch erfuhr, den der Notar schon vor mehreren Monaten bei der Frau Forstwart gemacht hatte. Und auch daß er noch ein paarmal gekommen sei, aber nicht vorgelassen worden war, erfuhr die Frau Bezirksrichter durch einige geschickt gestellte Fragen.

»Aber ich will beileib nix g'sagt haben . . .« meinte die alte Barbara treuherzig und fuhr sich mit der knochigen braunen Arbeitshand über den runzligen Mund. »Ich hab' mir nur mein Teil gedenkt über den Notar. Wissen's wohl, weil er iatz sogar mit der Forstwartin hätt' anbandeln wollen.«

Die Frau Bezirksrichter tat, als interessierte sie die 271 Sache nicht im geringsten. In Wirklichkeit interessierte es sie aber sehr, und sie entwarf geschickt einen wahren Kriegsplan, um dem Notar einen Possen zu spielen.

Zur Zeit, als die ersten Sitzungen wegen des bevorstehenden Ballfestes der Liedertafel tagten, machte sich die Frau Bezirksrichter auf den Weg, um endlich einmal der jungen Frau Forstwart ihren Besuch zu erwidern.

Frau Annemarie war hocherstaunt, als sie die stolze Frau leibhaftig in ihrem Zimmer stehen sah. Sie überragte die Bezirksrichterin beinahe um Kopfeslänge und war fein und biegsam in ihren Bewegungen, während die Bezirksrichterin ihrer zierlichen Gestalt eine gewaltsam steife Haltung zu verleihen suchte.

Die Frau Forstwart war ehrlich erfreut und bat im stillen die Bezirksrichterin um Verzeihung, daß sie auch gegen sie so manchen bittern Gedanken gehegt hatte. Die Frau war in Wirklichkeit gar nicht so stolz, wie sie sich den Anschein gab, fand Frau Annemarie. Sie glaubte ihr die Entschuldigung aufs Wort, daß sie eben so gar nicht zum Besuche machen komme.

»Denn wissen Sie . . .« meinte die Frau Bezirksrichter . . . »wenn man fünf Kinder hat und das jüngste davon kaum zwei Jahre zählt, dann ist 272 man schon furchtbar angehängt im Haushalt. Und so oft ich mir's auch vorgenommen hatte . . . Jetzt gehst du aber zur Frau Forstwart . . . immer kam etwas dazwischen. Und eigentlich wollte ich Ihnen auch meinen Mann mitbringen . . . aber wissen Sie, Besuch machen, das ist so ein eigenes Kapitel bei dem. Sie entschuldigen ihn schon für diesmal, Frau Forstwart, nicht wahr? Und nehmen auch mit mir vorlieb?«

Beinahe herzlich klang der Ton, in dem dies gesagt wurde, und Frau Annemarie wurde es auch ganz leicht und warm ums Herz. Es war eigentlich doch recht lange her, daß sie mit einer gebildeten Frau gesprochen hatte; und daß diese so lieb und freundlich zu ihr war, tat ihr ungemein wohl.

Die beiden Frauen schienen sich auch ganz gut zu verstehen. Frau Annemarie erzählte der Bezirksrichterin von ihrer Jugend, von dem Heim, das sie bei der Tante gefunden hatte, und von dem einsamen Leben in der großen Stadt.

»Und jetzt leben Sie womöglich noch einsamer, Sie arme Frau!« sagte die Bezirksrichterin bedauernd. »Ich fürchte, die Leute sind nicht nett zu Ihnen. Aber ein bissel sind Sie wohl auch selber schuld. Warum ziehen Sie sich eigentlich von allem zurück?«

273 »Wir drängen uns nicht gern in Kreise ein, in denen wir nicht erwünscht sind . . .« erwiderte die junge Frau, und trotz des bescheidenen Tones klang es stolz und abweisend.

Die Bezirksrichterin sah aus ihren großen grauen Augen beobachtend zu der schlanken Frau auf. Dann preßte sie fest die Lippen aufeinander und erhob sich etwas steif und hoheitsvoll.

»Dann werde ich Sie vielleicht auch nicht so bald bei mir zu sehen kriegen . . .« meinte sie bedauernd. »Denn sicher haben Sie mir meine Zurückgezogenheit übelgenommen.«

»Oh, ich komme bald!« rief die junge Frau freudig. Sie war ja innerlich so froh darüber, daß sie kommen durfte, und vergaß ganz darauf, mehr Beherrschung zu zeigen. Sie litt doch recht unter der Einsamkeit. Mehr, als sie sich selber eingestehen mochte.

»Dann kommen Sie nur sehr bald und auch recht oft. Denn sonst denke ich mir, daß Sie doch böse auf mich sind . . .« Freundlich hielt ihr die Bezirksrichterin die Hand zum Abschied hin, und ein beinahe gütiges Lächeln verschönte das sonst so strenge Gesicht der Frau.

Seit dieser Zeit hatte sich eine Art freundschaftlichen Verhältnisses zwischen den beiden Frauen 274 entsponnen. Im Städtchen war man nicht wenig erstaunt über die Bezirksrichterin. Schließlich aber glaubte man den wahren Grund dieser merkwürdigen Freundschaft entdeckt zu haben.

Frau Annemarie unterrichtete das älteste Töchterchen im Klavierspielen. Ganz ohne Zutun der Bezirksrichterin war das gekommen. Frau Annemarie hatte es selbst angeboten, und es machte ihr Spaß und regte sie an, eine talentierte Schülerin zu haben.

Bei den Rabensteinern aber galt sie von nun an als die Klavierlehrerin von Bezirksrichters, was ihr gesellschaftliches Ansehen in keiner Weise erhöhte. Die Forstmeisterin nahm sich auch fest vor, gleich bei der nächsten Gelegenheit Frau Annemarie anzugehen, daß sie ihrer Elsa gleichfalls Unterricht erteilen möge.

»Und wissen's . . .« meinte die Forstmeisterin eifrig zur Frau Doktor . . . »umsonst braucht sie's ja nit zu tun. Wir sind keine schäbigen Leut' und lassen uns nix schenken, und sie wird ein paar Gulden mehr im Haushalt auch recht gut brauchen können.« – – –

Die Vorbereitungen zu dem großen Ballfest der Liedertafel schritten rüstig vorwärts, und das Interesse und die Erwartungen, die man in Rabenstein hegte, wurden immer gespannter.

275 Es sollte auch etwas geradezu Wundervolles werden. Schon der Titel allein! »Ein Fest im alten Rom« betitelte sich kühn die ganze Veranstaltung. Alle, die geladen waren, sollten als Römer und Römerinnen erscheinen. Es war kein Wunder, daß die Jugend des Städtchens nur mit hochklopfenden Herzen an dieses Fest denken konnte.

Wer eigentlich den etwas sonderbaren Einfall gehabt hatte, ausgerechnet in Rabenstein ein Römerfest zu geben, war nicht mehr herauszukriegen. Tatsache war aber, daß bei einer der zahlreichen Sitzungen des Komitees irgendwer das verhängnisvolle Wort ausgesprochen hatte, das vom Notar sofort eifrig aufgegriffen worden war.

Die Idee gefiel dem Herrn Notar. Sie erschien ihm als apart und stach von allen Vorschlägen, die bisher gemacht worden waren, bedeutend ab.

Die eigentliche Urheberin aber war die Frau Bezirksrichter gewesen. Mit viel diplomatischem Geschick hatte sie die Sache angepackt. Nur gesprächsweise hatte sie der Doktorin so leichthin bemerkt, daß sie sich von dem Festabend der Liedertafel so gar nichts erwarte.

