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Rudhard zog ein großes Portefeuille aus der Brusttasche, schnallte es auf und nahm aus mancherlei Papieren und Dokumenten, die in ihr angehäuft lagen, einen zierlichen Brief hervor, der durch seine mit hundert Notizen und Strichen überkritzelte Adresse einen wunderlichen Anblick bot. Es waren darauf ersichtlich die vielen Postzeichen und Bemerkungen des Hin- und Hersendens nach dem Adressaten in deutscher und russischer Sprache, in blauer, rother, grüner Tinte und wer weiß, setzte Rudhard mit einem leisen Anfluge von Lächeln hinzu, ob nicht noch in unsichtbarer, sympathetischer Tinte, die nur die geheime Polizei zu sehen und zu lesen im Stande ist!
Der Brief selbst, mit schwacher Hand, unsicher, wie von einer Todtkranken geschrieben, lautete:
»Nach Allem, lieber Rudhard, was zwischen uns auf dieser Erde vorgefallen ist, werden Sie erstaunen, wie Sie noch, ehe ich dies Dasein verlasse, von mir einen Abschiedsgruß erhalten können! Ja, mein lieber Rudhard, ich stehe an der Pforte der Ewigkeit. Die Stunden sind gezählt, die mich die Langmuth des Herrn noch athmen läßt und ich frage mich, warum der erlösende Engel noch immer nicht kommen, an mein Lager treten und mir die Augen zudrücken will! Ich frage: Was gibt dir denn der Herr noch zu bedenken? Was sollst du noch in deinem Hause ordnen, ehe du die Heimkehr zu deinem Erlöser antrittst? Ich blicke um mich, wo wol noch ein Herz schlägt, das ich betrübte, wo wol noch ein Fehl zu sühnen und zu büßen ist, und der Erinnerungen an Schlimmes und Sündhaftes sind in mir so viele, lieber Rudhard, daß ich noch eine Ewigkeit leben müßte, jeden nagenden Gedanken aus meiner Seele zu tilgen. Ach, mein Heiland, muß ich beten, ich ermüde, mich so zu schmücken wie du mich haben willst! Nimm mich hin in deine Arme und laß die Gnade mich rein waschen von meinen Sünden!«
Siegbert stockte, gerührt von diesen innigen Worten.
Ein Wink Rudhard's, ein leichtes Kopfschütteln, foderte ihn auf, fortzufahren. Siegbert las:
»Dennoch nutz' ich jede Frist, die mir die Anfälle der traurigen Krankheit, an der ich sterbe, lassen, – es ist dies Übel jenes schmerzlichste, an dem wir Frauen uns auflösen müssen – um doch irgend Etwas abzuthun, was mit meiner schwachen Kraft mir erreichbar scheint, und da bin ich zu einer ernsthaften Betrachtung gekommen, die mich darauf führt, Ihnen zu schreiben.«
Sie wird Sie, unterbrach sich Siegbert, um Verzeihung bitten, daß sie Ihnen so weh gethan, Ihren aufrichtigen Sinn verkannt, Sie von Haus und Herd vertrieben hat.
O nein, sagte Rudhard, mit ironischer Miene. Erwarten Sie eine solche Reue von einer Gottbegnadigten nicht! Auch ich erwartete, daß sie vielleicht, alle religiöse Parteiung bei Seite setzend, sich auf einen rein menschlichen Standpunkt stellen und mir als Menschen, als ehemaligem Freund, als Erzieher ihres Sohnes in der letzten Stunde ein Wort der Versöhnung zurufen würde. Nein! Davon finden Sie nichts! Im Gegentheil, sie verharrt in ihrem Bewußtsein reinster Gottseligkeit und überläßt mir nur noch eine Gewissenspflicht, die ich nach einer allgemeinen, rein praktischen und nur klugen Auffassung des Lebens prüfen solle. Sie anerkennt in mir den rechtlichen Mann; Das ist Alles!
Aber viel! sagte Siegbert. Viel wenn es ein Auftrag ist, der einen rechtlichen Mann erfodert und unter Hunderten, die sie wählen konnte, Sie es sind, an den sie in der Sterbestunde dachte, Sie, der Jahre lang ihrem Gedächtnisse entrückt war.
Ich bitte, lesen Sie! sagte Rudhard ruhig und ohne den mindesten Anflug eines geschmeichelten Gefühls.
