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Erstes Capitel.

Genesung.

Einem regnerischen, unfreundlichen Spätsommer folgte ein milder, klarer, sonniger Herbst.

Die Septembertage ersetzten, was man vom August gehofft hatte, gemäßigte Witterung, linde Tage, erquickende Nächte.

Es hatte gestürmt wie im April. Nun war es fast, als ginge noch einmal der Mai über die Erde und das kalte, steinerne Thor des Winters würde sich noch lange, lange nicht öffnen. Man führte nun doch noch die fast aufgegebenen Reisepläne aus, man flüchtete wieder auf's Land zurück, man begrüßte die Gärten, die sich durch all die Regenschauer nur erfrischt hatten und noch aus Florens Blumenhorne reiche, bunte Spenden boten.

Sechs Wochen nach den auf den voranstehenden Blättern geschilderten Ereignissen, an einem Morgen dieser holden Septembertage, schritt eine schlanke, männliche Gestalt, blaß und hinfällig, am Arme eines andern jungen Mannes, durch die Gänge eines kleinen Parkes, durch dessen hie und da schon gelbes Laubwerk die Sonne mit der ganzen Wärme jenes Strahles brannte, an dem in gesegneteren Gegenden, als die, wo wir uns befinden, die Traube auf den Bergen ihre letzte Glut und Reife empfängt.

Kein Lüftchen regte sich. Käfer, die im feuchten August erstarrt schienen, erhoben sich zu neuem Leben. Selbst noch ein dunkelfarbiger Schmetterling hüpfte von einer der vollen Blumenglocken der schlanken Malve zur andern; denn in einer Seitenbiegung kam man aus dem kleinen Parke in einen Blumengarten. Hier und da stand ein Obstbaum und verbreitete den vollen würzigen Duft der reifenden Äpfel, den milderen, weicheren von Birnen, ja an der Einfassungsmauer der ganzen Anlage blickte aus dem dunkeln großblätterigen Grün eines Rebenspaliers sogar manche Traube, die für eine Pflege und Wartung lohnen und danken wollte, die das Spalier in diesem Jahre nur spärlich empfangen zu haben schien.

Der am Arme des Andern langsam schleichende junge Mann deutete erschöpft auf eine verwitterte steinerne Bank, die an der Grenzscheide des Parkes und des Gartens stand.

Hier mochte lange kein ruhiger Freund der Natur, kein so dankbarer Anbeter der Herrlichkeit Gottes in stillergebener Betrachtung verweilt haben.

Die Bank von einer Steinlehne bequem begrenzt, mit einem in diese Lehne gehauenen Wappen im Rücken geziert, war verwittert, vom Regen zerbröckelt, Moos überschimmelte sie wie eine flache Felswand. In der den Rücken zierenden Krone und ihren durchbrochenen Henkeln, wenn man wie Richard II. bei Shakespeare die Krone einem Eimer vergleichen wollte, stand noch Wasser, das die Luft oder der Stein so rasch aufzusaugen nicht die Kraft gehabt hatte. Der Gefährte des blassen Spaziergängers war auf diese Unbequemlichkeit gerüstet. Er trug ein großes Polster, das er nicht der Länge nach, sondern so in die Quere auf die Steinbank legte, daß der Ermüdete sich auch zugleich durch eine weiche Rücklehne erfreut fand, als er erschöpft vom Arme des Gefährten abließ und auf das Polster niedersank.

Ah, Das thut wohl! sagte der Leidende. Das ist kein Gefühl des Schmerzes mehr in den schweren Gliedern; Das ist die Lust und Wonne der Genesung!

Und zu seinem Gefährten sich wendend, setzte er in französischer Sprache hinzu:

Aber Louis – der Stein ist kalt für dich und hart... Wir hätten das Kissen in die Länge legen sollen.

Damit wollte er aufstehen, stemmte sich schon an die Seitenlehne und hob sich mühsam in die Höhe.

Nein, nein, sagte der Andere in derselben fremden Sprache und hielt ihn nieder, während er sich neben ihn setzte; diese Steinbank ist für Gesunde, wie ich es bin. Ja und die kleine Erhöhung über uns, die Wappenkrone, ist ein Symbol, daß nun bald die Rücksichten der Gesellschaft an die Stelle der Freiheiten des Krankenzimmers treten werden. Laß es nur so!