»Du lieber Gott . . .« hatte sie seufzend gesagt . . . »was soll man denn auch in einem Nest wie Rabenstein sonderlich Großartiges arrangieren. Da waren 276 die Künstlerfeste, die ich in der Stadt mitmachte, ganz anders. Da gab's Bacchusfeste im alten Rom, dann eine Nacht in Athen . . . Das hatte Schwung. Schon die Kostüme allein, die die Leute trugen. Jede einzelne der Damen war eine Göttin oder zum mindesten eine Nymphe.«

In dieser Weise schwärmte sie fort. Die Frau Doktor sah sich schon im Geiste als Nymphe mit dem Notar durch den großen Brauhaussaal tanzen. Sie fand die Idee äußerst geistvoll und trug eifrig zu ihrer Verbreitung bei.

In einer ziemlich erregten Komiteesitzung hatte dann einer der Herren das inhaltsschwere Wort ausgesprochen, das von nun ab alle Gemüter in Rabenstein erfüllte und sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließ.

So blieb es denn dabei, und die Vorbereitungen wurden immer energischer in Angriff genommen. Die Damen der Stadt schneiderten an ihren Kostümen und machten, so gut es ging, auch die Tracht ihrer Eheherren zurecht. Sie ließen sich Bücher kommen mit Abbildungen von alten Römern und Römerinnen. Der Buchhändler hatte schon lange nicht mehr so viele Bestellungen aufzuweisen gehabt, wie in dieser Zeit. Es war verwunderlich, was für einen Bildungsdrang die Damen von Rabenstein auf einmal entwickelten.

277 In besonders schwierigen Fällen wurde der Notar zu Rate gezogen. So beim Kaufmann Zollner, der zugleich Bürgermeister der Stadt war. Herr Zollner, ein noch jüngerer Mann, verfügte über eine ganz ungewöhnliche Körperfülle, die selbst in Rabenstein, wo die Menschen zumeist nicht unterernährt aussahen, Aufsehen erregte.

Für den Bürgermeister war die Kostümfrage, wie es schien, durchaus keine leichte Sache. Er beriet sich mit seiner Frau hin und her und kam endlich zu dem Entschluß, dem Notar die Angelegenheit vorzulegen. Denn lächerlich machen wollte und konnte er sich schon seiner Stellung wegen nicht.

Der Notar wußte Rat. »Herr Bürgermeister,« rief er fröhlich, »Sie sind direkt geschaffen zum Bacchus! Denken's nur den Bauch, den Sie haben! Ausgezeichnet, sag ich Ihnen!« Dabei versetzte er ihm einen derben Schlag auf den ansehnlichen Körpervorsprung, den der Bürgermeister, der nicht sehr groß war, durch's Leben schleppen mußte.

Herr Zollner war absolut nicht so begeistert von dem Vorschlag wie der Notar. »Ich und ein Bacchus?« meinte er gedehnt und fuhr sich bedächtig mit der Hand über den dunkeln Vollbart. »Das geht doch nit. Da kann ich doch bloß ein Hemd anziehen!« sagte er beinahe verzagt.

278 »Sind's froh, daß Sie nur das anhaben!« lachte der Notar ausgelassen. »Es wird Ihnen ohnedies schwül genug werden beim Tanz. Außerdem können's ja auch noch eine Hosen darunter anziehen. Das verwehrt Ihnen kein Mensch!« fügte er scherzhaft hinzu.

Und so geschah es auch. Angetan mit einem weißen Hemd aus feinster Wolle, erschien der Bürgermeister von Rabenstein beim Fest der Liedertafel. Ein grüner Kranz aus steifen Papierblättern umrankte das edle Haupt des Stadtvaters.

Die Blätter fielen ihm so dicht auf die Stirn, daß sie ihm das Sehen erschwerten und er sich äußerst unbehaglich fühlte. Es sah beinahe aus, als hätte er statt eines lustigen Bacchuskranzes sich einen Grabkranz aufsetzen lassen.

Schon das Gesicht allein, das der Bürgermeister dazu schnitt, war mehr für ein Begräbnis als für ein heiteres Fest im alten Rom geeignet. Überhaupt dieser Kranz . . . das war ganz entschieden eine unglückselige Idee vom alten Bacchus gewesen.

Der Bürgermeister hätte den Kranz viel lieber vollständig fortgelassen. Aber der Notar fand, daß so was durchaus nicht anginge. Zu einem richtigen Bacchus gehöre auch ein richtiger Kranz auf dem Kopf.

So hatte sich denn der Bürgermeister dareingefügt 279 und alle Qualen, die ihm der Kranz auferlegte, auf sich genommen. Und das waren keine geringen Qualen. Die eckigen Spitzen der Blätter stachen den hochroten wulstigen Nacken des Bürgermeisters, kitzelten ihm auf ganz gemeine Weise die Ohren, so daß er gezwungen war, allerhand komische Gesichter zu schneiden. Dabei rutschte ihm der verfluchte Kranz immer tiefer über die Augen.

Eine Zeitlang erduldete das Stadtoberhaupt mit heroischem Mut diese Pein. Dann schob er den Kranz in einem Anflug der Verzweiflung energisch aus der Stirn. Dadurch zerstörte er jedoch den sorgfältig gezogenen Scheitel und zerraufte sich das schwarze Haar.

Bis das eigentliche Ballfest begann, sah der Schädel des Bürgermeisters aus wie der Kopf eines betrunkenen Zigeuners. Alle Haare durcheinander, teils zerrupft und teils zu Berge stehend. Das kam aber nur von dem fortgesetzten verzweifelten Kampf, den der Bürgermeister mit seinem Kranz auszufechten hatte.

Sonst sah er als Bacchus tadellos aus. Das wallende weiße Wollhemd stand ihm großartig. Die Arme waren nicht nackt, wie der Notar geraten hatte, sondern züchtig verhüllt durch die Ärmel eines fleischfarbigen Trikothemdes, das der Bacchus unter dem Wollenhemd angezogen hatte.

280 Die Rabensteiner sollten es deutlich sehen, daß er auch unterhalb vollständig bekleidet war. Deshalb trug er auch, für alle sichtbar, unter dem weißen wallenden Gewand die pechschwarze Hose eines Frackanzuges mit Bügelfalte. Da man aber zu einer Frackhose nicht gut bloßfüßig oder in Sandalen laufen kann, hatte Herr Zollner auch noch ein Paar ganz neuer und hellglänzender Lackstiefeletten angezogen.

Stolz hielt der Kaufmann seinen Einzug in den festlich beleuchteten Ballsaal beim Bräu. Seine Gattin, als vornehme Römerin gekleidet, mit langen goldenen Ohrgehängen und schwerem Schmuck, führte er am Arm.

Neidisch stießen sich die Damen heimlich an. Die Doktorin fand es geradezu impertinent, daß die ehemalige Kellnerin es sich herausnahm, als vornehme Römerin zu gelten. Die Herren waren anderer Meinung und fanden, daß Frau Zollner reizend aussehe. Der Notar, gleichfalls in einem Bacchuskostüm, aber ohne Frackhose, steuerte sofort auf die hübsche Frau zu, um ihr ein paar Artigkeiten zu sagen.

Der große, langgestreckte Saal beim Bräu war heute wunderbar verändert. Die braunen Tische und Stühle waren verschwunden, und an ihrer Stelle ragten mit künstlichen Blumen und Blättern 281 umwundene Säulen zu dem nicht sehr hohen Plafond empor.

Die Fenster waren verdeckt worden, und mit viel Geschick hatte man Kulissen angebracht, die einzelne Teile von Bauten des alten Rom darstellten. Nur konnte man als Ganzes genommen keinen rechten Eindruck gewinnen, ob das Fest als Straßenfest gedacht war: oder sich in einem gedeckten Raum abspielen sollte.

Das fiel aber den Rabensteinern weiter nicht sonderlich auf. Es störte sie auch gar nicht, daß große elektrische Lampen ohne jede Verkleidung den Raum erhellten und so die Errungenschaft von zwei Jahrtausenden ins alte Rom verpflanzten. Die Rabensteiner waren zufrieden, daß alles so schön und eigenartig aussah, und ließen sich beobachtend auf den Sitzen nieder, die an den beiden Längsseiten der Wände angebracht waren.