»Was aus meinem unglücklichen Egon geworden, fuhr Siegbert fort, wissen Sie vielleicht! Ich weiß, daß es Niemandem unbekannt geblieben ist. Die religiöse Weihe, die ich seiner Erziehung geben wollte, hat keinen Widerschein in seiner Seele gefunden. Mit zerrissenem Mutterherzen gesteh' ich Ihnen, daß kein Sohn seiner Mutter geringere Aufmerksamkeit zeigt, kein Sohn die Hoffnungen seiner Ältern mehr getäuscht hat als dieser Unglückliche, Tiefverblendete! Daß ihn die innere Haltlosigkeit seiner Seele anekelte und ihn antrieb, nicht seinem Stande gemäß zu leben, will ich nicht tadeln. Aber nicht das Gefühl der Reue ist es, was ihn veranlaßte, sich das Kleid des Handwerkers anzuziehen, sondern leere, nichtige Originalitätssucht, der schlimmste von allen Trieben nach Auszeichnung. Ich wenigstens kann nicht daran glauben, daß die Erniedrigungen, die er in Lyon und Paris über sich verhängte, aus Liebe zum Erlöser, aus Geringschätzung des Lebens, aus wirklicher Demuth kamen. Eine Zeit lang hab' ich es geglaubt. Wie ich erfuhr, mein Egon ist von Genf nach Lyon zu Fuß gewandert, wie er mir einst einen guten, edlen Brief von dort schrieb, wie ich hörte, ihn ekle die schaale, große Welt an, er hätte fast denselben Beruf ergriffen, den Anfangs auch der Heiland von seinem Vater Joseph erlernte, – Rudhard lächelte – überkam mich eine Stimmung, die ich nicht schildern kann und doch hab' ich sie geschildert, habe versucht, sie zu schildern und schrieb meinem Sohne einen Rückblick auf mein Leben mit der Wahrheit, die aufgedeckt ist im Buche des Lebens und zu der es mich drängt mit unwiderstehlicher Erleuchtung. Als ich diese Geständnisse kurz vor dem Augenblick, wo ich in einer Nacht glaubte, an meinem Übel sterben zu müssen, vollendet hatte, wußt' ich nicht, wohin damit? Du stirbst und diese Blätter, wer bringt sie dem Sohne und ruft ihm durch sie zu: Folge deinem Rufe! Übe Demuth! Sei was dein Heiland war! Ach, es war Nacht um mich – die Wächterin schlief. Da griff ich nach einem alten Bilde, das meine jugendlichen Züge darstellte, es hing über meinem Bette. Es hatte ein Geheimniß, ein Kästchen, das auf einen Druck am Glase aufsprang, ein Scherz, den ich in jungen Jahren zu kleinem, verstecktem Krame benutzt hatte. Dort barg ich mein Gebet zu Gott, mein Geständniß, das ich in einigen schlaflosen und doch entzückten Nächten niedergeschrieben hatte, und glaubte nun zu sterben.«
Siegbert war über die plötzliche Aufklärung des Bildes so erregt, daß ihm das Lesen der schwierigen Handschrift wunderbar von Statten ging. Er fuhr fort:
»Ich starb nicht. Dies Übel ist fürchterlich, lieber Pfarrer. Es gewährt augenblickliche Pausen, wo man an Genesung glaubt und dann bricht die Macht der Zerstörung mit Hammerschlägen wieder auf die verwesenden Theile und man glaubt zu sterben, ohne es zu können. Moschus und Opium führen über die gräßlichen Krisen hinweg. Ich hatte oft Denkwürdigkeiten aus meinem Leben aufgesetzt und wenn ich Bogen vollgeschrieben hatte, sie wieder verbrannt. Sie waren nicht die reine Wahrheit, sie schlüpften ohne Reue über meine größten Sünden hinweg, ich vernichtete sie, weil ich mir vorkam wie der Pharisäer, der stolz auf seine Brust schlug und sich rühmte: Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie Die! In jenem Jubelrufe an den Sohn aber war ich wahr gewesen; doch ich schauderte, wenn ich bedachte, was ich geschrieben! Es war Anfangs meine Absicht, jenes Bild zu versiegeln und bei Gerichten niederzulegen. Aber dann ergriff mich's mit furchtbarer Angst. Wie kannst du Das von dir geben? Wie kannst du dir die Möglichkeit nehmen, diese Blätter bei andrer Gesinnung rasch zu ergreifen und zu zerstören? Nein, du mußt sie zur Hand haben, und schon streckte die Hand sich aus, um die Papiere zu vernichten. Da zögerte ich wieder und warf mir vor: Siehst du, daß du zitterst vor der Wahrheit! Siehst du, daß du in Kleidern prangen willst, wie die Gerechten und deine Blöße verdeckst und sie nur Gott gestehen willst! Als ich später Schlimmes von Egon erfuhr, dacht' ich auch: O wie gut wäre dir's, Sohn, der Himmel schüttete eine Schale über dich aus, eine Schale seines Zornes und du lerntest Demuth durch äußere Dinge, da sie nicht in dir ist!«
Was sagen Sie zu dieser Selbstqual? unterbrach Rudhard den Vorleser.
