Agnes Günther
Die Heilige und ihr Narr
Agnes Günther

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Siebenunddreißigstes Kapitel: Das goldene Band.

Die Wolken wandern über den Himmel und der Nachtwind streicht über dunkle, regenmüde Wälder. Und am Horizont hebt sich ein grauer Schein, und die Vögel lassen die ersten halbwachen Töne hören. Drüben in Thorstein hat der Stein im Vogel Rock die ganze Nacht geglüht und bald sind Lichter aufgeblitzt in den großen Scheiben und wieder erloschen. Harro fährt auf von seinem alten Lager im Atelier, und wie ein breiter Sturzbach fließt der Jammer über sein Herz. Er erhebt sich, wie hat er nur so lange schlafen können, und macht sich schleunigst fertig. Er eilt hinüber. Die Schwester empfängt ihn. »Ihre Durchlaucht erwartet Sie sehr, Herr Graf.«

»Warum weckten Sie mich nicht?«

»Frau Gräfin wollt' es nicht dulden.«

Ach, wie ist der Schmerzensreif an ihrer Stirne schärfer geworden, wie brennen die großen dunkeln Augen. »Hast du denn gar keine Ruhe finden können?«

»Nein, Harro.« Und die großen Tränen laufen über ihre Wangen.

Er wendet sich an die Schwester. Es muß doch ein Mittel geben. »Herr Professor schläft, und der Herr Assistent darf nicht ohne Erlaubnis...«

»So werde ich ihn wecken.«

Er eilt hinaus, und die Schwester mit fliegender Haube hinter ihm drein und erfaßt ihn noch am Rocke. »Herr Graf,« stammelt sie entsetzt, »das ist ganz unmöglich... den Herrn Professor wecken!...«

»Wir wollen sehen, ob es unmöglich ist,« herrscht Harro.

»Herr Graf, der Herr Professor wird nicht herauskommen. Er wird nach Puls und Temperatur fragen durch die Tür. Der Herr Professor muß seine fünf Stunden Schlaf haben. Die letzte Nacht in dem Auto! Es warten noch andere Menschen auf ihn..., Herr Graf. Heute abend hat er in Würzburg wieder eine Operation. Wie kann er das Leben denn aushalten, wenn man ihm nicht die fünf Stunden läßt.« Atemlos ist die Schwester, ein junges, blasses Ding mit großen, ernsten Braunaugen neben ihm hergelaufen, den Schlaf ihres Herrn verteidigend.

Also andere warten auch..., er ist nicht allein auf der Welt mit seiner Qual. Er steht still und sieht die Schwester an... »Sie müssen doch einsehen, daß ich nicht ohne Hilfe zu meiner Frau zurückkehren kann.

Die Schwester wagt es, seinen Arm zu fassen. »Der Herr Professor, wenn er zornig ist, wird Ihnen doch nichts geben. Er wird sehr zornig sein. Und heute nacht wird eine Mutter von sechs Kindern an Krebs operiert.«

Harro läßt seine Hand, die schon nach der Klinke gefaßt, wieder sinken. Den Herrn fürchtet er nicht, zornig kann er auch werden, aber er sieht die sechs verlassenen Würmlein vor sich, und die eine Hand, an deren Kraft und Ruhe alles hängt.

Langsam steigt er die Treppe herunter. Der Assistent darf nicht. Das begreift er, das ist Disziplin. Langsam kommt er herein, ach, an seinem Schritt schon merkt sie, daß er keine Hilfe bringt.

Da sitzt er wieder an ihrem Bett. Die arme, blasse Hand liegt auf der seinigen, und ihre Augen sehen ihn an in ihrem stummen Leiden. Und plötzlich beugt sich sein Rücken, und er fängt an zu zittern und zu schluchzen...

»Ach, Harro!« – Weinen hat sie ihn noch nie gesehen. Kann er denn auch weinen?

Die Schwester entsetzt sich aufs neue. Diese Privatpflegen! Oh, jetzt einen Wärter und einen Assistenzarzt und diesen Mann sofort hinausführen lassen!.. »Herr Graf, gehen Sie hinaus,« befiehlt sie leise und mit einer Energie, die selbst er in seinem hilflosen Jammer fühlt.

Aber es ist noch jemand da, der einen Willen hat. Das ist die Gräfin, die bisher hat alles mit sich geschehen lassen, sich gegen nichts gesträubt, mit schweigender Geduld die entsetzlichen Stunden getragen hat. Ihre Augen sind fremd und herrisch, und die Vornehmheit ihres Gesichts tritt fast erschreckend hervor. Die Brauneckerin.

»Sie gehen hinaus,« befiehlt sie.

»Ich darf nicht. Ich darf das Zimmer nicht verlassen.«

»So gehen Sie dort hinein, bis wir Sie rufen.«

Und die Schwester wird zum erstenmal einem bestimmten Befehl ihres Chefs ungehorsam. Sie geht ins Nebenzimmer und zieht sogar die Tür hinter sich zu. Ein Wille ist über ihr. »Harro, Liebster,« flüstert Rosmarie. »Komm her, lege deinen Kopf auf mein Bett. Daß ich dich trösten kann.« Sie streicht ihm über seine Haare.