Sorgfältig achteten sie auf jeden neu ankommenden Gast. Die Doktorin als zierliche Nymphe verzog beleidigt den kleinen Mund . . . denn ausgerechnet die Frau Tierarzt hatte neben ihr Platz nehmen müssen und sprach jetzt in einemfort auf sie ein.

Die Frau Tierarzt wäre im Grund genommen gar keine so üble Frau gewesen. Aber die Doktorin fühlte 282 sich stets und zu jeder Zeit durch ihre Anwesenheit beleidigt.

Das kam daher, weil sich die Tierärztin gleichfalls von den Leuten Frau Doktor nennen ließ. Ein Titel, der ihr nun einmal nicht zukam und der eine offene Benachteiligung der wirklichen Frau Doktor, der Gattin des rechtmäßigen Stadtarztes bedeutete.

Machen konnte man natürlich gegen solche Taktlosigkeiten gar nichts. Es hieß Würde bewahren und die Frau Tierarzt ostentativ bei ihrem Familiennamen ansprechen. Vielleicht würde sie es doch einmal begreifen, daß sie keine wirkliche Frau Doktor war.

Aber die Tierärztin begriff das auch heute nicht und fühlte sich ganz im Gegenteil neben der kleinen zarten Frau Doktor äußerst wohl und behaglich. Sie lachte und nickte grüßend von einem zum andern und flüsterte der Doktorin kleine boshafte Bemerkungen ins Ohr, daß diese wohl oder übel mitlachen mußte.

Die Tierärztin hatte sich heute in eine Göttin verwandelt, während ihr Gatte, ein guter Fünfziger, einen römischen Krieger darstellte. Er war lang und hager und hatte ein so bleiches kränkliches Gesicht, das ein rötlich blonder, jetzt schon stark ergrauter Bart umrahmte, daß er sich eigentlich für jede andere Rolle besser geeignet hätte als für einen römischen Krieger. 283 Seine Gestalt war leicht nach vorne gebeugt, die eckigen Schultern waren eingezogen, so daß er aussah, als ob der blitzende Helm viel zu schwer für den müden Kopf sei und er ihn schier zu erdrücken drohte.

Ganz einfach und schlicht sah die Bezirksrichterin aus. Ein Sklavenmädchen im grauen unscheinbaren Hemd, schwarze Sandalen an den mit rosa Strümpfen bekleideten Füßen. In ihrer Schlichtheit wirkte sie am besten und echtesten unter den Damen; denn diese hatten es zum größten Teil nicht unterlassen können, sich mit modischem Schmuck zu behängen.

So trug die Doktorin als Nymphe große Brillantohrringe, und das blaßgrüne Kleid wurde am Halsausschnitt durch eine auffallend große goldene Brosche festgehalten. Das hätte vielleicht nicht gar so stilwidrig gewirkt, wenn das Stück nicht zufällig eine echte Biedermeierbrosche gewesen wäre, ein Familienstück, auf das die Frau Doktor ganz besonders stolz war.

Auch sonst war die Doktorin nicht ganz echt als Nymphe. Aber daran trug lediglich ihr Mann die Schuld. Er verbot ihr ganz kathegorisch, sich der Welt als »halbnacketes Weibsbild« . . . wie er sich ausdrückte . . . zur Schau zu stellen, und befahl ihr, an dem losen, leichten, ätherisch blaßgrünen Gewand 284 lange Spitzenärmel anzubringen und den Halsausschnitt nur ganz wenig zu markieren, so daß die arme kleine Frau eher mit einer zufällig grüngekleideten Nonne Ähnlichkeit besaß als mit einer Nymphe. Auch richtige Tanzschuhe hatte sie anziehen müssen statt, wie sie sich das so schön im Geiste ausmalte, ihre reizenden weißen Füße nackt bewundern zu lassen.

Die Doktorin war eine zarte, helle Blondine von weichen Formen und einer beinahe durchsichtig feinen Haut. Eigentlich sah sie aus wie eine Puppe; denn auch das Gesichtchen hatte etwas von dem starren, unbeweglichen Ausdruck einer solchen.

Ehe Frau Annemarie in die Stadt gekommen war, hatte die Doktorin ganz entschieden dem Notar am allerbesten gefallen. Jetzt freilich war das anders geworden. Aber davon wußte die Doktorin ja nichts.

Auch die Frau Adjunkt gehörte noch zu den jungen Damen der feineren Gesellschaft. Und die Frau Adjunkt war auch eine ganz hübsche Frau. Sie war beinahe ebenso hellblond wie die kleine Doktorin, nur viel größer und auch robuster.

Die Frau Adjunkt setzte heute ein ganz besonders hochmütiges Gesicht auf. Ihrer Ansicht nach fing ein ordentlicher Mensch überhaupt erst beim Beamten an . . . Die Gesellschaft, in der sie sich heute zu 285 bewegen hatte, war also durchaus nicht standesgemäß und daher auch nicht nach ihrem Geschmack.

Wenn sie mit der Frau Bezirksrichter sprechen durfte, dann fühlte sie sich so ganz in ihrem Element. Sie hatte dann ein beinahe demütiges Benehmen, was ihr die ehrliche Verachtung der Bezirksrichterin eintrug.

Die Bezirksrichterin wußte es denn auch so einzurichten, daß sie sich die Frau Adjunkt möglichst vom Halse hielt. Die Adjunktin bemerkte das nur zu deutlich, und es erfüllte sie mit mächtiger Wut und verstecktem Ingrimm.

Eigentlich hatten alle, wie sie so beieinander versammelt waren, irgendetwas gegeneinander einzuwenden. Ganz ehrlich war keiner mit dem andern. Sie waren freundlich und zuvorkommend und hatten doch das Gefühl, daß sie sich im Grunde genommen etwas vergaben, indem sie von dem Piedestal ihrer sozialen Stellung herabstiegen und sich mit den andern in ein vielleicht zu liebenswürdiges Gespräch einließen.

Der Bezirksrichter fühlte sich als die vom Kaiser zu oberst eingesetzte Gewalt. Keiner in der Stadt hatte ihm etwas zu sagen oder vorzuschreiben. Es war somit wohl zu verstehen, daß er sich im Lauf der Jahre, die er nun schon in der kleinen Stadt hatte zubringen müssen, für eine Art Halbgott hielt.

286 Die Würde, die er am heutigen Abend als römischer Tribun zur Schau trug, war nicht gespielt, sondern entsprach durchaus jener Würde, die er sich für gewöhnlich angeeignet hatte. Sie erdrückte den etwas derb und breitspurig auftretenden Mann schier mit ihrer Wucht.

Der große Ballsaal beim Bräu füllte sich immer mehr mit Gästen. Die Herren, meist alle als edle Römer gekleidet, sonderten sich von den Frauen ab und überließen diesen die Sitze an den Wänden.

Es kamen der Sattlermeister mit Frau, Tochter, Sohn und dessen Braut und die Angehörigen der Braut. Und was für Menschen das waren! Die Forstmeisterin überrieselte es eiskalt bei dem Anblick, und mit ängstlichen Mienen schaute sie geschwind zur Bezirksrichterin hinüber, um zu ergründen, wie diese sich wohl zu den seltsamen Gästen verhalten würde.

Die Bezirksrichterin hatte Takt. Das mußte ihr selbst der Neid lassen. Mit keiner Miene verriet sie, daß ihr diese Leute ganz besonders wider den Strich gingen oder daß sie dieselben anders fand wie die übrigen Gäste.

Und doch waren sie anders und stachen selbst in dieser stark gemischten Gesellschaft recht merkwürdig ab.