Siegbert fuhr ohne zu erwidern fort:
»Ich schreibe an diesem Briefe schon den dritten Tag, lieber Pfarrer. Mein Ende naht. Ich fühle Das an jenem Pochen, das nun schon oft bis an's Herz reicht. Ein Schlag dieses Klopfers, der gut gezielt hat, und ich bin nicht mehr. Ich habe inzwischen Manches angeordnet. Der Fürst ehrte meinen Willen und läßt die Verhältnisse Hohenberg's ein Jahr so geordnet, wie sie sind, wenn ich die Augen schließe. Auch die Einrichtung meiner Zimmer bleibt. Dem Sohne empfahl ich durch einige Zeilen, die wol die letzten sind, die ich an ihn richtete, wirklich das Bild und sein Geheimniß. Zugleich aber, da meine Gedanken und Gefühle in einen nimmer auszugleichenden Widerstreit gerathen sind, entschloß ich mich, über diese Papiere noch Einen zu Rathe zu ziehen, vor dem ich mich nicht scheuen würde, wenn er sie läse. Ich suchte lange, bis ich ein Wesen fand, das mir würdig schien. Ich fand zuletzt einige Würdige. Aber unter den Würdigen nur Einen, der nützlich, weltlich und klug genug schien, Sie, Rudhard. Daß Sie leben, weiß ich; denn Ihren Tod würd' ich in den Kirchenblättern, die ich halte, erfahren haben. Wollen Sie mir das Versprechen geben, nach meinem Hingange, aber ich beschwöre Sie, ohne Kenntnißnahme des Fürsten! sich das Geheimniß jenes Bildes zu verschaffen und selbst zu prüfen, ob Egon diese Blätter lesen darf oder nicht? Ihnen entdeck' ich mich, weil ich weiß, daß Sie schweigen, wenn Sie zu schweigen gelobt haben, reden, wenn Sie zu reden gelobten. Sie werden aus diesen Blättern erkennen, warum ich Christus suchte. Halten Sie sie schädlich für Ihren Zögling, der nach Allem, was er über die Verläugnung seines Standes und den Entschluß, in Frankreich ewig als ein Arbeiter zu leben, schreibt, noch treu an Ihnen und Ihren Principien hält, so vernichten Sie sie! Lassen Sie dann meinen Sohn das Bild und nur – ich nehme Ihr heiliges Wort – mein Lieblingsbuch, den Thomas a Kempis, darin finden. Das ist meine Bitte! Eilen Sie, um jedem Misbrauch zuvorzukommen! Anliegend ein Wechsel für Ihre Reise, Ihre Bemühungen!«
»Wenn Sie mir schon in Ihrer umgehenden Antwort ein aufrichtiges: Ja! Ich vollziehe diesen Auftrag, zukommen lassen!.. bestimm' ich, wie Ihre Mühe noch ferner soll entschädigt werden. Eilen Sie! Einen Anfall wie den der verwichenen Nacht überleb' ich nicht. Viel duldend, aber freudig im Herrn Amanda Hohenberg.«
Diesen Brief, ergänzte Rudhard, als Siegbert erschüttert schwieg, erhielt ich erst nach einem halben Jahre und wußte an dem Datum und einer in Odessa gelesenen Zeitungsnotiz, daß sie schon einige Tage nach Absendung desselben gestorben war. Ich gestehe Ihnen, daß mein Eifer, dem Vertrauen der Sterbenden zu entsprechen, nicht groß war.
Sie waren in Odessa!
Der Entfernung wegen nicht. Die Donaudampfschiffe vermitteln das Schwarze Meer mit Deutschland... Die Summe, die die Fürstin anwies, war bedeutend...
Diese großartige Anerkennung auf dem Sterbebette! Sie fand in ihrem Gedächtniß keinen Redlicheren als Den, der ihre Ansichten nicht theilte, dem sie Übles gethan hatte...
