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Vierzehntes Capitel.

Wahre innere Mission.

Als an demselben Tage Mittags Louise Eisold nach Hause gekommen war und sich in ihrem Hinterhofe auf der Brandgasse die steile Treppe an dem glatten Seile hinauf geleiert hatte, wenn man einen Ausdruck der Mägde am Brunnen auf die Erleichterung des Emporsteigens über eine so halsbrechende Treppe anwenden will, waren ihre Kleinen über den Ausgang, der doch eine Stunde gedauert hatte, ungeduldig genug geworden.

Das Jüngste, die kleine Johanna, wollte sich von Friederike und Heinrich nicht beschwichtigen lassen, und schon auf der Treppe, wo ihr eine Nachbarin, der sie die Aufsicht übertragen hatte, sagte, daß Alles gut stände, hörte Louise doch den kleinen Schreihals, den sie schon auf der Galerie durch laute Schmeichelworte beruhigte, ehe sie noch eintrat und das nach ihr verlangende Kind auf den Arm nahm.

Das einfache Mahl war schon früh Morgens zubereitet und stand bei der warmen Asche auf dem Feuerherd. Der Brei für das weinende Kind war bald gewärmt und mit hundert Liebkosungen und Schmeichelworten, mit hundert scherzenden Anklagen ihrer selbst, auf ihrem Schooße ihm dargereicht.

Als der letzte Löffel voll verspeist war, that es auf ein paar Strophen vom schwarzen und weißen Schäfchen die Äuglein zu und schlief ein.

Jetzt kamen Riekchen und Heinrich an die Reihe des Speisens. Der kleine Zweijährige lärmte auch und jammerte. Dem gab Louise es aber schon derber mit Anwendung der Strafrechtsprincipien nicht auf sich, sondern den Kleinen selbst. Aber Heinrich beruhigte sich erst, als er die Löffel klappern hörte und Riekchen das Salzfaß brachte, das Louise immer zu vergessen pflegte. Nun fehlten freilich noch Linchen und Wilhelm, aber auf diese kleinen Zeitungsträger war nie sicher zu rechnen. Oft blieben sie über Mittag ganz aus und halfen sich durch Brot und schlechten Kaffee, den sie sich dicht bei der Druckerei in einem Keller geben ließen. Karl, der Älteste, aß draußen in der Willing'schen Maschinenfabrik.

Als Louise gebetet, vorgelegt, Brot geschnitten, sich und die Ihrigen mit der einfachsten Kost gesättigt hatte, deckte sie wieder ab und besorgte die Wiederherstellung der Reinlichkeit in der Küche. Dann lüftete sie das Fenster, um den Eßgeruch zu vertreiben. Hannchen schlief, auch Heinrich streckte sich jeden Mittag noch etwas in dem alten Lehnstuhl des seligen Urgroßvaters. Riekchen hatte im Zimmer keine Geduld, sondern kletterte die Stiege hinunter und hüpfte in dem Hof und auf der Straße umher. Louise aber ging an ihren Stickrahmen und eilte sich, das Versäumte nachzuholen. Heute nach der Anregung durch Franziska, durch das Gedicht, durch die Erinnerung an Hackert ging die Arbeit ganz besonders flink. Und die Aussicht auf die Waldpartie am nächsten Sonntag machte ihr die Hände vollends noch einmal so rührsam.

Das äußere Leben armer Menschen, die fleißig sind, ist einfach. Eine Viertelstunde in Einem weg das Haupt gebeugt, immer den Rücken gekrümmt, dann einmal ein Blick durch die bleigefugten kleinen Fensterscheiben, ein Blick nur, ein ganz kurzer... Es gibt immer etwas zu sehen. Ein Spatz fliegt an's Fenster, ein Käfer brummt in den paar bescheidenen Lack- und Resedastöcken draußen auf einem seit langer Zeit verwitternden Blumengerüst. Drüben auf dem Dache klettert behend eine Katze und schleicht mit ihren sammetweichen Pfoten behutsam um den großen Hauslaufknollen herum, der unter einer Dachluke wild hervorgewachsen ist. Bei jedem Blicke, den sich Louise alle Viertelstunden einmal gönnte, blieb immer etwas haften, was sie von der wogenden unruhigen inneren Welt, die in ihr lebte, ein klein wenig tröstend und beschwichtigend abzog und sollt' es nur die Freude über den blauen Himmel sein. Die bösen Wölkchen, die sich von der Terrasse in Solitüde sehen ließen, brauchten lange Zeit, bis sie in dem kleinen Gevierte von Himmelsluft, das man von diesem Hinterhofe aus überschauen konnte, gesehen oder auch nur geahnt wurden.

Ein Besuch fand sich hier oben, seit der alte Urgroßvater in das große Kunstwerk der Weltenuhr blickte und keine irdischen Zeitmesser mehr zu regieren brauchte, selten ein. Bei Herrn Murray nebenan war es so still, wie es bei Hackert gewesen war. Schmelzing, der für Dichter, Schauspieler, Advokaten und die Polizei Copiaturen fertigte, war auch nicht mehr da. Der war oft verliebt zu ihr gekommen und hatte sie mit seinen Zärtlichkeiten belästigen wollen, ihr aber mit seinen Schreiberärmeln nur ihre Arbeiten »verwuschelt.« Einen Gast, der sich auch um die Mittagszeit zuweilen einfand, den grauen Herrn Bartusch, ließ sie kalt und um so spröder an, als sie in ihren spärlichen Finanzen Ordnung hielt und sich vor ihm nicht zu demüthigen brauchte. Gestern erst hatte sie ihm gesagt, er möchte sie mit seinen Besuchen, die immer mit soliden Dingen anfingen und mit versuchten garstigen Zumuthungen endeten, verschonen. Ja sie ging sogar in ihrer jeweiligen kleinen Malice so weit, dem alten unverbesserlichen und von seinem Temperamente wahrhaft geplagten Herrn zu sagen, sie wolle die Maler-Guste, die Frau Rathsdienerin Spieß und ähnliche Favoriten Seiner Gestrengen nicht auf sich eifersüchtig machen. Daß sie ihn bei alledem doch nicht ganz ungern kommen sah, lag darin, daß er Manches über Menschen plauderte, die ihr lieb und werth waren. Von Hackert hatte er ihr zu ihrem Schrecken erzählt, daß er wirklich beim Oberkommissair Pax arbeitete und vielleicht bald in einem »feurigen« Kragen am Rocke einherstolziren würde, was sein Haar nur noch angenehmer heben würde. Schmelzing unterstütze ihn. Wo Das hinaus solle, wisse noch kein Mensch. Erst vor einigen Tagen wäre er beim Justizrath mit einem fremden Prediger gewesen, der bei einer russischen Herrschaft lebe und hätte den Justizrath wie ein Staatsprokurator über eine alte Bildergeschichte förmlich zu Protokoll genommen. Über Melanie, Lasally, über den Proceß der jungen Thüringer, die er hier bei Hackert an jenem Abende getroffen, über alle diese Gegenstände der Tageschronik plauderte Bartusch bei Louisen immer so lange, bis er die Gelegenheit für günstig hielt, sich für seine unterhaltenden Mittheilungen eine Zuthunlichkeit erlauben zu dürfen. Damit kam er aber denn doch immer übel an, sodaß ihm Louise zur Erkenntlichkeit nicht einmal ihrerseits Rede stand, wenn er von Danebrand, von Murray, von der Auguste Ludmer, die sie nie genauer gekannt hatte, etwas wissen wollte. In der Äußerung, daß sie doch zu beklagen wäre, neben einem so zweideutigen Manne zu wohnen, wie dieser Engländer mit der schwarzen Binde wäre, mußte sie ihm Recht geben, fügte aber hinzu, daß er ihr noch keine Ursache zu irgend einem Verdachte gegeben. Dieser Sonderling wäre ein stiller, gedrückter Mann, der von Morgens bis Abends spazieren ginge, viel englische Bücher lese und sich im Zeichnen übe, das ihm, in Zeiten, wo ihm noch nicht die Hand gezittert hätte, sehr gut von Statten gegangen sein müsse.