287 Eines der schwierigsten Probleme, die es für das Vergnügungskomitee zu überwinden gegolten hatte, waren gerade diese Leute gewesen. Die Sattlermeisterin war mit Energie darauf bestanden, daß ihre zukünftige Schwiegertochter und deren Angehörige gleichfalls zu dem Fest eingeladen wurden.

Der ehrsame Jakob Niederwieser, der Vater der Braut, war einmal ein Viehhändler gewesen, während seine Frau viele Jahre eine kleine Greislerei betrieb. Durch Fleiß und Geschick hatten die beiden sich ein recht ansehnliches Vermögen erworben.

Jetzt freilich lebte Jakob Niederwieser mit seiner Frau und Tochter recht behaglich von den Zinsen dieses Vermögens, das einmal sein einziges Kind erben sollte. Daß die Sattlermeisterin darauf bedacht war, ihren zukünftigen Verwandten ja keine Kränkung widerfahren zu lassen, war eigentlich selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich aber war es, daß sich alles im Städtchen gegen den Eintritt dieser Leute in die gute Gesellschaft wehrte. Sogar der Notar, der in solchen Dingen sehr tolerant zu denken pflegte, sträubte sich innerlich gegen den einstigen Viehhändler. Aber die Sattlermeisterin blieb dennoch Siegerin. Vielmehr der Tenor ihres Mannes, ohne den die Liedertafel von Rabenstein vorderhand nun einmal nicht 288 zu denken war, ging aus dem Kampf als Sieger hervor.

Die Sattlermeisterin hatte gedroht, daß ihr Mann sofort aus der Liedertafel austreten würde, wenn die Schwiegereltern des Sohnes und dessen Braut nicht gleichfalls eine Einladung zu dem Ballfest erhalten sollten. Das hatte gewirkt. Wohl oder übel mußte man da nachgeben, und der Notar hatte es auf sich genommen, den heftigen Widerstand der Damenwelt zu brechen.

Jetzt standen diese Menschen, ängstlich und verwirrt dreinschauend, eng aneinander gepreßt in einer Ecke des Saales, wie Ausgestoßene; denn kein Mensch kümmerte sich um sie. Die Sattlermeisterin war aber nicht gesonnen, am heutigen Abend so gar keine Rolle zu spielen. Ganz im Gegenteil gedachte sie erst justament der »hochnasigen Sippschaft zu zeigen . . . daß andere Leut auch wer seien, nit grad' nur die Beamten . . .«

Die Sattlermeisterin als Römerin sah drollig aus. Immerhin wirkte sie gegen die einstige Viehhändlerin äußerst vornehm. Sie war eine stattliche Frau, sehr üppig in den Formen, und nahm sich in der hochroten Tunika aus wie ein mit grellrotem Tuch umwickeltes Bierfaß. Ihre Frisur hatte sie sich nach Art 289 der Japanerinnen zurechtgemacht. Ähnlich wie sie waren auch die übrigen Familienangehörigen gekleidet.

Die Viehhändlerin und einstige Greislerin hatte ein dünnes, stark ergrautes Rattenschwänzchen von Haar straff aus der Stirne gekämmt. Ein hochroter Rosenkranz verschönte die nicht mehr jugendliche Stirn. Ihre Tochter, welche die zukünftige Gemahlin des Sattlermeisters junior werden sollte, trug zu der römischen Tracht eine echte Rokokoperrücke, was jedenfalls ungemein apart wirkte.

Die Sattlermeisterin besaß eine sehr hübsche Tochter, welche die Herrenwelt auch am heutigen Abend einigermaßen mit der Anwesenheit der Mutter und ihres Anhanges aussöhnte. Ein junges, frisches Ding, gut gewachsen, mit rassigem Gesicht und hellen Augen. Dabei eine blühweiße Haut, die seltsam abstach zu dem dunkeln Haar des Mädchens.

Die Männer schauten auch öfters mit unverhohlener Bewunderung auf die junge Römerin, was den Damen, denen so etwas nicht entging, Anlaß gab, kleine bissige Bemerkungen zu machen. Aber keiner der Herren der besseren Gesellschaft hätte es gewagt, sich auch nur ganz kurz mit dem jungen Mädchen zu unterhalten.

290 Geduckt und schüchtern stand der römische Sattlermeister an der Seite seiner gewichtigen Ehehälfte. Es war ihm äußerst unbehaglich zumute, und er sehnte schon den Augenblick herbei, wo man sich zum Gesang aufstellte, mit dem das eigentliche Fest eröffnet werden sollte.

»So stell' dich doch nit so!« gebot ihm seine Frau mit ihrer lauten Mannesstimme, daß es alle hören konnten. »Geh' . . . tu, was der Brauch ist. Schau, daß du den Notar findest. Der soll ein bissel hergehen zu uns. Wir wollen auch eine Unterhaltung haben. Nit grad' so dastehen und die Mäuler aufsperren.«

Recht unbeholfen und ungeschickt stand der Viehhändler da. Jede Miene in seinem Gesicht verriet, wie ungemütlich er sich in seiner Rolle fühlte. Man hatte ihn als römischen Zensor angezogen, und es hatte aller Überredungskunst von seiten der Frauen, insbesonders der Sattlermeisterin bedurft, daß er überhaupt gekommen war.

Jetzt, wie er mit seinen schweren Sonntagsstiefeln angetan auf dem glatten Parkett des Saales stand und keinen Moment wußte, wann er zum allgemeinen Gaudium hinpurzeln würde, wünschte er sich vom ganzen Herzen weit, weit fort von da.

291 Mißmutig brummte er seiner Alten ins Ohr: »Da hätt' i denn doch lieber a Dutzend wild g'wordene Stier' zusammentrieben oder in an Fackenstall übernachtet, als daß i da einergangen wär'. Nit mit zehntausend Ochsen bringst du mich noch amal zu so a Maskeradi. Das ist doch gar nix für an ordentlichen Christenmenschen. A ausg'schamte Komödie ist's, weiter nix!«

Noch eine Überraschung sollte der feineren Gesellschaft von Rabenstein am heutigen Abend zuteil werden und sie in nicht geringe Aufregung versetzen. Der Forstwart und seine junge Frau waren erschienen. Sie waren fast die allerletzten der Gäste gewesen.

»Unerhört!« zischte die Doktorin empört. »Wer mag denn die eingeladen haben?«

»Sie sind ja nicht einmal Mitglieder der Liedertafel, wie mein Mann das ist!« sagte die Frau Adjunkt beleidigt.

Die Forstmeisterin sperrte nicht nur die Augen, sondern auch den Mund auf und ließ ihn eine ganze Weile offenstehen. So verwundert war sie. Dann stotterte sie ganz hilflos: »Ja . . . Ja . . . was wird denn da die Frau Bezirksrichter sagen?«

Die Tierärztin war die erste unter den Damen, die sich fassen konnte. Sie wußte auch gleich eine 292 plausible Erklärung für diese unerhörte Anmaßung zu finden.

»Die Frau Bezirksrichter?« meinte sie wichtig und senkte ihre Stimme zum heisern Flüsterton herab. »Die Frau Bezirksrichter?« wiederholte sie dann nochmals bissig. »Der verdanken wir's ja, die ganze Suppen. Natürlich, wenn man von die Leut umsonst Klavierunterricht annimmt, dann muß man sich's auch g'fallen lassen, daß sich so was einem auch öffentlich aufdrängt.«

»Meinen's wohl, daß sie's umsonst tut?« frug die Forstmeisterin interessiert. Die Betonung lag aus dem »sie« und hatte etwas ungemein Geringschätziges an sich.

»Natürlich tut sie's umsonst. Und die Bezirksrichterin ist froh drum, sag' ich Ihnen. Mit fünf Kinder . . . ich bitt' Ihnen!« Mitleidig zog sie ihre Achseln in die Höhe und überließ es den andern, sich auszumalen, wie armselig im Grunde genommen es eigentlich bei den Bezirksrichterischen zugehen mußte.