Der Genesene ließ die großen, noch schweren Augen liebevoll auf seinem Gefährten ruhen, legte ihm die noch heißen Hände, in denen ein leises Zittern bebte, in die seinen und sagte, die blassen Lippen des schöngeformten Mundes mäßig öffnend:

O nie! Nie, mein Freund!

Sieh nur, betonte lebhafter der Andere, wie uns diese Krone auf der Rückwand trennt!

Es ist noch Regen in ihr, erwiderte der Leidende mit scherzender, aber mehr wehmüthig gemilderter Miene, sie schwimmt fort! Laß sie dahintanzen auf den Wellen des Lebens! Sinkt sie unter, ich lohnte dem Taucher nicht, der sie mir wiederbringt.

Sprich nicht zuviel, Egon! bemerkte sorgend der Gefährte. Genieße die linde Luft! Ziehe sie in deine Brust mit tiefem Athem ein! Sie wird dich stärken.

Egon gehorchte. Er war in jener gehorsamen Schwäche, die dem Genesenden so rührend steht... Der Kranke widerstrebt. Lange währt es, bis er sich den Anordnungen Derer fügt, die aus Liebe zu ihm streng sind. Endlich schwindet in seiner gebrochenen Kraft das Bewußtsein, die Macht des Widerstrebens läßt nach, er muß sich gefallen lassen, was besorgt mit ihm geschieht; denn er weiß nicht mehr, was die Welt um ihn her bedeutet, seine Sinne schwinden. Endlich aber bricht der Lichtstrahl des Bewußtseins wieder durch die Nacht des schon drohenden Todes, das Leben faßt mit starkem Arme den Wiedergewonnenen und drückt ihn an's Herz und der Genesende wird ein Kind, ein neugeborenes, schwaches, hülfloses Kind, gehorsam und ergeben, sanft und duldsam, wie umgewandelt, wie neuerschaffen, jedes Gebot vollziehend, jeder Weisung gehorchend und gerührt... über sich selbst!

Egon sah auf die Blumenbeete hinüber. Die Zeit der Rosen und Nelken war hin. Die Düfte hatten nicht mehr die süße Würze des Juli. Aber es waren noch Farben, die seinem Auge wohlthaten und durch allzu lebhaftes Colorit es nicht reizten. Er sog sich förmlich hinein in dies sichere, feste Leben der gesunden Natur. Jeder Luftzug berührte ihn wie die magische Gewalt eines Kusses, der alle Lebenskräfte des Menschen elastisch weckt. Die Sinne gewannen Kraft, das Gegenwärtige festzuhalten und von ihm auf die Vergangenheit zurück-, auf die Zukunft hinauszuschließen... Welch ein Chaos! Welche unbekannte Länder, über die erst allmälig wieder ein heimatliches Licht fällt! Was ist da Alles gewesen! Was hat man erlebt oder nur geträumt? Was ist Erinnerung, was nur Phantasie? Die Kräfte des Geistes halten diese Thätigkeit noch nicht aus. Ermattet sinken die Schwingen wieder nieder und es ist dem Gedanken, als müßt' er sich auf die Flügeldecken eines Käfers setzen und nur, um sich erhalten zu können, mit Käfern, nur mit Bienen so fortsummen, als gehörte man, ein Nichts, in's große Ganze und könnte nur leben im zitternden Sonnenstrahl.

Es ist mir so, Louis, sagte Egon, als hätt' ich eines Abends mit einem Kopfschmerz, der mir das Bewußtsein raubte, an jenem Fenster dort gestanden – er zeigte auf das Palais – und dich ein Lied singen hören als Frage, ob ich daheim wäre? Du wolltest mich begrüßen, wie in Lyon, wenn du von Paris kamst und ich aus Louison's Armen auffuhr, horchend dem fernen Liede und der wohlbekannten Stimme des Bruders! Oder war's nicht das Gondellied, das wir damals auf dem See von Enghien sangen?

Die muthwillige Barcarole! antwortete Louis Armand. Ich glaubte nicht, als ich mir die verborgene kleine Thür dort aufschloß, deine Gestalt erblickte, das Liedchen anstimmte, dich erkannte und zu dir hinaufsprang über die kleine versteckte Treppe, daß ich dich fast bewußtlos antreffen würde und Alles wecken mußte und die Hülfe grade der Menschen ansprechen, die du von dir entfernen wolltest...