Wohl! Aber es empörte mich wieder, daß sie gerade durch diese Analyse ihres Weges, wie sie zu Christus hätte kommen müssen, sich vor mir rechtfertigen, mich vielleicht in ihrem Sinne bekehren wollte. Ich sah die ganze Frau vor mir! Dieses Gemisch der freundlichsten Eigenschaften mit einer unglaublichen Menge eitler, unpraktischer, confuser Vorstellungen! Ich fühlte mich so erkältet durch diese Widersprüche von ihr selbst, die bis zum Rande des Grabes angedauert hatten, daß ich meiner Unentschlossenheit um so mehr nachgab, als ich von Egon gerade damals hörte, daß er die communistischen Thorheiten, die er getrieben hatte, aufgab, wol wieder Fürst war und zu einer wahrhaft verlorenen Seele, die mir die bittersten Schmerzen schon gekostet hat, zur Gräfin d'Azimont in eine jener Beziehungen trat, die sich die verwerfliche Moral der höheren Stände, wie das Reinste und Edelste erlaubt. Sagen Sie selbst, ob ich tadelnswerth handelte, indem ich den Ablauf des Jahres herankommen ließ, ohne mich zu eifrig zu bemühen?
Ich weiß nicht, entgegnete Siegbert, ob ich an Ihrer Stelle mich beruhigt hätte. Die Geständnisse der Fürstin waren hoffentlich nur für den Handwerker Egon bestimmt...
Rechnen Sie noch Dies, fuhr Rudhard fort, daß ich erfuhr, Egon's Vater hätte die ganze Einrichtung des Schlosses Hohenberg unter der Bedingung verkauft, daß von ihr nichts verändert würde bis zu seinem Tode, daß ich ferner aus den Nachrichten, die wir in Odessa über die d'Azimont hörten, wußte, Egon hätte nicht die Absicht jemals Paris zu verlassen. Fürst Wäsämskoi wollte eine Reise hierher unternehmen und auf diese spart' ich meine etwa noch mögliche Erfüllung der mir zugemutheten Verpflichtung auf. Der Fürst erkrankte aber auf einer Dienstreise und starb. Da bedenken Sie denn die Verwirrung, in die eine mir unendlich theure Familie gerieth! Bedenken Sie, wie ich alle meine schwindenden Kräfte zusammenraffen mußte, um diesen Verzweifelnden Stütze und Stab zu sein! Da gab es zu ordnen, zu rechnen, zu schreiben... Die Reise hieher und ein längerer Aufenthalt in dieser Stadt wurde der Kinder wegen beschlossen, die hier unterrichtet werden müssen, wenn etwas von tieferer Bildung in diese gutgearteten Seelen kommen soll. Aber es verzögerte sich von Monat zu Monat. Endlich komme ich hier an, höre von Egon's Anwesenheit, von Helene d'Azimont, daß sie seit einigen Tagen hier ist... Wir richteten uns vor dem Thore in einem dort durch die Gesandtschaft schon bereit gehaltenen Gartenlogis ein und...
Nun? sagte Siegbert gespannt, als Rudhard stockte.
Nun wollt' ich doch sehen, ob es noch möglich ist, eine vielleicht durch die Gunst des Schicksals selbst verschobene Sache wieder aufzunehmen. Ich besuchte soeben das Palais des Prinzen, höre von seiner Krankheit, lerne einen Franzosen kennen, der mir ein so lebhaftes Interesse für den Prinzen, für mich, den er als früheren Lehrer desselben schon kannte, zu besitzen schien, daß ich mich nicht scheute, ihn in das Geheimniß der Fürstin Amanda, so weit thunlich, einblicken zu lassen. Er sprach selbst von dem Bilde und nannte mir Sie und Ihren Bruder als die zufälligen gegenwärtigen Besitzer desselben, und da bin ich denn nun, um zu hören, was Sie selbst von allen diesen Dingen halten und was Sie beschlossen haben, wie es damit ferner geschehen soll.
Siegbert erhob sich, ging mit einigen entschlossenen Schritten in das Nebenzimmer und kam mit dem Bilde wieder.
Da ist das Bild! sagte er.
Rudhard angenehm überrascht, erkannte es sogleich als das der Fürstin in jungen Jahren.
Als er aber danach langen wollte, hielt Siegbert seine Hand darauf und Rudhard trat zurück.
Siegbert sprach nichts und doch lag in seinem Blicke die beredtsamste Vertheidigung seines Vorenthaltes...