Der Scharfsinn der Tierärztin war wirklich bewunderungswürdig. Denn tatsächlich ging die Bezirksrichterin sofort auf das junge Paar zu und geleitete Frau Annemarie freundlich zu einem Sitz in ihrer nächsten Nähe.

293 Die Gesellschaft war sprachlos, am sprachlosesten der Notar, dem das Erscheinen der Forstwarts genau so unerwartet kam wie den übrigen. Er war so freudig überrascht von dem Kommen des jungen Paares, daß er am liebsten gleich zu Frau Annemarie gegangen wäre, um ihr einen schwungvollen Willkommgruß zu entbieten. Aber das ging mit Rücksicht auf die paar Dutzend Frauenaugen, die ihn sicherlich argwöhnisch beobachtet hätten, nicht gut an.

So begnügte er sich denn vorderhand, der jungen Frau eine tiefe Verbeugung aus der Ferne zu machen, welche diese mit Zurückhaltung erwiderte.

Von jetzt ab schien der Notar wie umgewandelt. Es kam Leben und Frische in ihn, und ein paarmal lachte er in der Gruppe der Herren, bei denen er stand, derart laut und ausgelassen auf, daß alle Damen verwundert nach ihm schauten.

Geschäftig eilte er dann hin und her, so daß das weiße wallende Bacchushemd nur so um ihn flatterte. Die Damen fanden, ohne daß sie es einander eingestehen wollten, daß der Notar als Bacchus bildhübsch aussehe und eigentlich immer so gekleidet gehen müßte. Er hatte regelrechte Sandalen an den nackten Füßen, die den Damen zart und weiß erschienen wie Frauenfüße.

294 Von Gruppe zu Gruppe eilte der Notar, scherzte und lachte und stieß dann wieder unvermittelt einen seiner musikalischen Töne aus, durch die er in Rabenstein schon eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Dann wandte er sich der Damenwelt zu, in erster Linie natürlich der Frau Bezirksrichter. Es ging strenge zu nach Ordnung und Rang in Rabenstein.

»Gnädigste Frau, darf ich mir erlauben, Sie um die erste Tour zu bitten?« frug der Notar die Bezirksrichterin galant und mit demütiger Bescheidenheit. Dabei konnte er es nicht unterlassen, einen forschenden Blick auf die junge Frau Forstwart zu werfen, die neben der Bezirksrichterin saß.

Die Bezirksrichterin bemerkte den Blick, und ein boshaftes Aufleuchten aus ihren großen grauen Augen hätte den Notar eigentlich warnen müssen, etwas vorsichtiger zu sein, wenn er überhaupt darauf geachtet haben würde.

Aber der Notar achtete weiter gar nicht auf die Bezirksrichterin, sondern wandte sich so rasch es ging ihrer Nachbarin zu . . . »Darf ich um die dritte Tour bitten, gnädige Frau?«

Frau Annemarie schaute verwundert auf. Das war eine Auszeichnung, die sie nicht erwartet hatte. Leicht errötend nickte sie dem Notar zu. So kurz der 295 Vorfall war, er wurde doch beinahe von der gesamten Damenwelt beobachtet.

Die kleine Doktorin fragte sich eifersüchtig, ob der Notar wohl zuerst mit dieser Person tanzen würde. Aber dann würde sie ganz bestimmt Nein sagen. Eine derartige Zurücksetzung würde sie sich niemals gefallen lassen.

Sie brauchte nicht lange zu bangen; denn mit kühnen Schritten kam der Notar auf sie zu und bat um die Gunst der zweiten Tour, die ihm auch huldvollst gewährt wurde. Dankend zog der Notar die zierliche Hand der Doktorin an seine Lippen und hauchte einen zarten Kuß darauf.

Der Notar verstand sich tatsächlich auf die Frauen. Aller Argwohn, der für kurze Zeit die Seele der kleinen Frau vergiftet hatte, war geschwunden, und glückstrahlend schaute sie zu dem Notar auf.

Jetzt hatte der Notar seine Sängerschar um sich gesammelt. Im großen Kreis umstanden sie ihn, die Römer, Zensoren, Soldaten und Götter, die weißen Notenblätter in den Händen und mit ungeheuer wichtigen Mienen gespannt auf den Augenblick harrend, wo sie ihre Lieder mit voller Kraft in die Hallen des alten Roms schmettern durften.

Das Gesumme und Getöse der vielen sprechenden 296 Stimmen verklang und wich einer fast atembeklemmenden Stille.

Lied um Lied erschallte. »Die Wacht am Rhein« tönte zu den Abbildern der alten Gemäuer von Rom empor. »Und wer hat dich du schöner Wald aufgebaut so hoch da droben?« folgte dem neckischen Lied »Als wir jüngst in Regensburg waren . . .«

Andächtig lauschten die Damen den gesanglichen Leistungen der Männer. Die Sattlermeisterin saß sehr selbstbewußt zwischen ihrer Tochter und Schwiegertochter und warf triumphierende und schadenfrohe Blicke um sich. Denn hell und weich und in seltener Reinheit des Tones erklang die Stimme ihres Gatten.

»Siehst, was die Adjunktin für a G'sicht macht!« flüsterte sie boshaft ihrer Tochter zu und stieß diese etwas derb mit dem Ellenbogen an, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Der Neid frißt sie halt, weil's nit ihr Mann ist, der so schön singen kann, sondern der Vater. Der Adjunkt hat ja überhaupt koa Stimm' nit!« meinte sie verächtlich. »Der kräht ja nur so wie a besserer Gockel.« Das Gespräch, das im Flüsterton begonnen hatte, wurde halblaut fortgeführt.

Nachdem ungefähr ein halbes Dutzend Lieder verklungen waren, wurde das Ballfest durch den Notar und die Frau Bezirksrichter eröffnet.

297 Der Herr Bezirksrichter tanzte mit der Forstmeisterin und gab sich redliche Mühe, die schwerfällige Frau von der Stelle zu bringen.

Jede aus den Reihen der Damen hatte ihren Partner gefunden. Nur Frau Annemarie war ganz allein sitzen geblieben. Keiner hatte sie für diese erste Tour geholt, keiner hatte sich um sie gekümmert. Und doch war Frau Annemarie die schönste Frau im Saal.

Sie trug eine Art Phantasiekostüm, ein ägyptisches Sklavenmädchen darstellend. Das Kostüm paßte ganz ausgezeichnet zu ihrer eigenartigen Schönheit.

Die Bezirksrichterin hatte ihr dazu geraten und auch keine Ruhe gegeben, bis Frau Annemarie ihr versprach, bestimmt zu dem Ballfest zu kommen. Nur widerwillig hatte der Forstwart den Bitten seiner Frau nachgegeben, und nur nachdem sich die Bezirksrichterin ausdrücklich verpflichtet hatte, daß sie sich der jungen Frau annehmen wolle, war sein Widerstand gebrochen worden.

Als Frau Annemarie jetzt so einsam und verlassen auf ihrem Platze saß, reute sie es fast ein wenig, daß sie gekommen war. Mit einer Art Sehnsucht schaute sie nach dem Gatten aus, um den sie sich in der letzten Stunde gar nicht gekümmert hatte. Sie war 298 wie im Traume dagesessen, hatte das Ungewohnte auf sich wirken lassen und an nichts gedacht.

Jetzt sah sie eifrig nach den Tanzenden, in der Hoffnung, unter den wirbelnden Paaren auch ihren Mann zu entdecken. Der Forstwart hatte sich um eine Partnerin umgesehen und tanzte flott mit der hübschen Tochter des Sattlermeisters.