Sind wir also wirklich doch in meiner Heimat? sagte Egon. Ja, ja, Das ist das Schloß meines Vaters – Das ist der Pavillon, über den ich gesprochen habe – wo? zu wem? O Gott... wie schwer das Erinnern, wenn man sich fürchtet vor dem Vergangenen! Louis, mir ist so schwach, daß ich noch am Grabe Louison's zu liegen glaube. Ich suche die Kreuze und Immortellenkränze des Cimetière Montmartre. Führe mich dahin! Es wird mir schwer dies Erinnern!

Mein geliebter Freund, sagte Louis Armand und faßte Egon's Hand. Beruhige dich! Die Todten ziehen Niemanden nach!... Sie gönnen uns das Glück dieser Erde, damit wir seine geringe Vollkommenheit erkennen und sehnsuchtsvoller einst dem Tode von selbst in's Auge blicken.

Sie ziehen uns nicht nach... wiederholte Egon und schwieg eine Weile. Dann fuhr er sich mit streichelnder Hand über sein leidendes edles Antlitz und hielt lächelnd einige Haare hin, die ihm dabei in der Hand geblieben waren.

Immer mehr, immer mehr! sagte er schmerzlich. Auf der Stirn sieht es herbstlicher aus als unter diesen Bäumen und Blumen. Sieh, wieviel Laub wieder in der Hand geblieben! Da! Noch mehr! Noch mehr! Ich sah mich gestern im Spiegel... Ich habe Mitleid mit mir selbst und könnte um mich weinen.

Ein Nervenfieber, sagte Louis, nimmt viel vom alten Menschen mit und gibt dafür einen neuen wieder. Selbst wenn deine Stirn so hochgewölbt bliebe, würde sie jetzt erst recht die Stirn eines Denkers scheinen. Allein die gütige Natur nimmt nur die Zeugen deines Leidens mit und gibt dir bald die Begleiter neuer Freuden.

Und wenn sie nicht kämen? fragte Egon lächelnd, doch besorgt um sein Äußeres, das man bisher schön genannt hatte...

Sie kommen, sie kommen! tröstete Louis. Freilich... wer weiß, ob Alle, die dich lieb haben, auch gerade die Stirn des Denkers an dir lieben.

Louis sprach diese Worte ernst und voll Kummer.

Egon seufzte. Er verstand sie wohl. Sie bezogen sich auf Helene d'Azimont, deren Charakter man nur halb würde begriffen haben, wenn man hätte glauben können, daß diese stürmische, liebeglühende Seele es ertragen hätte, so ganz von Egon's wiedererwachtem Bewußtsein ausgeschlossen zu bleiben...

In der ersten raschen Entwickelung der mit großer Regelmäßigkeit vorübergegangenen Krankheit hielten die vereinten Anstrengungen der Ärzte und des treuen Wächters Louis Armand Helene d'Azimont fern; bald aber, mit den ersten in das freiwillige gesellschaftliche Exil, das sie sich auferlegte, hereinbrechenden Hoffnungsstrahlen ruhte sie nicht länger und bot jede List, jede Berechnung auf, um sich Egon zu nähern, sogar sein Krankenbett zu erstürmen und sich die Sorge für sein Leben ausschließlich anzueignen. Das Letztere mislang ihr freilich. Louis hütete den Fieberkranken mit der Treue eines Hundes. Er schlief auf einer Matratze zu seinen Füßen, ließ nichts in Egon's Hände kommen, was nicht vorher von ihm untersucht war, und wurde darin von den strengern Ärzten unterstützt...