Sie haben Recht, sagte Rudhard. Ich kann keine Ansprüche darauf machen. Auch nur der Anblick der Fürstin überrascht mich! Ich sehe die Spuren dieser eigenthümlichen Frau in meinem Gedächtnisse wieder wie lebendig auftauchen. Die Unglückliche kam schon krank nach Hohenberg und doch... das schwärmerische, schmerzlichblickende Auge rührt mich. Vergib mir, liebe Frau, ich habe einen recht bittern Groll gegen dich im Herzen gehabt, du hast mir viel Leides angethan, vergib mir, daß ich mich deinem Andenken nicht früher versöhnte und deine dargebotene Hand ergriff! Der Tod ist hart, aber er ist nicht die Grenze unseres Lebens. Er soll nicht Alles ausgleichen. Der Tod soll Charakter haben, wie das Leben. Wann der Tod jede That des Lebens auslöschte, stünde schon seit Jahrtausenden die Geschichte still!
Sie klagen sich an, Herr Rudhard, begann Siegbert, indem Sie sich rechtfertigen wollen! Nach meinem Gefühle haben Sie allerdings das Recht verwirkt, die in diesem Geheimniß enthaltenen Blätter zu lesen! Aber eben wie Sie eintraten fiel mein flüchtiger Blick in diese Papiere, deren ganze Geschichte ich erst von Ihnen erfahre, und ich fühlte, daß sie Schweres, Bedeutungsvolles enthalten. Der Geist der Fürstin Amanda ruft mir zu, daß diese Blätter ungelesen aufbewahrt bleiben sollten, bis Sie kamen... Ich würde Ihnen doch das Bild geben, wenn nur mein Bruder damit übereinstimmt!
Ihr Bruder? wiederholte Rudhard... Er bot Siegberten die Hand und betrachtete den jungen Mann voll Theilnahme. Er erkannte in ihm eine jener schwärmerischen Naturen, die ihm nicht ganz sympathisch waren, aber das Ehrenhafte, Würdevolle und Sanfte seiner Äußerungen gefiel ihm doch so außerordentlich, daß er eine wahre Liebe zu dem jungen Mann faßte.
Nun wohlan! sagte er. Lassen Sie es von Ihrem Bruder, dessen Ansprüche auf das Bild ich nicht kenne, abhängen! Der Prinz wird hoffentlich genesen. Ich durchfliege dann die Blätter und auf den ersten Blick werd' ich sehen, ob ihm diese Geständnisse einer bis über's Grab hinausgehenden Wahrheitsmanie oder die Bücher des Thomas a Kempis nützlicher sind. Zürnen Sie mir deswegen, daß ich die Bitte einer Sterbenden nicht sogleich erfüllte?
Ja! sagte Siegbert mit edler Offenherzigkeit, die Rudhard anerkennen mußte. Ich wäre nicht im Stande gewesen, eine solche Bitte unausgeführt zu lassen.
Werden Sie sechzig Jahre, mein junger Freund, antwortete Rudhard, indem er seinen Hut ergriff, sehen Sie erst, was Alles auf unser Urtheil, unsere Willenskraft mit Zumuthungen und Ansprüchen einstürmt und Sie werden zähe werden im Erfüllen, wie ich es bin! Dieses Schwunges der Phantasie, mich in Odessa von allem mir Theuren loszureißen und eine Grille verkehrter Menschen auszuführen, war ich nicht fähig. Verkehrt nenn' ich dich, arme Frau! Vergib mir auch dies Wort! Ich mochte nicht in deine Falle gehen, die noch nach funfzehnjähriger Trennung mir gelegt wurde, um mich zu bekehren! Denn Das ist es, lieber Wildungen! Was Sie auch auf flüchtigen Blick in diesen Papieren gefunden haben mögen, sie sind nur für mich berechnet, für meine Erleuchtung, für meine noch im Tode von der Proselytin des Glaubens versuchte Erschütterung der eingebildeten eigenen Vernunft!
Siegbert schwieg über diese wol zuweitgehende, aber charakteristische Vermuthung eines starren Rationalisten und schloß das Bild in einen Schrank der »Aula«.
Nach einigen Worten, die die neuen Bekannten über die Erklärung Dankmar's und den Ort des baldigen Wiederzusammentreffens gewechselt hatten, sagte Rudhard:
Woher stammen Sie denn eigentlich? Der Name Wildungen ist mir so geläufig! Er erinnert mich –
Vielleicht an meinen Vater? fiel Siegbert ein.