Die dritte Tour brachte die Sensation des Abends. Der Notar führte die Frau Forstwart am Arm. Das war unerhört. Die Forstmeisterin bekam beinahe einen Ohnmachtsanfall. So empört war sie. Denn diese dritte Tour hätte von Rechts wegen der Notar mit ihr tanzen müssen.

Entrüstet entwand sie sich dem Arm ihres Tänzers und ließ diesen verblüfft stehen. Dann eilte sie auf ihren Gatten zu, der gerade mit der Frau Tierarzt tanzte, und zog ihn gewaltsam aus dem Wirbel.

»Du . . .« sagte sie keuchend . . . »Ich muß mit dir reden.« Ihr Gesicht war hochrot vor Zorn, und dicke Tränen der Wut standen ihr in den Augen.

»Ich bitt' dich, mach' keine Szene . . .« sagte ihr Mann nervös. Er hatte Angst, daß ihm der Unwille der Gattin gelte, und fürchtete sich vor einem öffentlichen Skandal. »Was ist denn passiert?«

299 forschte er dann, indem er sich geschickt zwischen den tanzenden Paaren durchschob.

»Der Notar tanzt mit der Forstwartin!« stieß sie wütend hervor. »Mit der Forstwartin!« wiederholte sie mit Nachdruck und sah erwartungsvoll zu ihrem Gatten auf. Sie hoffte, daß ihr Mann gleichfalls entrüstet sein werde.

Der aber blieb seelenruhig und meinte gemütlich in seinem tiefen Baß: »Nu ja . . . warum denn nit? Sie ist ja ganz sauber.«

»Was?« Zischend kam es von den Lippen der Forstmeisterin. »Was? Und das sagst du? Ja, hast denn du gar keine Ehr' im Leib? Ja, weißt denn du gar nit, was mir die antut? Mich setzt der Notar zurück. Verstehst! Mich! Die Forstmeisterin! Deine Frau! Ja, Mann, Mensch . . .«

Immer lauter wurde die Frau Forstmeister, so daß sich in ihrer nächsten Nähe schon Leute versammelten und zuhörten. Dem Forstmeister wurde es peinlich. »Ja, ja, ich versteh' schon!« beruhigte er seine Frau. »Sei nur ruhig . . .« meinte er begütigend.

»Auf der Stell' geh' ich nach Haus!« erklärte die Frau Forstmeister zornig. »So was lass' ich mir nit bieten. Ich lass' mich nit zurücksetzen. Ich . . .«

300 Der Forstmeister hatte seine liebe Not mit seiner besseren Ehehälfte. Sie wäre wirklich auf und davon gelaufen, wenn nicht zufällig der Doktor dazugekommen wäre. Die beiden Herren hatten große Mühe, die Forstmeisterin zu überreden, daß sie noch weiter dablieb.

In der Zwischenpause wurde dann das Ereignis eifrig besprochen. Einstimmig stellten sich die Damen auf die Seite der Forstmeisterin. Es war und blieb unerhört, und dem Notar hätte man so was niemals zugetraut.

»Eigentlich müßte man ihn bestrafen!« meinte die Frau Adjunkt. Die Damen pflichteten ihr bei und nahmen sich vor, heute auch nicht eine einzige Tour mehr mit dem Notar zu tanzen.

Der Notar bemerkte gar nicht, was er angerichtet hatte. Er war so selig, daß er Frau Annemarie hatte im Arm halten dürfen . . . und sein Glücksgefühl teilte sich unwillkürlich der jungen Frau mit. Auch sie sah nicht die jetzt haßerfüllten Blicke der Damen. Sie fühlte nur, daß sie jung war, daß ihr Blut rascher durch die Adern lief wie sonst und daß sie schön sein mußte. Der Notar hatte es ihr leise zugeflüstert und ihr dabei tief in die Augen geschaut.

301 Es kamen noch andere Tänzer, die Frau Annemarie aufforderten. Der Bezirksrichter tanzte mit ihr und der Adjunkt, der Doktor und der Bürgermeister, der Postmeister und der Steuerverwalter . . . aber am häufigsten tanzte der Notar mit ihr. Das war schließlich schon so auffällig, daß es sogar der bürgerlichen Gruppe der Damen merkwürdig vorkam.

Die Sattlerin teilte es der Viehhändlerin mit. »Hast nit g'sehen? Der Notar ist ja ganz verschossen in die. Dös vergönn' i den hochnasigen Weibsbildern. Grün und gelb sollen's werden vor Wut. Recht g'schieht ihnen!« sagte sie ganz laut.

Der Notar hatte sich heute Abend nun schon die zweite Abfuhr von der kleinen Doktorin geholt und hatte darob nicht einmal ein unglückliches Gesicht gemacht. Die Tierärztin hatte es deutlich gehört, wie der Notar nach der zweiten Ablehnung fröhlich ein Liedchen vor sich hinsummte, und zwar sang er das vielsagende Lied . . . »Wenn i mei Diandl halsen tu . . . druckt sie die Augerln zu . . . Sie tut, als wenn sie schlafen tat . . . und i hals' sie fein stad . . .«

Der Doktorin hatte das Lied sicher nicht gegolten. Also hatte er an die andere gedacht, an diese hergelaufene Person, die nicht hereinpaßte in diese feinen Kreise. Es war wirklich empörend! Um so 302 empörender, weil diese hergelaufene Person sich heute entschieden zu dem Stern des Festes aufschwang.

Die Herren tänzelten und scherwenzelten in einer Weise um sie herum, daß sogar die Bezirksrichterin, die bis jetzt standhaft zu ihr gehalten hatte, allmählich von ihr abschwenkte. Wenigstens bekümmerte sie sich jetzt mehr um die übrigen Damen und sprach sogar der Frau Forstmeister ihr Bedauern aus über das taktlose Vorgehen des Notars.

»Das tut mir aber tatsächlich leid, liebe Frau Forstmeister . . .« sagte sie . . . »und eigentlich bin ich schuld daran; denn ich habe die hübsche Frau bei uns eingeführt. Aber sie tat mir so leid. So jung und so hübsch! Kein Wunder, daß sich der Notar so rasend in sie verliebt hat!« fügte sie entschuldigend hinzu.

Die Doktorin fühlte, wie es ihr heiß in die Kehle stieg, und die Frau Adjunkt empfand einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Es tut so unsäglich weh, wenn man die Schönheit einer andern Frau so preisen hört.

Die Tierärztin meinte anzüglich . . . »daß es wohl gut sei, wenn's bei dem einen bliebe . . . denn die Person scheine ja gemeingefährlich zu sein, weil sie alle Männer anzöge!«

»Den meinen nicht!« konstatierte die Forstmeisterin 303 mit Genugtuung. Und in der Tat war wohl der Forstmeister der einzige aus der besseren Gesellschaft, der sich von der jungen Frau fernhielt. Er tat es wohl nur lediglich aus dem Grunde, um seine Frau nicht zu ärgern und einen Skandal vor den Leuten zu vermeiden. Denn dafür kannte er seine Frau, daß sie im Zorn maßlos werden konnte und auf Bildung und Würde vergaß.

Frau Annemarie war wie umgewandelt. Sie lachte und scherzte in einer Weise, daß ihr Mann öfters besorgt nach ihr ausschaute. So hatte er seine Frau noch gar nie gesehen.

Langsam kriegte er es dann mit der Eifersucht zu tun und zog es vor, sich in ein anderes Zimmer zu begeben, wo sich ein Teil der Gesellschaft bei Wein und Bier und vorzüglichem Essen gütlich tat.

Und Frau Annemarie tanzte. Sie tanzte wie toll und flog von einem Arm in den andern. Heiß gerötet waren ihre Wangen, und ihre dunkeln Augen glühten. Und immer, wenn sie im Arm eines andern Tänzers davonflog, freute sie sich auf den Moment, wo sie wieder mit dem Notar im wirbelnden Rhythmus den Saal durchsausen würde.