Drommeldey, der ärztliche Rathgeber der vornehmen Stände, hatte wol sonst eine mildere Ansicht. Man hatte auch Sorge getragen, ihn mit der d'Azimont sogleich bekannt zu machen; allein so rührend sie zu bitten verstand, bis zu einem gewissen Zeitraum, der seinen Anordnungen zufolge erst heute eintreten sollte, duldete auch Drommeldey keine Aufregung seines Patienten. So blieb Helenen nichts übrig, als sich jenem Rafflard anzuvertrauen, dessen Ankunft in dieser Stadt sie mit so vielem Misvergnügen bei Paulinen von Harder vernommen hatte... Wahrhaft erstaunt mußte sie sein, als dieser vertraute Freund ihrer Schwiegermutter sich ihr selbst näherte und ihr die innigste Theilnahme für ihr Leiden zu erkennen gab. Von einer Prüfung seiner Absichten war keine Rede; denn er nahm ihren Schmerz für vollkommen begründet hin und weinte selbst über ihre Thränen. Sie faßte zitternd seine Hand. Rafflard, der geheime Jesuit, küßte die ihrige und sogleich war er mit in das Complot gezogen, das ihre vereinten Geisteskräfte geschmiedet hatten, um Egon nun zuvörderst die Nähe der Geliebten zu verrathen. Rafflard bot ihr darin jeden Vorschub. Man bestach alle Diener des Hauses. Rafflard setzte sich vorzugsweise mit den Wandstabler's in Verbindung und so war denn bald einmal eine Blume auf die grünseidene Decke von Egon's Bett geworfen, die seine Gedanken verwirrte, bald ertönte in den entlegenen Zimmern des Palais der Klang einer Harfe, die Helene mit einiger Virtuosität zu spielen verstand. Egon erfuhr zuletzt von Louis Armand selbst die Anwesenheit jener schönen Frau, aus deren Armen er sich in diesem Frühjahr auf der reizenden Villa von Enghien gewaltsam losgerissen hatte. Er seufzte. Das Übermaß ihrer Liebe schien ihn nicht zu beglücken. Es kamen Briefe mit einer unverfänglichen, geschäftlichen Außenseite... man erbrach sie harmlos; sie waren von Helenen. Als sie die Überzeugung gewann, daß diese Briefe gelesen wurden, gab sie jeden Morgen ihrem Geliebten das Tagebuch ihrer Sehnsucht und Beobachtung des kalten steinernen Palastes, der ihr so grausam noch den Angebeteten entzog.

Ein solches Blatt überreichte Louis seinem Freunde auch heute.

Egon nahm es mit gelassener Miene. Er hielt das aus der Enveloppe genommene zierlich duftende Papier mit feinen Arabesken und der gemalten Krone und den silbernen Buchstaben H. d'A. lange in der Hand, ehe er sich entschließen konnte, es zu lesen.

Wenn ich dem Leben erhalten bleibe, sagte er nach einer Pause ernster Betrachtung, wie soll ich mich mit diesem Verhältnisse zurecht finden!

Geliebt zu werden, sagte Louis, ist wol nur dann eine Last, wenn man nicht wieder liebt.

Wie soll ich das Gefühl nennen, das mich an diese Frau fesselte! fuhr Egon fort. Seit dem Tage am See von Enghien, wo Louison ihren Tod, wenn er einmal beschlossen war, glücklicher gefunden hätte als nach meiner Untreue; welche Umwälzungen meines Innern! Ich floh, um meinen Erinnerungen zu entrinnen und sie überholen mich und lassen mich nicht wieder los. Das sind die Erinnyen der Fabel.

Man muß, sagte Louis mit Fassung und ohne die geringste Zurückhaltung zu Nutzen seiner eignen Ansprüche auf Egon, man muß den Lauf der Natur in seiner Bahn nicht unterbrechen. Mismuth über eine verkehrte Erziehungsmethode, die angedrohte Rache eines frühern Lehrers treibt dich von Genf abenteuerlich in die Welt hinaus...

Glaubst du, unterbrach ihn Egon, daß ich Rafflard's Bosheit fürchtete, der sich bei meinem zweiten Aufenthalte erinnerte, daß er wegen meiner und eines heimlich mir zugesteckten Casanova die Anstalt des Herrn Monnard verlassen mußte? Deshalb, weil ich ihn an der offnen Tafel des Syndicus Lhardy einen heimlichen Jesuiten genannt hatte, deshalb allein wäre mir der Aufenthalt in dem kleingeistigen, beschränkten, spießbürgerlichen Genf unerträglich geworden? Ach nein! Es war der Zug nach einem kräftigen Wettkampfe mit dem Schicksal, der mich auf die Wanderschaft, hinauf zu den blauen Höhen des Jura trieb..

Ich schließe mich auf der Landstraße, ergänzte Armand, dem Wanderer in der Blouse an, heimkehrend von einem Ankauf von Nußbaumhölzern in Poncin, und nehme dich als Zeltkameraden in meine bescheidene Hütte, wo meine Großältern, meine Ältern, Verwandte, erinnerungsreiche Menschen, eine Schwester mit mir leben! Du ergreifst die Axt, die Säge, ja führst sogar mit deiner zarten Hand den Hobel und ich glaube, daß du der Sohn eines Kaufmanns in Deutschland bist, verfolgt als politischer Verbrecher. Wie hab' ich dich, eingedenk meiner Großältern und ihrer Schicksale, verborgen gehalten! Wie gezittert, die feige Politik unsrer Regierungen würde dir eins der heiligsten Menschenrechte, das Recht des Asyls, versagen! Wie glücklich war ich, daß du wie wir die Einsamkeit liebtest, die kleinen Freuden der Armuth theiltest, so vollendet dich auf französische Sitte und Sprache verstandest, daß das argwöhnische Auge der Polizei dich nicht entdeckte und dich für einen Schweizer nahm...