Alle diese Gedankenreihen von gestern und heute durchfliegend, fiel Louisen in einem Glase, das auf der Commode im Eck stand, eine Karte auf.

Sie griff darnach und sah, daß es eine Visitenkarte war, die auf den Namen »Sylvester Rafflard« lautete.

Wo kommt diese Karte her? dachte sie.

Die Karte war so glatt, so frisch, so neu, als hätte sie Jemand eben erst abgegeben.

Sie wird für Murray sein! dachte sie und wollte ihrer »Riekele« rufen, falls die im Hofe war. Sie von der Straße zu rufen, war sehr umständlich und kostete Zeit.

Von der Galerie, dachte sie, werd' ich ja sehen.

Damit ging sie hinaus, die Karte zufällig in der Hand haltend.

Draußen beugte sie sich über die Brüstung der alten baufälligen Galerie, sah Riekchen nicht, hörte aber Jemand mühsam die Treppe heraufsteigen. Sie ging einige Schritte vorwärts und erblickte schon Murray's zerknitterten Hut. Ein großer goldener Siegelring an der weißen zarten Hand des Alten stach sonderbar gegen den Strick ab, an dem sich die zuerst sichtbare Hand hielt.

Ah! sagte der Alte, als er oben war. Das ist steil! Gesegnete Mahlzeit, mein liebes, gutes Kind! Ich weiß schon, was Sie in der Hand haben.

Ich war nicht daheim und finde die Karte. Galt der Besuch Ihnen, Herr Murray?

Das kleine Riekele hat mir's schon unten erzählt. Wer ist's denn –

Damit war er an seiner Thür, holte Athem, schob seine über einen Draht gezogene Taffetbinde etwas höher und las gegen das Tageslicht, das etwas spärlich auf die dunkle Galerie fiel, jene Karte.

Dabei fuhr er sich über die Stirn und hob die schwarze Perrücke etwas höher.

Wer ist Herr Sylvester Rafflard? sagte er, hielt sich aber mit diesem Forschen nicht auf, sondern schloß schon sein Zimmer auf; Nr. 68 mit den noch immer vergitterten Fenstern.

Kann ich Ihnen etwas helfen, Herr Murray? fragte Louise Eisold. Das Wasser wird nicht frisch sein? Sind Sie mit irgend etwas unzufrieden, so sagen Sie es nur!

Danke! Danke! Mein gutes Kind; antwortete der Alte, immer freundlich und mild. Aber die Miethe ist fällig.

O bitte, Herr Murray...

Nein, nein, Pünktlichkeit in Geld- und Liebessachen. Nicht wahr, liebes Fräulein?

Geben Sie mir nicht zu hohe Titel, Herr Murray! sagte Louise. Nennen Sie mich schlechtweg, wie ich heiße, Louise Eisold.

Darf ich denn Louischen sagen? fragte Murray, den Hut wegstellend und seine Handschuhe, die er schon ausgezogen hatte, hinlegend.

Wenn's Ihnen bequem ist, Herr Murray! plauderte Louise bei noch halb offener Thür.

Gut, Louischen, kommen Sie her, ich muß Ihnen die Miethe zahlen!

Dabei zog Murray eine Schublade, die er inzwischen aufgeschlossen hatte, ganz hervor. Sie war zu Louisens Erstaunen so schwer, daß er Mühe hatte, sie nur herauszubekommen.

Louise mochte nicht näher treten und über die gebückten Schultern des Alten hinwegsehen. Aber sie hätte schwören mögen, wenn sie näher träte, müßte sie nichts als große Geldrollen sehen, so wälzte sich Das in der Schublade, und es war ihr auch, als »klingte« etwas wie Gold. Um so auffallender aber der Contrast, als Murray nicht etwa eine große Geldrolle, sondern ein kleines ledernes Beutelchen hervorzog, es langsam öffnete und in lauter kleiner Scheidemünze zwei Thaler auf den Tisch mühsam zusammenzählte...

Louise zählte nach und fand die Summe richtig. Wie sie sich wandte, bemerkte sie fast erschreckend an den Eisenstäben draußen vor dem Galeriefenster einen inzwischen heraufgeschlichenen Besuch. Es war eine hohe, schlanke, weibliche Figur, die ihr nicht unbekannt schien. Indem sah sie auf Murray und bemerkte die plötzliche Überraschung durch jenes Frauenzimmer, das man nicht hatte kommen hören, auch bei ihm. Der Besuch blickte lachend durch die Fensterscheiben und das Gitter und schien neugierig zu forschen, ob sie nichts von den Schätzen des eben in Geldgeschäften begriffenen Alten entdecken konnte. Rasch stieß Murray die Commode zu und zog den Schlüssel ab.

Das Mädchen, das darüber in lautes Gelächter ausbrach und die Thür mit dem Fuße zurückstoßend eintrat, war Auguste Ludmer.

Das ist deine Spelunke, Alter! rief sie. Hier haust du jetzt und hast so schöne Nachbarschaft?

Louise erkannte nun vollkommen jenes Mädchen, das in diesen Häusern auf Nr. 17 gewohnt hatte und auf dem Fortunaball mit Murray verhaftet worden war. Betroffen wandte sie sich ab, strich ihr Geld mit der hohlen Hand ein und verließ, ohne ein Wort zu sprechen, das Zimmer. Selbst wenn sie es mit ihrer Würde für vereinbar hätte halten können, zu lauschen, würde sie sich nicht in der Küche länger verweilt haben; denn Murray, das sah sie wohl, öffnete das zweite Zimmer, das, früher, durch einen vorgeschobenen Schrank getrennt, Schmelzing bewohnt hatte, und ersuchte Auguste Ludmer dort einzutreten. Louise legte auf ihrem Zimmer die Miethe in ihre kleine Kasse, notirte sie in einem Büchelchen und setzte sich nieder zur Arbeit, tiefergriffen von dem Nachdenken über die Möglichkeit, wie es weibliche Wesen über sich vermögen, sich so tief sinken zu lassen wie jene Maler-Guste, deren Nähe ihr unheimlich war und den Alten mit seinem schweren Commodenkasten plötzlich wieder genug verdächtigte. Tugendhafte Frauen fliehen Gesunkene wie jene Auguste, aber sie denken viel über sie nach und suchen sie nach den ersten heftigsten Anklagen meist mit einem schmerzlichen Gefühl über das unsichere jammervolle Frauenloos im Allgemeinen tiefaufseufzend zu entschuldigen.

Da siehst du, Auguste, wie man dich flieht, begann Murray, als er mit dem noch immer lachenden wilden Besuch allein war und die Maler-Guste sich in Schmelzing's ehemaliger Klause umsah.

Papa, rief sie, und warf sich fast der Länge nach auf einen Stuhl hin, daß dieser knackte und wackelte, Papa, die geht auch lieber auf einen Ball, als Sonntag Nachmittags in die Spittelpredigt. Wir haben sie ja in der Fortuna gesehen.