Einmal in einer Pause, in der Frau Annemarie von einem Kreis von Verehrern umgeben dasaß, ging 304 der Notar ins Nebenzimmer, um dort Bekannte aufzusuchen. Er hatte es, nachdem er nicht nur von der Doktorin, sondern auch von den andern Damen der Reihe nach einen Korb erhalten hatte, eingesehen, daß er für heute bei der Damenwelt in Rabenstein in Ungnade gefallen war.

Draußen im Nebenzimmer ging es auch hoch her. Da saß der Sattlermeister und seine Familie und der Kaminkehrer Müller mit seiner Ehehälfte und viele andere.

Als der Notar zufällig an dem Tisch vorbeiging, an dem die Sattlerischen saßen, zupfte ihn die Sattlerin vertraulich am Ärmel und lud ihn ein, doch ein Weilchen bei ihr Platz zu nehmen.

»Wissen's, Herr Notar . . .« meinte sie bescheiden . . . »wir sein einfache Leut. Aber das müssen's doch zugeben, daß mein Mann ein großer Sänger ist?«

»Aber Alte . . . Alte . . .« machte der Meister verlegen und wurde tatsächlich rot wie ein Schulmädel. »Wie kannst grad' so was sagen?« meinte er vorwurfsvoll.

»Was wahr ist . . . ist wahr!« beharrte die Meisterin. »Wir sein bescheidene Leut, Herr Notar . . . aber mein Mann ist . . .«

305 »Ein ganz patenter Sänger!« rief der Notar fröhlich. »Unsere beste Kraft . . . die Zierde der Liedertafel von Rabenstein! Hoch! Hoch! Hoch!«

Frohgemut stieß der Notar sein Weinglas, das er sich hatte von der Sattlerin füllen lassen, an das Glas des Meisters. Er mußte mit allen anstoßen, die am Tische waren. Mit dem einstigen Viehhändler und dessen Gattin und mit dem Rauchfangkehrer samt Gemahlin.

Der Viehhändler hatte sichtlich schon über den Durst getrunken. »Weil's gleich ist, Herr Notar . . .« sagte er mit schwerer Zunge. »Wissen's . . . i und mein Weib . . . wir passen nit einer in die noble G'sellschaft. Aber wir haben a Geld, gelt, Alte.« Er zwickte seine Frau in die Seite, daß sie laut aufschrie.

»Gib a Ruh', Mann! Du hast an Rausch!« mahnte sie.

»Ah, na, na! I bin ganz nüchtern. Grad' dös G'wand, dös paßt mir nit. Dös tut mich völlig a bissel kratzen.«

Und ungeniert kratzte sich der Mann da, wo es ihn zu beißen schien. Der Sattler machte ein verlegenes Gesicht. Die Sattlerin lenkte die Aufmerksamkeit des Notars geschickt ab. »Trinken's doch, Herr Notar! Trinken's! Wissen's, wir sein einfache Leut . . . 306 aber wir vergönnen an Menschen was. Wann's einem bei uns schmeckt, dann g'freut's uns.«

Die hübsche Tochter kam am Arme eines Tänzers zu flüchtigem Besuch zu den Eltern. Sie begrüßte den Notar und entfernte sich dann wieder schleunigst, um ja nichts vom Tanz zu versäumen.

Wohlgefällig schaute ihr die Mutter nach. »Jetzt schauen's amal, Herr Notar, wie sich der Mensch ändern kann!« erzählte sie dann. »Grad' so sauber wie meine Tochter, grad' so bin i auch amal g'wesen. Schauen Sie's grad' an. Koa Fleckerl am Hals oder auf die Arm'. Und grad' a so weiß wie da, so ist sie abi und abi . . .« erzählte die Frau naiv weiter. »Wissen's, wenn sie so einer sehen könnt' . . . im Hemmet . . . i mein', er könnt' si döcht nimmer halten.«

Vertraulich stieß die Sattlerin den Notar mit dem Ellenbogen an, während der Viehhändler in ein dröhnendes Gelächter ausbrach. Seine Frau schlug ihm kräftig auf die Schulter! »Alter!« mahnte sie. »Du hast an Rausch!«

»Ah, na, na!« meinte der lallend. »I lach' lei

Der Kaminkehrer kam mit seinem Weinglas angerückt. »Zum Wohl, Herr Notar! Das ist a Leben!« 307 rief er mit seiner volltönigen Baßstimme. »Wir wollen alle leben! Wir sein Menschen! Soziale Unterschiede gibt es nimmer heutzutage. Das ist unmodern. Das ist rückständig. Schauen Sie mich an. Ich bin Rauchfangkehrermeister!« Breitspurig, mit gespreizten Beinen pflanzte er sich vor dem Notar auf. So wie er da stand in seiner römischen Toga, hatte er blutwenig Ähnlichkeit mit einem Rauchfangkehrer. »Schauen Sie meine Frau an. Als Dienstmädchen bedienstet habe ich sie geheiratet. Ich . . . der Rauchfangkehrermeister Müller . . .«

Der Notar hielt es für geraten, sich eiligst und ohne Abschied zu entfernen. Das Gespräch nahm Formen an, die ihm persönlich höchst peinlich waren.

Draußen im Saal lockte die Musik. Auf dem Wege zu dem Saal überlegte der Notar einen Augenblick, ob die Liedertafel nicht doch eine übereilte Gründung war. Mit einem Male, während er an den Tischen vorbeiging, stiegen ihm diese Bedenken auf. Mit einer feinen Gesellschaft hatte der größere Teil der Gäste wenig gemeinsam.

All die Zeit her war ihm das nicht aufgefallen. Er hatte in einem wahren Taumel gelebt und sich nur über seine Gründung gefreut. Nun kam die Erkenntnis, aber nicht die Reue. Denn gerade die 308 Liedertafel war es ja, die ihm die Geliebte in die Arme geführt hatte.

Der Notar nannte Frau Annemarie im Geiste schon seine Geliebte. Er fühlte ihr Erglühen; und mit größerer Kühnheit, als er es bisher gewagt hatte, preßte er jetzt beim Tanze, den er mit ihr angetreten hatte, die biegsame Gestalt der jungen Frau.

Frau Annemarie atmete erregt, als sie an die Brust des hochgewachsenen Mannes gelehnt durch den Saal flog.

»Wir sollten eigentlich gehen!« sagte die Frau Adjunkt zur Bezirksrichterin. »Ein Affront wäre das einzig richtige.«

»Meinen Sie?« Hochmütig sah die Bezirksrichterin zu der Adjunktin auf. »Dann gehen Sie doch. Mich ärgert Frau Annemarie nicht . . .« sagte sie anzüglich. »Ich gönne ihr das Vergnügen, und dann will ich doch noch das Preislied hören. Der Notar hat uns ein Preislied versprochen.«

Es war Tatsache. Den Abschluß des Festes sollte ein Preislied bilden. Der beste Sänger sollte von der schönsten Frau, der Königin dieses Abends einen Kranz erhalten. So war es bestimmt gewesen, und so sollte es auch eingehalten werden . . . fand die Bezirksrichterin.

309 Jede der Damen hatte sich im Geiste schon als Ballkönigin gesehen, und die Doktorin hatte es sich so schön ausgemalt, wie sie dann vor allen Leuten dem Notar den Kranz huldvollst aufs Haupt drücken würde und wie er zu ihren Füßen knien und ihr dankend die Hand küssen würde. In jener zarten, ritterlichen Art, die sie besonders liebte.

Sie hatte sich so gefreut darauf die kleine Frau. Und nun freute sie sich gar nicht mehr. Sie wußte, daß sie heute nicht die Ballkönigin sein würde, und kämpfte eigentlich schon längst mit den Tränen.