Wildungen! Wildungen! sagte Rudhard. Er war –
Pfarrer in Thaldüren und Angerode.
Studirte aber mit mir – glaub' ich..
Auf der Universität schwerlich, sagte Siegbert. Lebt' er noch, müßt' er erst ein Funfziger sein.
Wohl! Wohl! sagte Rudhard. Wildungen! Sieh! Es war mein Schüler... Sieh! sieh! mein Zeltgenosse, contubernalis von dem Stifte her, das uns bildete. Im schönen Saalthale bei Naumburg auf der Schulpforte wurden wir erzogen. Ich war Primaner und nach damaliger Sitte hatt' ich jüngere Knaben unter meiner Aufsicht. Wildungen! Ich entsinne mich, Otto Wildungen.
Otto Wildungen! bestätigte Siegbert bewegt.
Er war mein contubernalis, sagte Rudhard. Ich mochte sechs Jahre älter sein als der kleine Quartaner, der meiner Aufsicht anvertraut wurde. Ich hatte deren drei unter meiner Obhut. In meinem alten akademischen Stammbuch hab' ich von ihm einen Denkspruch. Als ich zur Universität ging, schrieb mir jeder der Kleinen etwas zur Erinnerung, natürlich etwas, was ich ihnen dictirte, lateinisch oder griechisch, anders verewigte man sich damals nicht in den Stammbüchern von Schulpforte, in mein Album.
Siegbert bezeugte eine große Neugier, dies Erinnerungsblättchen an die früheste Jugend seines Vaters zu lesen...
Und als er gar noch vernommen hatte, daß die beiden andern contubernales des Primaners Rudhard Rodewald und Gelbsattel geheißen hatten, wuchs seine Neugier in dem Grade, daß ihm Rudhard anbot, ihn doch nun gleich zu begleiten und sich die alte Reliquie anzusehen... Siegbert schlug es aus, da ihm doch die Sammlung fehlte, mit Jemandem, der nicht ganz auf sein Innerstes gestimmt war, jetzt zu lang' allein zu sein. Er ließ sich genau von Rudhard die Wohnung der Fürstin Wäsämskoi beschreiben und versprach, ihm schon morgen über Das, was sein Bruder wegen des Bildes beschließen würde, Bescheid zu geben.
Rudhard ging mit den Worten:
Ich freue mich nun doch, daß ich dem Triebe folgen mußte, Etwas zu thun, was die auf mich abgesehene Bekehrungsmethode der Fürstin Amanda erleichterte. Ich habe Sie kennen gelernt, einen Sohn meines kleinen Wildungen, der so sinnig und gut war! Und der ruht nun auch schon! Gelbsattel ist ein hochgestellter Papst unsrer Kirche, Rodewald, nach dem Sie mich fragen, scheint verschollen, ich verlor ihn ganz aus dem Gedächtniß. Er war der Jüngste von Allen, wild und störrisch, aber der Begabteste! Und Sie sind nun Einer von unsrer jungen Generation! Ein Maler! Neue Begriffe! Neue Lebensanschauungen! Auf eine Welt versetzt, in Zeitwirren, aus denen wir bald erlöst sein werden. Wir nämlich, die wir sie nicht mehr verstehen! Ich bin nur über Eins froh, daß die Menschen offner und gerader werden! Das ist noch das Beste von Dem, was uns diese Tage gebracht haben. Das Übermaß von Freimuth hat wenigstens das traurige Untermaß von früher, die Heuchelei und das Kriechen, entfernt. Im Übrigen find' ich mich nicht mehr in dieser Zeit zurecht...
Sie kommen freilich aus Rußland, sagte Siegbert lächelnd.
Aber nicht aus Sibirien, ergänzte Rudhard, schon die Thür ergreifend. In Odessa friert der Verstand nicht ein und wo man das große allmächtige Meer sieht, das der menschlichen Dämme und Satzungen spottet, da wird man niemals Sklave. Ja, ja! Des Meeres Anblick macht Alles gleich. Aber.. Aber.. es lehrt auch die ewige Grenze des Irdischen, es lehrt uns Demuth und Bescheidenheit. Der stolzeste Segler fährt zerschmettert an ein verstecktes Felsenriff. Die Menschen, die der Natur und ihren großen Weihestunden entrückt sind, bilden sich zuviel ein auf ihre Pygmäenkraft. Auf den Bergen wohnt die Freiheit! Hast Recht, edler Schiller! Aber am Meere wohnt die Beschränkung. Leider liegen Paris, Wien und Berlin weder auf Bergen, noch am Meere. Der Dünkel des Flachlandes beherrscht uns. Die Träumerei der nackten Erdscholle, die nur blauen Himmel um und über sich sieht, Die erfindet die Ideen, die jetzt die Welt erlösen sollen! Ich vertheidige Rußland nicht: ich achte die Menschenwürde. Aber ein Land, in dem man schweigen muß, lehrt uns denken. Da, wo man Alles sagen darf, denken die Menschen nicht mehr.