Und dennoch...

Nein, nein, klage dich nicht an! Ich habe dich gehaßt, Egon, als Franz Rudhard, wie du dich nanntest, die Liebe meiner Schwester, seine eignen Schwüre vergessen hatte. Franz Rudhard, so standest du vor meinen Augen! Den rauhen Namen hattest du dir von deinem ersten Erzieher gegeben, den du liebtest..

Franz Rudhard! sagte Egon lächelnd, leise das gebeugte Haupt schüttelnd...

Louis, der mit den Gebrüdern Wildungen während seiner Wacht an dem Krankenlager nur in geringe Beziehung hatte kommen können, wußte wol kaum davon, daß Egon's alter Lehrer, von dem er in Lyon den Namen geborgt hatte, ihnen inzwischen wieder so nahe gerückt war.

Der Alte lebt noch in Odessa! fuhr Egon fort. Ich nahm diesen Namen, weil er in meiner Erinnerung mit einem stillen, häuslichen und bescheidenen Frieden der Familie im Zusammenhange stand. Als ich in euer Haus trat... der verfallene Thorweg... das niedrige Dach... die Blumenterrasse... die Ziege, die eben auf ein Bruchstück alter Römermauer geklettert war... und Louison, die ihr nachkletterte und sie mit keckem Griff an den Hörnern herunterlenkte... fort von ihren jungen Kürbissen und Melonen, die sie auf der Mauer pflegte und zog... der freundliche Gruß des Vaters, der im Hofe arbeitete... das prüfende mistrauische Grüßen der alten sarmatischen Großmutter, der Jagellona, einer gebildeten, noch aus Kosziuszko's Zeiten stammenden Polin.. sie thronte wie eine Zauberin unter dem Dache eines Feigenbaums, der eure Wohnung umwand, auf einer steinernen Erhöhung und klöppelte mit der alten Tante, einer Deutschen, ihrer Schwägerin, Teppiche... von dieser wunderbaren Familie ergriffen, gehalten von deiner Freundschaft, geblendet von Louison, nehm' ich für die Nacht vorlieb auf einem Sack von Maisstroh als Lager... es ist ein Sonnabend... am Sonntag begleit' ich Louison schon in die Kirche... Sie zeigt mir in der Frühe den Reliquienschrein der heiligen Märtyrer in der Kathedrale... am Abend holen die Nachbarinnen sie ab und wir wandern nach der Croix-Rousse auf die Chaumière... schon am zweiten Sonntag hatt' ich einen Blumenstrauß von ihrem Hut gewonnen... am dritten lohnte sie mich nicht mehr für meine Liebe, sondern nur noch für meinen Fleiß... wir müssen uns beherrschen, sagte sie, arbeiten, Glück verdienen... ich arbeitete, um den ersten Kuß zu verdienen... ich arbeitete, um drei Küsse zu verdienen... ich arbeitete...

Bis du sie ganz gewannst und sie ohne des Priesters Segen dein Weib war, fiel Louis ein.

Beide schwiegen erschüttert... Ein schwarzer verspäteter Schmetterling, den die Knaben am liebsten haschen, obgleich er der Trauermantel heißt, setzte sich eben auf das Papier in Egon's Hand.

Als der bunte Sommervogel zu den Blumen entschwebte, war es ihnen, als hätte sie die verwandelte Seele Louison's begrüßt...

Ich klage dich nicht mehr an, mein Freund, sagte Louis. Du hattest uns getäuscht, aber auch dich selbst. Schon als wir von Lyon zur Erweiterung unsres Geschäftes nach Paris zogen und von Jagellona, der Tante, ja den Ältern selbst die Grabeshügel zurücklassen mußten, war die Erkenntniß über dich gekommen, daß dir die Kraft fehlen würde, diese Rolle länger fortzuspielen...