Die ganze Tanzerei machte ihr keinen Spaß. Das getraute sie sich aber beileibe nicht einzugestehen, um von den andern nicht durchschaut zu werden. So blieb sie denn ohne Widerspruch, obwohl sie viel lieber nach Haus gegangen wäre. Auch den andern erging es ähnlich. Aber sie blieben alle und warteten das Preislied ab.

Es war keine kleine Sache für den Notar, daß er zu so später Stunde noch seine Schaar zusammentrommelte. Die Mitglieder der Liedertafel von Rabenstein waren zum größten Teil in schon recht angeheiterter Stimmung.

Nach vieler Mühe gelang es dem Notar aber doch, seine Römer um sich zu versammeln. Im großen 310 Kreise standen sie um ihn, mit müden blinzelnden Augen und erhitzten Gesichtern.

Die Damen hatten wieder ihre alten Sitze eingenommen. Nur Frau Annemarie saß auf einer Art Thronsessel, den man ihr errichtet hatte, am Ende des Saales.

In einem wahren Triumphzug hatte man die Frau Forstwart zu dem Sitz gebracht, nachdem sie jubelnd und einstimmig von den Herren zur Königin gewählt worden war.

Stolz und aufrecht saß sie da, einen grünen Lorbeerkranz in den feinen Händen. Sie hatte nur einen Blick. Das war auf den Notar. Und ein seliges Lächeln schwebte um ihren feinen Mund. Der glühte und lockte purpurrot, und die Herren, die nicht mitsangen und wie Trabanten ihren Thron umstanden, beugten sich näher zu ihr herab, um einen Blick aus diesen schönen Augen zu erhaschen.

Das alles sahen die Damen der Stadt mit blaßgelben Gesichtern. Und die Bezirksrichterin sah noch mehr. Sie sah, wie es kommen würde. und ihr Gesicht nahm einen sehr selbstbewußten und zufriedenen Ausdruck an.

Der Chor des Preisliedes begann. Einzelne Solis wurden gesungen. Der Sattlermeister sang und der Notar, der Bürgermeister und der Adjunkt, der 311 Rauchfangkehrer und der Doktor. Sie taten ihr Bestes, so gut es eben noch gehen wollte.

Aber am schönsten sang . . . darüber waren sich alle einig . . . nach wie vor der Sattlermeister Eberl. Er hatte sich nüchtern gehalten, und seine Stimme klang hell und rein. Dann kam der Doktor und dann der Adjunkt. Der Notar sang, wie er gewöhnlich zu singen pflegte. Er sang schmetternd, aber ohne jedes musikalische Empfinden und ohne Reinheit der Töne.

Leise flüsterten sich die Damen ihr Urteil zu. Auch die Damen der bürgerlichen Gesellschaft hielten mit ihrer Meinung nicht zurück, nur daß ihr Beifall lauter klang als auf der andern Seite und daß sie ganz ungeniert die Namen riefen, die sie ausgezeichnet haben wollten. Alle blickten erwartungsvoll zu Frau Annemarie.

Diese saß leicht nach vorwärts gebeugt da und sah mit heißem Blick auf den Notar. Langsam näherten sich die Solisänger ihrem Thron, um aus ihrer Hand den Kranz zu empfangen. Der Sattlermeister, der Doktor, der Bürgermeister, der Notar, der Adjunkt und der Kaminkehrer Müller.

Nur einen Augenblick zauderte Frau Annemarie. Dann erhob sie sich. Gespannt waren aller Augen auf sie gerichtet.

312 Hoch hielt die junge Frau den Kranz empor. Dann beugte sie sich gegen den Notar, der ihr zu Füßen sank, und drückte ihm mit leichter Hand den Kranz aufs Haupt.

Eine atemlose Stille herrschte im Saal. Dann hörte man plötzlich ein »Ah!« Es klang wie ein Zischen und kam von den blassen Lippen der Doktorin.

Der Notar beugte sich tief über die Hand der jungen Frau und küßte sie lange . . . so lange, daß der Adjunkt und der Doktor dem Paare plötzlich den Rücken wandten und ihre Frauen aufsuchten.

Verlegen stand der Sattlermeister da und schaute verwundert auf den Rauchfangkehrer. Er war ehrlich erstaunt darüber, daß nicht er den Kranz erhielt. Man hatte ihn ja immer als Sänger so gelobt. Warum gab ihm die junge Frau dann nicht den Kranz?

Der Rauchfangkehrer zwinkerte mit einem Auge und sah schlau zu seinem durchgefallenen Kollegen herab. »Kannst nix machen!« sagte er dann. »Dös ist halt amal so!«

Dann schob er den Arm des Sattlermeisters unter den seinen und führte den Meister seiner Frau zu.

Fast fluchtartig verließ die Gesellschaft den Festsaal. So schnell und überstürzt, daß man nicht einmal mehr 313 darauf achtete, wie die Sattlerin in allen Tonarten auf den Notar und die »ausg'schamte Person« zu schimpfen begann.

Man achtete auch gar nicht weiter auf den Notar und auf die Frau Forstwart. Inmitten des großen Saales befanden die beiden sich jetzt ganz allein. Schon wollte der Notar seinen Arm um die Taille der jungen Frau legen, als er von kräftiger Hand zurückgestoßen wurde.

»Jetzt g'hört sie noch mir!« rief der Forstwart zornig und mit lauter Stimme. »Und wer sie anrührt . . . die Kugel wär' mir zu schlecht für den!« fügte er drohend bei. »Derdreschen tu ich dich . . . dich . . .« rief er aufgebracht und drang wütend auf den Notar ein.

Der lief, so schnell er konnte, davon und suchte Schutz in der Finsternis der Nacht . . .

So endete das schöne Fest der Liedertafel von Rabenstein. Aber es hatte noch ein Nachspiel. Wie ein Geächteter schlich der Notar wochenlang im Städtchen herum. Kein Mensch kümmerte sich um ihn, und keiner dankte ihm freundlich für den Gruß.

Frau Annemarie schloß sich einsam in ihre Wohnung ein und weinte sich beinahe die Augen aus. Es gab Zank und Streit in dem stillen Heim; und Frau 314 Annemarie sehnte sich danach, daß der Notar zu ihr kommen würde, um ihr ein gutes Wort zu sagen.

Das fiel diesem aber gar nicht ein. Wie eine Ernüchterung war es über ihn gekommen. Die allgemeine Kaltstellung, deren er sich nun erfreute, hatte das bewirkt.

Es wollte auch gar nicht mehr vorwärts gehen mit der Liedertafel. Der Bezirksrichter war im Verein mit dem Bürgermeister zu dem Notar gekommen und hatte es ihm nahegelegt, die Vorstandschaft niederzulegen.

Bereitwillig hatte der Notar beigestimmt. Er wußte, daß es ohne ihn nicht gehen würde in Rabenstein.

Und so war es auch. Erst war der Doktor Vorstand geworden und dann der Adjunkt. Aber es gab kein Zusammenhalten mehr, und der Verein wurde nach Jahresfrist aufgelöst. Zur selben Zeit, als der Forstwart seine Versetzung erhielt, um die er angesucht hatte. Er kam nach einem andern, noch kleinern Nest. Ob Frau Annemarie ihr ganzes Leben dort würde aushalten können? . . .

Die Damen glaubten es nicht, und die Bezirksrichterin lächelte nur sein, wenn man sie um ihre Ansicht fragte.

315 Sie hatte nach jenem Ballfest die junge Frau ganz brüsk fallen lassen und sie nie wieder empfangen.

Eigentlich tat ihr Frau Annemarie leid. Sie hatte nichts gegen die junge Frau, die ihr Opfer geworden war . . . ein Mittel, den verhaßten Notar im Städtchen unmöglich zu machen.

Das war ihr gründlich gelungen. Der Notar sehnte sich fort von Rabenstein und strebte seine Versetzung an. Es dauerte auch gar nicht geraume Zeit, bis es ihm gelang, ein anderes Notariat zu finden.

 


 


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