Mit diesen Worten trat Rudhard an die Stiege, bis zu deren Rande ihn Siegbert begleitet hatte.
Siegbert befand sich, als er wieder allein war, in einer eigenen Stimmung. Er hatte Merkwürdiges, Überraschendes erfahren, aber auch wieder eine Binde mehr vor den Augen. Diese Blätter, die er eben hatte lesen wollen, die ihn so fesselten, so reizten, schlossen sich nun wie ein heiliges Geheimniß... Er fiel in die Wehmuth über die Erfahrungen dieses Tages zurück... Der Schmerz um Melanie, um den Bruder, um Alles durchzuckte ihn.
Dankmar kam nicht. Bei jedem Geräusch hoffte er, der Bruder würde eintreten. Er blieb aus...
Siegbert fühlte das Leid des Bruders wie sein eignes. Beiden war eine lichte rosige Wolke entflohen! Beiden hatte derselbe Traum von Glück und Liebe gelächelt! Des Jünglings ringende Seele hat ja nur Eins, was ihn ganz erfüllen, ganz und voll ergreifen kann: die Liebe! Alles Andre, was sonst in sein Inneres drängt, ist ja noch unreif, unfertig und bedarf tausendfacher Bestätigung durch die Erfahrung und durch die unermeßliche Bücherwelt! Nur die Liebe bedarf keines Buches, sie liest die größten Schätze der Weisheit und der Wahrheit im Auge der Geliebten. Die Liebe bedarf keiner Prüfung, sie sieht nur und glaubt ja und vertraut. Die Liebe bedarf der Erfahrung nicht, denn sie liegt vom Anbeginn in unsrem Herzen!
Und diese Zauberkraft war Beiden plötzlich gelähmt! Gelähmt Beiden durch einen einzigen Schlag! Beiden war nichts geblieben als das Bewußtsein ihrer Unfertigkeit und vielleicht nie sich abschließenden Vollendung! Siegbert fühlte es an sich, was auch Dankmarn bewegen würde.
Er sucht, wie du jetzt, sagte er sich, die Fäden, die ihn in die alte gewohnte Auffassung seiner Mühen und Pflichten wieder zurückführen sollen! Er sucht, wie du jetzt, das in Kupfer verwandelte Gold seines Glückes in den Strom des Vergessens zu werfen und steht am Ufer vielleicht in Thränen dem schweren Falle nachhorchend! Er bittet die Bäume vielleicht auf einsamer Wanderung, ob sie ihm den Namen der Geliebten nicht mehr zurufen würden, um ihn zu quälen! Er bittet sie um mildernde Gedanken und Alles säuselt und rauscht doch vielleicht nur das alte süße, verlorne, erträumte Glück! Spare mir deinen Duft doch auf, du treuherzige, vertrauliche Blume, spar' ihn mir auf ein künftiges Glück, wenn ich es finde! Jetzt entlockt mir dein Gruß nur Thränen! Die Sprache, die du sprichst, darf ich ja nicht mehr verstehen.
So durchbebte es Siegbert von Mitleid um den Bruder – und um sich!
Ja, auch um sich! Gibt es denn nicht ein Mitleid auch um sich selbst?
Habt Ihr nie Thränen vergossen, träumte Siegbert, als er sich auf des Bruders hartes Sopha streckte, um Euch selber? Nie geweint um die bittern Schläge des Schicksals, die Euch trafen? Nicht, daß Ihr erlaget, daß Ihr unglücklich waret, schmerzte Euch so tief – Ihr hattet Kraft und Muth, das Widerwärtigste zu ertragen; aber daß es kam, daß es Euch gerade traf, daß Ihr es sein mußtet, denen das Füllhorn Fortunas immer und immer nur stachlichte Früchte zuwarf dies Mitleid mit Euch selbst war Euch rührender als das Unglück selbst. Lebensfrohe, hoffende, glückberechtigte Jugend, warum mußt du weinen? Stolzes, von Göttern geliebtes, riesenkräftig arbeitendes Genie, warum mußt du leiden? Edler, großer Wille, warum mußt du scheitern? Warum du? Warum du? Diese bittre Frage um Etwas, Das deine Kraft längst stolz beantwortet hat, Die ist es, die an deinem Herzen nagt und dein Gemüth verwundet!