Keine Rolle! rief Egon. Nie, nie hab' ich daran gedacht, daß ich jenen arkadischen Schäfern von Navarra nachahmen wollte, die sich in Schäfer nur verkleideten. Ich war so mit mir einig, als Franz Rudhard in Paris zu wirken, meinen deutschen Beziehungen zu entsagen, daß ich es der Mutter kurz vor ihrem Tode nach Hohenberg schrieb und für immer von meinem vergangenen Leben mich lossagte.

Eine Schwärmerei, sagte Armand, von der dich die Fahrt auf dem See von Enghien heilte! Jene weichen Arme der Liebe öffneten sich, für die du geboren bist! Damals, als ich noch glaubte, dein Name wäre Franz Rudhard, hätt' ich dich morden können, daß du die Schwester verließest, die dir Alles geopfert hatte. Sie hielt mich zurück, sie hoffte auf deine Wiederkehr. Sie hoffte, bis der Thau der Nächte ausblieb und die Blume keine Thränen mehr hatte. Sie verwelkte. Ich erhalte einen Auftrag für eine Villa in Enghien, ich soll zu einem Tempel der Freude und des Glückes den Schmuck, die Vergoldungen und Spiegel zaubern, ich komme in das Boudoir jener Frau, wo Louison einst in deinen Armen sich von dem Unglück einer Wasserfahrt erholte...

Schweige, Louis, schweige! rief Egon.

Und Louis, erschreckend über sich selbst, fiel rasch ein:

Vergebung! Vergebung! Was beginn' ich mit einem Kranken! Der Schmetterling auf diesem Papiere war das Bild der Versöhnung und ich hatte dir ja auch nur zu sagen, Egon, daß ich um Egon's willen Franz vergab. Schon als du uns verlassen hattest, ahnten wir deinen höhern gesellschaftlichen Ursprung, aber als ich auf dem frischgeschaufelten Grabe Louison's erfuhr, daß du ein Prinz bist, Sprößling eines vornehmen Hauses, daß du aus Liebe zu dieser Todten, aus Liebe zu dem bescheidenen Leben der Armuth, aus Hingebung an die große Sache der Arbeit, deinem Stande, deinen Titeln, allen Vortheilen deiner Geburt drei Jahre entsagen lernen, arbeiten konntest... o, Egon, und wenn die Grabeshügel der Ältern auf den Tod meiner Schwester erst gefolgt wären, statt daß sie ihr vorangegangen, wenn das Herz des zu seiner Sphäre zurückkehrenden Jünglings mir das Leben der eignen Geliebten geraubt hätte... wer weiß, ob ich nicht vergeben hätte um dieses heroischen Entschlusses willen, um eine That, so einzig und groß, daß ich alle eigenen Schmerzen vergaß und dein blieb, Egon, um der Sache des Volkes und der Menschheit willen!

Und ich verspreche dir, sagte Egon feierlich, daß diese von Patschouli duftende Verlockung – er zeigte dabei auf das noch ungelesene Papier – mich nicht aus der Bahn entfernen wird, auf der wir uns wieder begegneten und dein reines Herz meiner elenden Schwäche vergeben hat!

Geliebt zu werden ist süß! warf Louis ein, um die Selbstanklage Egon's zu mildern.

Ich sehe rathlos, fuhr Egon fort, auf die schmeichelnden Worte, die ich nun seit acht Tagen von dieser Unbesonnenen erhalte, die mir von dem Herzen Frankreichs hierher nachreist und an eine Trennung unserer Wege nicht zu denken scheint! Ich zittre vor dem Wiedersehen. Es ist etwas in mir, das mir sagt: Louison's Schatten verlangt die Sühne der Trennung von Helenen...

Nein, nein, fiel Louis ein, Louison's Schatten ist gesühnt durch unsere Versöhnung an ihrem Grabe. Hätte sie geahnt, was du ihr zum Opfer brachtest, wer weiß, ob die Vernunft nicht Trostgründe geboten hätte, die heilend wirkten. Man soll nicht Liebe von sich stoßen; nie! nie! Das Leben ist zu arm daran. Wenn ich nur nicht fürchten müßte...

Louis stockte und blickte zufällig auf den Pavillon...

Egon foderte ihn auf zu reden.

Lies diesen Brief! sagte Louis, um noch auszuweichen...

Egon entfaltete das duftende Papier und las, was ihm Helene d'Azimont mit ihrer zierlichen kleinen Hand geschrieben hatte.


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