Was bringt dich her, Louise? fragte Murray, nahm einen Stuhl und wollte sich ihr gegenüber setzen.

In quecksilberner Beweglichkeit sprang sie aber sogleich wieder auf und rief:

Erst, Alter, laß mich deinen Palast sehen, wo du deine Schätze vergräbst! Hierher, denkst du, steigen die Spitzbuben nicht nach? Drinnen die Eisenstangen, die haben dich wohl gelockt, oder unterhältst du dir das Mädchen, die sich eben die Hände wäscht von deinen schmuzigen Viergroschenstücken?

Ich gewöhne mich, siehst du, sagte Murray mit scharfer Betonung, an die angenehme Gelegenheit, hinter Schloß und Riegel zu kommen, wenn man sich mit dir öffentlich blicken läßt.

Papa hat Furcht gekriegt. Ha! Ha! Deshalb stand ich immer vergebens an meinem Theetopf in der Königsstraße und dachte, dein Alter kommt nicht...

Ich zu dir? erhob sich Murray ernster. Du weißt doch, was ich dir sagte, als man uns von Gerichtswegen gehen hieß und ermahnte, nunmehr anständig und sittlich zu leben? Ich suchte eine Wohnung für uns Beide. Diese war dir zu schlecht und eine bessere ist theurer...

Geizhals! Ha! Ha! Hier sollt' ich wohnen? Auguste Ludmer, die deine Brillanten trug, in diesem abscheulichen Loche? Heute ist schönes Wetter und hier ist's so dunkel, daß man die Hand kaum vor den Augen sieht...

Das machen die schönen Gardinen... Siehst du nicht?

Auguste lachte über diese ironischen Worte und zerrte an einem der roth- und weißgestreiften kattunenen Vorhänge.

Nein, Männchen, sagte sie, so haben wir nicht gewettet. Das sollte ein Bett sein? Das wäre ja um sich Beulen zu liegen...

Aber reinlich.

Kein Sopha –

Vier Stühle –

Kein Spiegel...

Murray mit einer eisernen Ruhe und Gelassenheit, seine zarten Hände sich in ihren Flächen reibend, als wollte er Brotkrumen drehen, immer lächelnd und mild, zeigte auf das Fenster.

Auguste nahm einen kleinen Handspiegel vom Fenster und tanzte, sich darin besehend, im Zimmer herum.

Ha! Ha! lachte sie. Der ist für dich! Für Leute, die nur ein Auge haben und ihre Perrücke nicht sehen mögen. Soll ich?

Sie warf ihn in die Höhe, spielte Fangball damit und drohte das kleine Glas zu zerbrechen.

Murray griff darnach und hing es wieder an das Fenster.

Was willst du, Auguste? fragte er dann mit großer Langmuth und Geduld.

Alter, sagte sie, setzte sich wieder und schlug dabei die Arme und die Beine übereinander, ich habe mich eben schwer geärgert. Ich habe Schulden und kein Geld, sie zu bezahlen. Gib mir Geld!

Murray schüttelte den Kopf.

Alter Geizhals, dein Kopfschütteln hilft dir heute nichts, rief sie, band den Hut ab und warf ihn auf das unbenutzte Bett des Schreibers Schmelzing und rüstete sich zu einer gründlichen Belagerung des Alten. Gib mir die Ringe, die Uhr, die Armbänder, die mir die Polizei abgenommen hat. Wo sind sie? Meine Kleider? Wo ist mein Barègekleid, das Linonkleid? Ich gehe heute nicht von der Stelle hier, bis ich meine Sachen habe.

Damit stampfte sie auf, stemmte beide Arme in die hohen gewölbten Hüften und gab ihrem in der That edelgeformten plastischen Kopfe den Ausdruck des widerwärtigsten Hohnes und Stolzes.

Murray erwiderte in aller Ruhe:

Da kannst du lange warten, mein Kind!

Murrkopf! antwortete Auguste, sich noch zähmend.

Bleib' dann nur lieber gleich hier! Sonst nicht! sagte die schwarze Binde.

Auguste färbte sich kirschroth. Sie warf die Arme auf den Rücken und trat mit einer so kecken Geberde auf Murray zu, daß dieser einen Augenblick, wie in seinen Nerven erschreckt, beweglich zuckte.

Auguste, ihren Vortheil wahrnehmend, rief:

Wirst du vernünftig sein oder...

Oder? wiederholte jetzt der Alte...

Oder – sagte das wilde Frauenzimmer und streckte beide Arme aus, als wollte sie den Alten an der Schulter fassen.

Da aber änderte sich die Stellung. Murray schien sich gefaßt zu haben und während die schönen muskulösen Arme des frechen Mädchens an seiner Schulter zerrten, zog Murray die Schulter in rascher Bewegung zurück und packte die beiden niederfallenden Arme des Mädchens mit einer kräftigen Wendung so an den Handgelenken und drückte diese mit furchtbarer Gewalt so einwärts, daß die Angreiferin mit einem unwillkürlichen Schrei sich bücken und lang vor ihm auf die Knie stürzen mußte.

Da ist dein Platz! sagte Murray zurücktretend, mit bebender und furchtbarer Stimme, und wenn ich mich nicht anders besinne, schließ' ich dich hier ein und lasse nicht Sonne, nicht Mond mehr auf dich scheinen, Elende!

Murray hatte in diesem Augenblick sich wie umgewandelt. Seine Arme verriethen eine jugendliche Kraft. Nichts mehr erinnerte an die Schwäche des Alters. Er schien wie gewachsen. Der gekrümmte Rücken streckte sich empor. Die Perrücke erhob sich und die schwarze Binde lag nicht mehr auf dem einen Auge, das eben so funkelte wie das andere und nicht den geringsten Fehler zu haben schien.

Auguste erhob sich langsam und ächzend und an ihren Handgelenken reibend, mit einer Scheu, als wenn ein Thier im Käfig plötzlich die Kraft der menschlichen Bändigung gefühlt hätte. Weniger die überraschende physische Kraft des Fremden, als der Blick seiner Augen war es, der sie zähmte. Verwünschungen murmelnd kehrte sie auf ihren hölzernen Sessel zurück und schwieg und stützte die Hand in den wie dreieckigen Schooß, der sich ihr mit dem einen übergeschlagenen Bein bildete.

Du bist so schön, Auguste, begann Murray jetzt ruhiger und setzte sich ihr gegenüber, mit Sanftmuth, wie versöhnt. Auguste, du hast kein schlechtes Herz. Wie würd' ich sonst gehofft haben, den Strahl eines reineren Bewußtseins in deine umnachtete Seele werfen zu können? Aber verwildert bist du und wirst in deinen falschen Begriffen, in dem Mangel aller Erziehung zu Grunde gehen! Haßt' ich nicht dieselben Menschen, die du hassest, ich würde nicht den kleinen Finger rühren, Mädchen, etwas für dich zu thun, weil ich an dem Erfolg doch verzweifeln müßte.

Auguste schwieg, dann warf sie die Lippen etwas auf, blinzelte mit den zugedrückten braunen Augen, schielte von der Seite und sagte schalkhaft und den Ernst des Augenblicks verwischend:

Pah! Gib mir lieber den Ring da an deinen verdammten Fingern, alter Junge! Das ist gar kein Herrenring. Den hast du irgend einer Dame gestohlen, als du noch jung warst und die Tugend nicht so schrecklich lieben mußtest, wie jetzt, Alter! Schenk' mir den Ring!

Damit hatte sie schon den Finger Murray's ergriffen.