Oh, wie ihm die Tränen wohl tun. Und die Hand, die nicht nur über seinen Kopf, die über seine Seele streicht. »Laß mich bei dir sein. Rose. Liebste Rose. Ach, sie wollen dir nichts geben, das dich ein wenig hinüberbringe.«

»Es ist gar nicht nötig, ich habe ja dich, und ich will dich trösten. Hör einmal, wie süß die Vögel singen, wie süß. Ich bleibe bei dir, Harro. Weißt du denn nicht, daß ich dich beinah verlassen hätte! Und den Heinz. Es faßten schon die kühlen Hände nach mir. Und das stumme Wesen kam näher. Ach, und ihr hieltet mich so fest, du und der Vater. Immer wieder entrissest du mich ihnen, die mich davon tragen wollten in ihren süßen, feuchten Schleiern.«

Harro kniet vor ihr, alle Ermahnungen der Schwester hat er vergessen. Seine beiden Ellbogen liegen auf der Bettkante, und er stützt seinen Kopf auf und sieht sie an. Ihr fremdschönes Antlitz, ihre Stirn, auf der wieder das geheimnisvolle Licht liegt wie in jener Nacht, als sein Sohn geboren wurde. So sehen sie aus, die Stirnen, die der Todesengel gestreift hat mit seinen langen, dunkeln Schwingen, denkt er.

In sein Herz brennt sich das ein. Sein Erlebnis im Bergfried, er muß es ihr sagen. »Rosmarie, ich habe Gott im Himmel um dich angefleht. Alle sieben Schleier habe ich zerrissen. Und er hat mich gehört. Er neigte sich zu mir. Von seiner ungeheuren Höhe, von seiner Sonnen- und Sternenhöhe herab. Zu mir. Ich taste an mir herum, ich kann es immer noch nicht fassen. Zu mir. So ein Staub, so ein Wurm. Schon einmal hat er mir geantwortet, als ich ihn suchte in der Nacht, in der ich wußte, daß du mir gehören würdest. Und dann hab ich doch mir selbst nicht glauben wollen. Du warst ein verliebter, überseliger Narr bei Palmen und Meerleuchten in Sternenpracht. Was willst du nicht alles gefühlt haben! So habe ich mich verspottet und mein Herz hart gemacht!«

»Ich sah dich, Harro, bei der Pinie standest du und strecktest die Arme in die Höhe.«

»Du sahst mich? Ja. bei der Pinie.«

»Und ich dachte, er redet mit Gott. Und dankt ihm.«

»O Seele, o Seele ... Ich muß wieder weinen ... Nein, laß mich ... es muß so viel wegschwemmen.«

Ihre großen Augen strahlen. Nein, sie wird nicht ohne ihn in den himmlischen Garten kommen. Ihre Geheimnisse blühen aus ihr auf.

Draußen fliegt ein lichter Schein empor, und all die Vogelstimmen glänzen hell auf. Nie wird Harro ihre halbwachen Töne an jenem Morgen vergessen.

»Ich weiß ja nun nicht, was ich tue, Rosmarie. Mein Leben muß ich doch ändern. Was ich erlebt habe, das verpflichtet.«

Rosmarie lächelt ein ganz klein wenig. »Ach Harro, dein Leben ändern! Gott muß doch alle Tage eine Freude gehabt haben, wenn er dich gesehen hat. Was willst du ändern! So gut gegen mich und den Heinz, so treu. Und deine Kunst. Hast du denn je etwas gemacht, was Gottes Augen nicht sehen dürften?«

Harro stützt den Kopf auf seine Hand und sinnt. »Doch. Rosmarie, muß etwas anders werden, im tiefsten Grund anders. Es wird schon einen Kampf geben. Wenn man sich selbst so lange hart gehämmert hat.«

»Hart, Harro! Warst du je hart gegen mich?«

»So lieb, daß du das sagst, so lieb. Gegen dich habe ich es ja auch nicht sein wollen, und bin's doch gewiß oft gewesen!«

»Nie, Harro, nie. Nicht ein einziges Mal, nie. Ich weiß von nichts. Meinst du, Gott habe nicht gesehen, was du aus dem armen, halberfrorenen Seelchen gemacht hast? Und jetzt: Wenn ich auch so daliege wie ein ausgestoßener Vogel, meinst du, ich könnte deshalb nicht doch glücklich sein. Durch dich, Harro, glücklich! Selig bin ich.«

»O Rosmarie, kannst du trösten! Du kannst trösten,« flüstert er, und seine Augen werden naß.

»Kann ich trösten? Wir lassen uns unser Glück nicht nehmen. Wir haben jetzt etwas, das ewig ist. Wir halten unser goldenes Band fest, mit dem unser Herz an Gott gebunden ist.«

Und sie schwiegen und sahen in den aufleuchtenden Morgen.


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