... Siegbert war von seinem Kummer fortgerissen und so erfüllt von der Vorstellung, daß sein Bruder, der ihn erst um neun Uhr, bei jenem ihm plötzlich sonderbarerweise so nahe gerückten Fritz Hackert in der unheimlich alten, verrufenen Brandgasse sehen wollte, die Zeit bis dahin auf einer einsamen Wanderung vor den Thoren, im Parke, am Schloßteiche, in den Alleen, die zu den Dörfern führten, zubrächte, daß er sich aufraffte und ihn dort suchen wollte.
Es hatte sechs geschlagen. Die Sonne warf freundliche Lichter. Spaziergänger suchten wie er die Thore. Er flog nach der Gegend hin, die ihm die stillste und für den Kummer einladendste schien...
In einer halben Stunde war er unter jenen Gärten und Villen, die wir bei Gelegenheit der Wohnungsangabe Paulinen's von Harder kennen lernten. Hier gab es stille Plätze und enge Wege, die hinaus in's Feld führten. Kinder mit Kornblumenkränzen begegneten ihm. Liebende gaben sich hier hinter den Mauern der Gärten ihre unbelauschten Stelldicheins. Gelehrte setzten sich mit Büchern auf eine einsame Bank und schöpften freie Athemzüge in ihre gebückte Brust.
Hier siehst du, sagte sich Siegbert, den Bruder unter irgend einem Lindenbaum! Du kennst einen solchen, dicht am Eingang in die Kornfelder! Dort sitzt er gewiß und denkt: Warum ist Siegbert nicht bei dir und wir plaudern über das Leben, die Täuschungen der Herzen, das allgemeine Ziel der Menschheit und unser eigenes!
So nachdenkend, bemerkte Siegbert kaum, daß er in dieselbe Gegend kam, wo ihm Rudhard gesagt hatte, daß auch die Fürstin Wäsämskoi wohne...
Wie erstaunte er, als er an einem Spalier in einem kleinen Vorgarten plötzlich wieder denselben strengen Mann mit einem Buche lesend fand, umgeben aber von zwei wunderschönen Kindern, einem Knaben und einem Mädchen...
Bald spielte der rüstige Greis mit den Kindern, bald las er eine Stelle in seinem Buche.
Ein Teller voll Obst stand auf einem grünen Tische neben ihm. Die Kinder naschten und er stellte sich, als sähe er es nicht...
Wenn eins eine Kirsche ergriffen hatte, fuhr er mit der Hand nach den kleinen Dieben und diese freuten sich jubelnd ihn überlistet zu haben.
Siegbert, der Das so beobachtete, wollte erst an dem Stacket vorüber und wußte nun nicht, ob er sich nicht lieber zurückziehen sollte. Dem Besinnen über seinen Entschluß blieb aber nicht viel Zeit; denn Rudhard entdeckte ihn bei einer Wendung, die er, um die Kirschendiebe zu haschen, nehmen mußte. Er schien sehr angenehm überrascht, seinen eben verlassenen Bekannten schon wiederzufinden und lud Siegbert ein, jetzt nur gleich hereinzutreten.. Hier wohne er! Dies wären die jüngsten Kinder der Fürstin!
Siegberten war es, als wenn er zudringlich erscheinen könnte, als wenn man glauben müßte, er hätte absichtlich schon jetzt diese Gegend aufgesucht.. Er war in sichtlicher Verlegenheit.
Aber Rudhard blieb dabei, er müsse nun eintreten, sein Zimmer, seine Bücher, seine Sammlungen sehen.
Wir haben uns eingerichtet, sagte er, hier ein paar Jahre zu bleiben!
Wie er aber das fortgesetzte Sträuben Siegbert's durch die Worte zu widerlegen suchte: Und mein Stammbuch aus Schulpforte? Wie ist's damit? – da konnte Siegbert nicht widerstehen, sondern trat durch die Pforte zur Wohnung der Fürstin Wäsämskoi ein.
Die von Gußeisen gefertigte Thür dröhnte gewaltig, als sie hinter ihm durch ihre Wucht von selbst zufiel.