Doch krümmte ihn dieser gleich wieder so gewandt, daß sie loslassen mußte.

Wetter! schrie sie und blies auf ihren gequetschten Finger.

Ich wiederhole dir, was ich dir schon einmal sagte, fuhr Murray fort, ich biete dir Glück und Freude drei Tage im Monat, in den übrigen Entbehrung; aber an meiner Seite... hier dies harte Lager, diese dunklen Fenster, diesen kleinen Spiegel, diesen Krug Wasser und an der Lampe dort Arbeit für mich, für dich, Arbeit an meiner und deiner Wäsche... sieh, ich könnte dir drinnen Leinwand zeigen, die ich schon kaufte für meine Hemden, auch für dich Baumwolle, wenn du stricken wolltest. Schäme dich, wie zerrissen sind die Strümpfe, die du trägst... schäme dich... nur die Handschuhe da an deiner Hand auszubessern bist du schon zu träge!

Auguste wurde über diese Rüge über und über roth und zornig. Die Regung der Scham aber rasch bekämpfend und wieder in ihren trotzigen Ton fallend, sagte sie:

Alter Narr! Was krächzst du da? Halte erst dein Wort, so werd' ich Nähterinnen haben! Es war nicht gesagt, daß ich dir die Geschenke zurückstellen sollte... Wo sind meine Sachen?

Ich behielt sie, sagte Murray, weil noch der dritte Tag deines Glückes fehlte, würde sie aber auch behalten haben am vierten Tage, wenn du nicht siebenundzwanzig Tage an meiner Seite, unter meiner Aufsicht, mit mir entbehrtest und mich erheitertest durch den Anblick deines Fleißes. Ich habe Bücher, ich würde dir vorlesen. Ich zeichne, ich verstehe manche Kunst in Wachs und Thon... ich wollte dich schon erfreuen, auch außer den drei Jubeltagen, die ich dir versprochen hatte.

Auguste schüttelte den Kopf und schob die Lippen wie zum sarkastischen Spott.

Hast mich also betrogen, Alter! sagte sie. Auch um das Bild, das du von mir wolltest malen lassen. Gib mir das Geld, das es kosten sollte. Hab' ich nicht Ansprüche darauf? Was kann denn ich dafür, daß sich dieser Pinsel von Maler in deine dumme Windbeutelei nicht einließ und das Bild nicht in einem Tage liefern wollte?

Warum nennen sie dich die Maler-Guste? fragte Murray. Warum drängtest du so um dein Bild? Es war nicht Eitelkeit allein. Du wolltest gemalt werden als du selbst, sagtest du, mit deinen Kleidern, deinen Ringen und Brochen, deinen Spitzen und deinem Shawl? Du wolltest, daß dein Name darunter geschrieben würde! Ich bot dreißig Louisdors für die Grille. Aber... in einem Tage. Sonst nicht! Oder wenn du mir deine siebenundzwanzig Tage der Entbehrung hier in diesem Zimmer schenkest, so bestimmen wir deine nächsten drei fetten Tage für das Bild... dann wird es schön. Willst du so? Bleib' da, Auguste! Laß deine Sachen holen! Ich hole sie selbst.

Auguste Ludmer gab keine Antwort. Starr brütete sie vor sich hin. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte:

Ich kann nicht mehr, Alter. Ich kann nicht mehr.

Und gleichsam als drückte sie der zu ernste Gedanke an Das, was Murray Alles anregte, rief sie polternd:

Gib Geld! Ich habe Schulden. Ich werde gequält, verfolgt, beschimpft. Und ich will nicht mehr so scheinen, wie ich war.

Wie du warst, Auguste? fragte Murray. Wie willst du nicht mehr scheinen? Warum nicht? Bist du weise geworden, ohne mich? Gott sei Dank, sage mir, daß du dich geändert hast, ohne mich!

Gäbst du mir dann auf der Stelle hundert Thaler?

Wenn ich Proben sähe...

Gäbst mir meine Kleider, meine Ringe?

Proben! Proben!

Nicht zwanzig... nicht zehn Thaler?

Nicht einen! Proben!

Murray! schrie Auguste jetzt und sprang wie ein wüthendes Thier auf, in ihrem Zorne nach etwas suchend, das sie an des Alten Schädel zertrümmern konnte. Sie sah den Wasserkrug...

Murray trat ihr aber entgegen, griff nach dem Wasserkrug, entriß ihr diesen in dem Augenblicke, wo sie schon nach ihm langen wollte, hielt ihn mit dem markigen Arme fest, hoch in die Höhe, so hoch, daß es fast schien, als wäre der Alte viel größer als die schlanke Buhlerin, und da sie ihn nicht ergreifen konnte oder sich vor seinen Augen fürchtete, sagte er ruhig:

Gib mir eine kleine Probe und geh' und hole mir in diesem Kruge frisches Wasser! Ich setze einen Thaler drauf.

Auguste weinte vor Wuth. Sie riß an ihrem dunklen, glänzenden Haare, das in den kunstvollsten Flechten aufgebunden war. Das war gewunden wie Spitzenarbeit und duftete und strahlte und von dem zornigen Wühlen der Hand ging dieser Schmuck nun auf und fiel in langen wie durchbrochenen sichelbreiten Flechten über den entblößten Nacken und die Brust, diese an ihr so schön geformten Theile, die aber schon etwas mager waren in Folge der unregelmäßigsten Lebensweise.

Murray betrachtete sie eine Weile, wie sie so erschöpft einer Magdalena gleich sich auf das schmale Bett warf. Er betrachtete sie voll Rührung und sagte nach einer Weile:

Wenn du mir folgen wolltest, würdest du wieder schön werden, Auguste!

Diese Bitterkeit verwundete sie tief, ohne sie zu reizen. Sie fühlte die Wahrheit der Bemerkung und schwieg.

Nach einer Weile blickte sie bittend auf und sagte mit schmeichelnder Stimme:

Murray, gib mir Geld! Gib mir meine neuen Kleider! Du weißt nicht, daß ich Geld und Kleider haben könnte, wenn ich so fortführe, wie ich gewesen bin. Ich will mich bessern, aber so nicht, so dumm nicht, wie du es vorhast!

Mein Kind, sagte Murray ernst, ich verkenne die Pein nicht, die dir meine Vorschläge machen. Ich habe aber erlebt, die gewöhnliche Art, wie sich die Menschen bessern sollen, mislingt fast immer. Der Wille allein thut's nicht, die Gelegenheit muß da sein. Die muß den Willen unterstützen. Ich bin ja ganz aufrichtig gegen dich! Ich bin ein Deutscher... ich habe lange in England gelebt... und nenne mich Murray... weil ich englische Sitten und Manieren angenommen habe und... meine Verwandten nicht wiedersehen mag... Ich habe dir gesagt, daß ich in meiner Jugend... unglücklich war... und ein Verbrechen beging... zu dem mich... Hochmuth... Dünkel... und die Gelegenheit... verleitete... ein Verbrechen, Auguste...

Ha! Sag' mir nichts weiter! Warum zittert Ihr? Ihr haltet ja die Hand da immer... Teufel, was soll Das? Geht weg! Greift doch nicht...

Auguste glaubte unter dem Rocke des Alten eine blitzende Waffe bemerkt zu haben.

Und Murray wußte kaum selbst, daß er während der wenigen Geständnisse, die er Augusten machte, schon vor Aufregung in die Rockbrusttasche gegriffen und ganz allmälig ein Terzerol in der Hand hatte, das er bei jeder neuen Thatsache, die er nun nicht mehr sicher bei sich in seinem Herzen wußte, immer mehr hervorzog. Wie er das Terzerol fast schon aus dem Brustlatz hervorblinken sah, besann er sich schmerzlichlächelnd, steckte es ruhig zurück und bot der erschrockenen Auguste die Hand zur Beruhigung.

Auguste, sagte er, du bist nicht ganz gesunken, dein Herz ist den bessern Empfindungen zugänglich. Als man uns an jenem grauenhaften Morgen auf der Fortuna ergriff und mich für verdächtig erklären wollte, weil ich dir glänzende Geschenke machte und selbst arm lebte, fürchtete ich, du würdest die schwache Stunde, die ich dir gegenüber mich beschleichen ließ, als ich in dir die Tochter meines Lebensretters, die Nichte jenes Weibes, das ich...

Murray stockte...

Sammelt Euch, Vater Murray! sagte Auguste weicher. Ei, habt Euch doch nicht! Ich werde Euch nicht unglücklich machen! Aber undankbar seid Ihr! Papa, komm... gib mir nun Geld!

Das Pistol, sagte er, dabei lächelnd, ist nicht für dich gewesen... es ist... vielleicht für mich!

Die Maler-Guste erschrak über dieses Wort. Ein Erschrecken bei solchen Naturen ist meist mit Zorn über die Ursache des Schrecks verbunden.

Ach was! sagte sie ärgerlich. Du hast da schon zehnmal auf mich angesetzt und drückst das Ding auch nur auf mich los, Satan, wenn du glaubst, dir den Kopf zu sprengen. Geh weg mit dem Ding, alter Heuchler! Genug jetzt!

Sie sprang auf. Sie wollte keine Rührung, keinen Edelmuth mehr.

Ist Das der Dank? sagte sie polternd. Ich hatte dich in der Hand, Alter! Der Oberkommissär setzte mir Daumschrauben. Ich sollte sagen, was ich von dir wüßte! Ob du wirklich ein Engländer wärest? Wo ich dich kennen gelernt hätte? Ich sagte: Geht! Damals als ich nach Hamburg wollte und mir einen Paß holte, da stand ja der Alte, der den seinigen visiren ließ und eine Aufenthaltskarte löste, neben mir und wie ich meinen Namen genannt hatte und die Herren Anstände nahmen und lauter Schändlichkeiten zu mir sagten und lachten und eine vertrauliche Sprache sich mit mir erlaubten und mich auf morgen beschieden, da folgte mir ja der Alte und knüpfte ein Gespräch an und fragte mich aus...

Da sagtest du, ich hätte dir verrathen, daß ich deine Ältern, deinen Vater, der Gefängnißwärter in Bielau war, kenne...

Wo würd' ich denn Das sagen? Pfui Papa!

Nun! Was sagtest du?

Ich sagte: du hättest mir deine Freundschaft angeboten, wie eben ein Alter einem jungen Mädchen seine Freundschaft anbieten kann; du wolltest mir Geschenke machen, aber manchmal müßt' ich wieder mit schlechten Zeiten vorlieb nehmen...

Hoho! Das war schlimm ausgedrückt, wenn auch gut gemeint, Kind! Das heißt doch bei Denen nur, daß ich ein Spitzbube bin, der zuweilen Glück, zuweilen Malheur hat.

Was ist es denn auch anders, Papa? lachte die Unverbesserliche. Du wirst mir doch nicht weismachen, daß hinter der ganzen Komödie, die du mir vorschlugst, was anders stecken kann als...

Pascherglück? sagte Murray und schüttelte den Kopf über die Halsstarrigkeit eines Menschen, der einmal nicht glauben will.

Nein, mein Kind, sagte er zitternd. Du bleibst hartnäckig in deinem Irrthum und wie oft sagt' ich dir...

Halte nur die Hand da fort!

Wie oft sagt' ich dir, als ich deinen Namen auf dem Paßbureau hörte, ergriff mich Freude. Ich komme vom Meere und du bist das erste Wesen, das mich an meine vielverworrene Vergangenheit erinnert! Wie weh that es mir, als ich an den Mienen der Schreiber sah, wie es mit deinem Rufe steht! Ich erkannte die Züge deines Vaters in dir wieder, dieses edlen Menschen, den ein rauher und jammervoller Lebensberuf nicht zum herzlosen Sklaven und thierischen gehorsamen Knechte fremder Willkür gemacht hatte. Er sollte mein Mörder sein und ward mein Lebensretter...

Zu seinem Unglück wol; denn ich entsinne mich als Kind, daß es ihm schlecht genug ging.

Ich glaube Das! Er hatte eine Weisung nicht befolgt, die dahin lautete, mich ohne einen Strick oder ein Messer, ohne einen Tropfen Blut zu ermorden...

Die Maler-Guste stutzte zu dieser Eröffnung. Diese Beziehung Murray's zu sich und ihren Ältern hatte sie nicht erwartet...

Ja, sagte Murray mit gedämpfter Stimme. Ich war ein Verbrecher, Auguste! Jugendlicher Leichtsinn ließ mich fehlen. Worin? Ich kann es dir nicht sagen. Ich beging etwas, was nach leichterer Auffassung vielleicht kein Verbrechen, vielleicht Keckheit, nur Leichtsinn und der Beweis einer großen Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit ist. Aber der Staat will sich schützen und nennt meine That ein Verbrechen. Ich verfiel einem Urtheil, das mich auf zwanzig Jahre in Schmach und Schande warf. Das ist: auf ewig! Ewig! Und doch war ich noch jung! Ich konnte hoffen, den Rest meines Lebens noch irgendwo jenseit des Meeres in Ehren, in geläuterter Buße, hinzubringen. Denn, Auguste... ich hatte ein Verbrechen begangen, das nur aus dem Hochmuthe kam. Aber es gab Menschen, die meinen Tod wünschten. Menschen, die mich geliebt hatten, weil ich nicht immer so gebückt schlich, Auguste, wie jetzt. Menschen, die mich geliebt hatten, weil ich Geist, Talent, weltliche Liebenswürdigkeiten aller Art besaß. Und da ich sie betrog – nein, was sag' ich – da sie sich selber betrogen hatten, haßten sie mich. Sie fürchteten meine Auferstehung von der Schande, meine Flucht, mein Ausbrechen aus dem Gefängniß, und wollten sich diesen Augenblick in der Zukunft sichern. Sie befahlen – sie hatten die Mittel dazu – sie befahlen, daß man mir einen gewissen Kerker in Bielau anwies, der so ungesund, so durchgiftet und verpestet war, daß man in kurzer Zeit dahinsiechen, vom Faulfieber verzehrt werden mußte. Neun Monate des Jahres stand in diesem Kerker das Wasser eines schmuzigen Flusses und Jeder, der nur einige von diesen Monaten in ihm zugebracht hatte, war dahingestorben. Ich wurde auf räthselhaften mir aber erklärlichen Befehl gerade in dies Verließ geschleppt. Nach drei Wochen schon, wo ich auf einem verfaulten Strohlager ruhen sollte, wo ich es, um es vor der aus den Wänden sickernden Feuchtigkeit zu schützen, bald hier-, bald dahin breitete, verfiel ich in Krankheit. Man brachte mich in einen gesunderen Gewahrsam. Ich genas, ich hoffte auf Abführung in eine entfernte, gemeinsame Strafanstalt. Aber nein, wieder der Befehl, mich in jenes unterirdische Gemäuer zu bringen, dessen einzige trockene Stelle eine Nische in der felsendicken Wand war. Warum man mich nicht in der Strafanstalt arbeiten, mich nicht unter die übrigen Gefangenen dieser kleinen Festung mich mischen ließ, war mir wohl begreiflich. Man wollte meinen Tod! Ich erzählte mein Leid deinem Vater, der Gefängnißschließer war, und Schaudern ergriff ihn, als er wohl einsah, daß es Menschen gab, die einen Entehrten, aber Reuevollen, tödten wollten, und er kannte diese Menschen mehr als Andre! Er wußte, was sie im Stande waren; er wußte, was sie ja von ihm selbst verlangten... Hieß doch dein Vater Ludmer! War er doch der Verwandte... Doch genug! Auguste! Dein Vater war besser als sein trauriges Amt. Er ließ mir, ob aus Menschenliebe, ob aus Zorn, daß er Ludmer hieß und nur Gefangene hüten mußte, weiß ich nicht, die Mittel, die Nische zu erweitern, zu durchbrechen, zu entfliehen. Er sah nicht, wollte nicht sehen, daß ich an meiner Befreiung in den Nächten arbeitete. Furchtbar stieg für mich die Gefahr. Denn der Kerker stand unter dem Spiegel des Flusses und nur die Nische lag höher. Ach, zuweilen bei hohem Wasserstande kam die Flut von draußen auch dieser Nische gleich und in einer stürmischen Frühlingsnacht, wo ich die letzten Steine wegrückte, brach der ganze Strahl des Wassers durch die glücklichgewonnene Öffnung! Erschöpft von der Arbeit, zum Tode erschreckt von der nun unmittelbar vor meinen Augen schwebenden Gefahr, sank ich nieder; furchtbar strömte die schmuzige Woge durch die Lücke der Mauer. Da stopfte sie sich durch irgend etwas draußen plötzlich von selbst. Ich langte hinaus, soweit ich über das Wasser noch sehen konnte. Ich faßte etwas Hölzernes, einen Gegenstand wie ein sich vorlegendes Bret. Aber das Bret ließ sich zurückdrücken, es schwankte. Es war ein Kahn, den dein Vater hatte herantreiben lassen, als wäre er etwa losgerissen durch die Frühlingsstürme. Freude und Furcht wirkten gleich entsetzlich auf mich. Denn wie, wenn ich durch die Öffnung hindurch gekommen wäre und hätte zwar den Kahn, aber nur in der Entfernung gesehen! Der Abfluß durch die Öffnung machte gerade, daß der Kahn zu mir herantrieb... Ich griff hinaus und drückte das eine Bord des Fahrzeuges fast schon mit letzter Anstrengung so herab zur Öffnung, daß eine Weile das Einströmen gestopft war. Dann hielt ich mit dem linken Arme mit Riesenanstrengung das Holz der Planke fest und erweiterte mit der rechten die Öffnung... immer mächtiger strömt das Wasser... aber die Öffnung wächst; endlich dränge ich mich durch die Ritze... sie ist weit genug die Schultern durchzulassen... schon bin ich mit dem Vorderkörper in dem Kahne, die beiden blutenden Hände langen nach der Weitung des Fahrzeuges, ich fasse mit letzter Anstrengung die gegenseitige Planke, liege halb über der Höhlung und drücke den Kahn in die Wogen nieder... aber nur mühsam zieh' ich den ohnmächtigen Körper durch die Mauer... die Hüften bleiben in der engen Öffnung stecken... ich brauchte eine halbe Stunde um neue Kraft zu schöpfen... dabei der Sturm, dabei das Brausen des Flusses, das Niederprasseln von Fensterscheiben, die in dem Wetter zertrümmern, das Rufen der Wachen und Ablösungen, das Schlagen der Uhren aus dem Städtchen unterwärts des Flusses, der verzweifelnde Blick auf das Morgengrauen... ach, ich dachte zu sterben, denn meine Kräfte drohten gänzlich zu schwinden. Da versuch' ich eine letzte erneuerte Anstrengung. Der Körper zwängt sich durch, ich sinke der Länge nach in den Boden des krampfhaft von mir festgehaltenen Kahnes, der, befreit vom herunterziehenden Druck meiner Hände, aufschnellt und mich in der Dunkelheit der Nacht von dannen führt. Ich schwamm dem Städtchen zu, gerieth unter eine Menge kleiner Schifferbarken, die festgebunden in dem Hafen des kleinen Flusses lagen... Ich war gerettet, durch Gott, aber auch durch den Verstand, den Vorschub, die Güte deines Vaters. Er hatte meine Arbeiten an der Nische wohl bemerkt, er hatte sie wohl verschwiegen; er hatte mich spitze Instrumente auf einzelnen Erholungsgängen finden lassen. Er hatte die Gefahr des Durchbruches überlegt. Deshalb der Kahn! Ich entfloh und konnte ihm nichts zurücklassen als die Gefahr der Strafe für ihn selbst. Ich schrieb ihm einige male von Amerika. Ich schickte Geld, erhielt aber nie eine Antwort. Wie wollt' ich ihm danken, jetzt nach meiner Rückkehr aus Amerika! Ich find' ihn todt, sein Weib todt, nur dich, sein Kind, find' ich wieder. Ich finde dich ohne Schutz, ohne Liebe, ohne Halt im Leben, gesunken, elend, Auguste...

Murray schwieg. Die Hörerin schien gerührt. Doch diese Stimmung währte bei dem abgestumpften Gefühle des Mädchens nicht lange. Bald sagte sie:

So könntet Ihr mir die Mittel geben, bester Murray, daß es mir gut ging. Euer Geld ist nie angekommen.

Nein, Auguste! sagte schmerzbewegt der von seiner Erzählung mehr als Auguste erschütterte Alte; was sind Mittel? Vergängliche kleine Schutzwehren! Womit hätt' ich die Bresche in der Mauer stopfen sollen, daß der Strom mich nicht überflutete! Einen rettenden Kahn trieb der Abfluß der Woge heran. Den packt' ich mit diesen Händen, an dem krallt' ich mich ein und von ihm wurd' ich fortgetragen. Denkst du denn, daß ich in Amerika mich dadurch geändert habe, daß ich auf meinen alten Wegen blieb und mir nur vornahm, nicht glänzend leben zu wollen? O, nein! Die alten Wege mußten ganz und für immer vermieden werden. Eine ganz neue Bahn nur sichert vor den alten Irrwegen. Wer hat die Macht, nach seinem Willen gut zu sein? Wer kann sagen: Ich bekämpfe, zähme, fasse mich! Wenige nur. Nur Die Menschen können's, die schon gut sind und nur noch ganz weise werden wollen. Aus Schwarz in Weiß übersetzen wir uns nicht! Und was ist Grau? Ein jämmerlich Mittelding!

Du glaubst, Murray, sagte Auguste, daß ich nicht mehr auf die Bälle gehe, nicht mehr Liebhaber annehme, nicht mehr Schulden mache und Champagner trinke, wenn ich mir drei Freudentage durch siebenundzwanzig Fastentage erkaufe?

Das glaub' ich...

Du willst durch die drei Tage mich nur reizen, daß ich mir die andern gefallen lasse?

Das dacht' ich...

Und diese drei Tage sollen die prächtigsten von der Welt sein?

Wie sie keine Tänzerin sich besser wünschen kann, Auguste...

Auguste schwieg eine Weile und schien sich den Vorschlag Murray's, den sie schon oft erwogen hatte, ja sogar schon einmal eingegangen war und beim ersten Neuheitsreize fast durchgeführt hätte, noch einmal zu überlegen. Sie sah sich das Zimmer an, das Bett, den Wasserkrug... dann aber schüttelte sie den Kopf und erklärte:

Bester, Das haben wir schon Alles gehabt! Hier in Nr. 17 dieses schändlichen Hauses wohnte ich ein paar Monate und wollte arbeiten... es ging nicht. Ein Alter, häßlich wie du, aber verliebter, besuchte mich und belog mich mit einer Menge Verheißungen, die er nicht wahr machte. Da brannt' ich hier durch und wollte nach Hamburg. Dann kamst du. Ich hörte dir gern zu, wenn du von der Besserung sprachst, du klimpertest dabei in der Tasche mit Geld und machtest mir Komplimente, wie ich sie nicht immer höre. Du wolltest meinem Vater dankbar sein. Der Vater ist früh gestorben, die Mutter nach ihm... ich hörte dich gern von ihm erzählen und die Tante, die mich erziehen sollte, haßtest du, wie ich... Da freut' ich mich, in ein Ohr, das geduldig zuhörte, mich recht austoben zu können. Ich ging auf deinen Vorschlag aus Zorn ein. Du weißt, wie er schon am Morgen des dritten Tages abgelaufen ist. Ich war erst wüthend auf dich. Ich wollte abwarten, daß du mir deine Geschenke wiederschicktest; sie kamen nicht, du ließest mich einladen, hierherzuziehen und unsere Abrede auszuführen. Ich lachte dich aus. Da ist denn etwas gekommen, was mich ganz von dir abzog... Ich war neulich bei der Tante...

Auguste stockte. Murray horchte.

Bei der Ludmer? sagte Murray, und man sah ihm an, wie ihn dieser Name entflammte.

Das Mädchen fuhr fort:

Eines Tages, vor drei Wochen, war ich bei der Tante...

Du sprachst zur Ludmer von mir, Auguste? Thatst du Das? rief Murray.

Ich spreche zu Niemanden etwas von Dingen, die mir als Geheimniß anvertraut sind, sagte Auguste nicht ohne Stolz.

Was thatest du bei der Tante? forschte Murray sich beruhigend.

Die Maler-Guste schwieg einen Augenblick, dann fing sie leiser und fast lächelnd an:

Höre mir zu, Alter! Ich will dir jetzt auch eine Geschichte erzählen. Es ist leicht möglich, daß du deine Absicht, meinen Ältern im Grabe eine Freude zu machen, indem du mich auf andere Wege führst, noch erreichst, aber hörst du, Alter, auf andere Art. Jetzt paß Acht!

Ich lerne gern. Ich weiß, Gott hat viele Wege, uns zu bessern. Sprich! sagte Murray, und sein Auge leuchtete mild und voll Hoffnung.

Wie mein Vater starb, erzählte Auguste, und bald nach ihm, wie wir von der Festung hierherzogen, meine Mutter, war ich eine Waise von etwa sechs Jahren. Die Leute, die mich weinen sahen, erkundigten sich nach meinen Angehörigen und sie erfuhren denn, daß ich eine Tante hatte, die Schwester meines Vaters, der seinen Dienst der Gnade verdankte, daß diese stolze, vornehm gewordene Person sich einmal seiner erinnerte. Es war die einzige gewesen. Später aber kam eine Zeit, wo sie besonders wieder freundlich und zuthunlich sein sollte...

Die Zeit meiner Gefangenschaft...

Dann zog sie aber wieder ihre Hand zurück...

Die Zeit meiner Flucht!

Hier, als ich Vater und Mutter verloren hatte, sträubte sie sich mit Gewalt dagegen, etwas für mich zu thun. Ein altes Kleid gab sie zuweilen her, das für mich verschnitten wurde. Eine halbe Bettlerin bekam mich in Obhut und Pflege und erhielt dafür nicht mehr als ein Almosen.

Wie hieß diese Frau?

Ah, wir nannten sie nur die alte Lene. Sie ging bei der reichen Frau von Harder ab und zu, bettelte, trödelte.

Murray schien auf einen Namen gewartet zu haben, der offenbar nicht mit der alten Lene übereinstimmte.

Auguste fuhr fort:

Der Lene gaben sie mich mit wie einen alten ausgetretenen Schuh. Sie sollte sehen, was aus mir noch zurechtzuflicken war. Wenn ich klagte, daß ich hungerte, wenn ich zur Tante lief und weinte, tröstete sie mich, sie würde mich noch einmal an einen schönen Ort schicken, in einen grünen Wald, zu einem Förster und einer andern Tante, die sie immer... o wie nannte sie sie?

Ursula? rief Murray und legte die Binde höher auf die Stirn.

Ursula Marzahn! sagte Auguste selbst erstaunt, daß ihr der Name einfiel.

Ursula Marzahn? Und du kamst dorthin? In den Wald? In welchen Wald?

Was weiß ich! Welcher Wald!... Der Mann der Ursula starb, sie sollte wieder heirathen und der Mann, den sie wollte, mochte sie nicht...

Sie mußte damals schon den Funfzigen nahe sein.

Ich kenne sie nicht.

Du kennst sie nicht... Nun... Fahre fort!

Ich will in das Jägerhaus, sagt' ich oft, wenn die alte Lene mich geschlagen hatte und zum Betteln zwang. Die Tante gab mir dann wol einen Groschen, ließ mich aber wieder laufen und sorgte nicht für mich. Einstmals, als man mich aufgegriffen hatte, weil ich, als nun schon zwölfjähriges Kind, mit Schwefelhölzern hausiren ging und Auskunft über Die geben sollte, für die ich auf den Straßen und in den Häusern so zudringlich bettelte und die alte Lene genannt hatte, wurde diese festgesetzt. Sie hatte eine förmliche Gesellschaft von Kindern abgerichtet, die alle für ihre Rechnung Schwefelhölzer, Band oder Blumen verkaufen mußten. Jeden Abend um neun Uhr kamen die Kinder in ihre einsame Lehmhütte vor'm Thore, fast im Felde, wo sie wohnte, brachten ihr das eingenommene Geld, empfingen einen kleinen Antheil und bekamen neue Waare. Wer des Tags nichts eingenommen hatte, bekam keine Vorräthe mehr. Wer Geld unterschlagen hatte, wurde von ihr mit einem Besen gestäupt und jämmerlich geschlagen. Sie wohnte so einsam, daß die Nachbarn das Geschrei nicht hören konnten, wenn wir oft wohl an zwanzig Kinder, die da- und dorthin gehörten, mit unseren Körben standen und ihr beim Scheine einer alten Laterne Nachts im Lehmhofe unsre Pfennige vorzählten. Wie zitterten wir vor der Alten, wenn unsere Ernte nicht reich war, oder wir uns hatten beigehen lassen, etwas zu naschen! Sie wurde aber nun eingesteckt, die Kinder, die sie misbraucht hatte, wurden der schärfern Sorgfalt ihrer Angehörigen, wenn sich welche finden ließen, anempfohlen; ich der Tante Ludmer. Diese vor Zorn, daß ich ihr ein polizeiliches Gerede gemacht hatte, schickte mich, da der Herr von Harder Geheimrath und Aufseher aller königlichen Gärten geworden war, nach Solitüde, wo ich beim Gärtner arbeiten sollte. Eine Zeitlang gefiel mir's da recht wohl. Ich bekam doch zu essen! Ich wurde größer, stärker und entwickelte mich. Vom Lernen war keine Rede und Gott sei's geklagt, ich kann kaum meinen Namen schreiben, Alter!

Könnt' ich dir etwas von meiner schönen Handschrift abgeben! sagte Murray und zeigte auf ein Papier, wo er Einiges notirt hatte, was Auguste nicht verstand, auch in ihrer Aufregung nicht erkannt hätte, wenn sie überhaupt lesen konnte.

Ja, sagte Auguste, du bist ein Tausendkünstler. Und gewiß hast du auch einmal deshalb sitzen sollen, weil du falsche Wechsel machtest? Was?

Etwas Ähnliches, mein Kind! sagte Murray ernst.

Bei dem Schloßgärtner, fuhr Auguste fort, blieb ich zwei Jahre. Er trieb auch Landwesen. Das gefiel mir Alles recht wohl. Ich kann es sagen, daß ich in ein solches Geschäft Lust und Geschick habe. Schon auf den Wald, von dem die Tante immer sprach, hatt' ich mich gefreut! Ich kannte das grüne Feld nur von den Schlägen her, die wir draußen in der Lehmhütte der alten Lene bekamen, Gärten nur von den zusammengemausten Blumen, die wir verkauften. An Solitüde denk' ich gern zurück. Ich war zwei Jahre draußen, freilich nur als gemeine Magd, die das Heu zu mähen, die Kühe zu melken hatte. Auch die Milch trug' ich in die Stadt, wenn eine ältere Magd krank war. Um diese Magd kam ich fort. Sie behauptete, ich hätte genascht und gestohlen, und ich weiß es nicht, ob es wahr ist. Das Naschen glaub' ich wohl, das Stehlen war aber doch sonst meine Sache nicht, und das Lügen ganz und gar nicht. Genascht, Alter? Ja, ja, sie mag Recht haben. Aber am meisten haßte sie mich, weil ich so allmälig bei guter Kost und tüchtiger Arbeit ein schönes Ding geworden war und allen Männern gefiel. Die Bursche stellten mir schon von dreizehn Jahren nach und einige hatt' ich schon freßlieb. Aber curios! Die ganz jungen mocht' ich nicht. Ich war ein Ding von vierzehn Jahren, als ein Inspektor Namens Mangold auf Solitüde kam und den ganzen Park wie neu umpflanzte. Da wurden Bäume gesägt, Wiesen ausgeschnitten, das Wasser wurde anders geleitet und eine Menge Menschen fanden dabei ihr Unterkommen. Der Gefälligste und Artigste war aber der Inspektor Mangold selbst. Der war nicht mehr ganz jung, aber artig, höflich und ich kann dir nicht sagen, Alter, was Höflichkeit auf mich wirkt. Ich habe die schönsten und vornehmsten Jungen später nicht gemocht, weil sie zu mir kamen, sich auf mein Sopha flegelten, betrunken waren und mich dutzten. Ein schüchterner, manierlicher Mensch aber thut mir's gleich an und wenn er auch arm ist. Der Gärtner und alle seine Gehülfen waren grob und derb, Mangold nicht, und in den waren auch alle Mädchen verliebt, am meisten aber die Magd, die der Gärtner zur Haushälterin und Wirthschafterin genommen hatte. Die paßte mir auf! Die verhetzte mich! Denn ich verrieth mich gleich und sagte ganz laut: Den Inspektor nähm' ich, wenn er auch zehnmal einen rothen Bart hat und ich nähm' ihn auch ohne lang Heirathen... Ich muß lachen...

Über die früh entwickelte Großmuth deines Herzens? sagte Murray bitter lächelnd.

Das sollst du gleich hören, Papa! Damals kam mir der Inspektor schön wie ein Bild vor. Ich verehrte ihn und hätte ihm eigentlich blos mögen immer die Hand küssen. Und weil ich Das einmal sagte und er, als ich ein paar Blumenstöcke richtig gebunden hatte und auf dem Grase kniete, mir auf die zufällig nackten Schultern hinten klopfte und die Wirthschafterin sah's am Fenster, da mußt' ich fort. Ach, was hab' ich geweint! Es half nichts... Ich kam in eine Fabrik, wo ich zur Predigerlehre angehalten und confirmirt wurde. Die Arbeit in der staubigen Fabrik – man machte wollene Decken und haarige Filze – konnt' ich nicht ertragen. Meine Brust war so an frische Luft gewöhnt... Ich war auch durch die Feldarbeit schwer in den Gliedern, träge und träumte viel. Die Mädchen, die mit mir arbeiteten, erzählten nichts als Possen und Lüderlichkeit. Alter, da wurd' ich schlimm! Nicht in Wirklichkeit, sondern in Gedanken! In Gedanken küßt' ich jeden Mann, den ich sah und der mir gefiel. Wenn ich schlief, so küßt' ich das Kopfkissen und drückt' es, weil ich dachte: das ist Der oder Der! Mit der Fabrik war's nichts! So kam ich in einen Dienst bei einem berühmten Maler. Ich nahm diesen Dienst lieber als andere, weil das Haus dieses Malers – er heißt Berg – in den schönsten neuen Straßen, unter Gärten und Blumen liegt und ganz herrliche Bäume in der Nähe hat. Da fand ich aber meinen Untergang, Papa! Ein schöner junger Mann sah mich immer so verliebt, so scharf und schmachtend an, daß ich ihn selber hätte verzehren mögen. Er lernte die Malerei bei meiner Herrschaft. Der junge schöne Maler hieß Heinrichson... ach, Alter, ich sage nichts mehr. Es lag mir schon in den Augen. Die hatten so einen Zug, so eine Sucht... Die Blume wollte an die Luft und die Teufelsbilder und das schöne Haus und der Garten und die jungen Männer und mein Blut, alle hatten mir's angethan und ich lag dem schönen Manne im Arm so unversehens wie Einer fällt und nicht weiß, wie er auf die Erde kommt. Das muß so mit den Schlangen sein, denen die Thiere in den Rachen laufen, als wenn es zur Hochzeit ginge! Ich sah und hörte nun, daß es Frauen gab, die sich entschlossen, den Malern für ihre Bilder, wie sie gewachsen sind, zu sitzen. Wie ich Das hörte, Alter, überlief's mich siedendheiß. Der Professor, ein guter Herr, sah mich auch oft so sonderbar an, als wollt' er sagen: dich hat Gott zu etwas Anderem erschaffen, als mir hier die Stube zu kehren und den Ofen einzuheizen! Aber der Meister sagte mir nie etwas von meinem Wuchs. Nur die Schüler und Heinrichson verlockten mich. Aber von den Andern mocht' ich's nicht hören. Ich schämte mich und lief fort, wenn sie davon anfingen, ich sollte ihnen sitzen. Da lockte mich aber Heinrichson einmal auf sein Zimmer... die Schlange!

Rege dich nicht auf, Auguste! sagte Murray zu dem Mädchen, das zu zittern anfing...

In Gedanken, fuhr sie fort, in Gedanken war ich längst gefallen. Seit ich an die Maler dachte, die ihre Bilder nach wirklichen Menschen malen, war mir's am hellen Tage, wo ich ging und stand, als hätt' ich keine Kleider mehr an. Ich wurde roth und wußte nicht worüber. Ich bedeckte mich bis zum Hals und kam mir vor, als müßt' ich mich schämen. Ich sah mich immer, wie mir Heinrichson einmal zugeflüstert hatte, wie er mich so wunderschön malen wolle. Was soll ich sagen? Ich gab ihm doch erst meine Liebe und dann erst meine Scham und Tugend... Ach, Alter, Das ist ein Teufel!

Er wollte nur deine Schönheit, war herzlos, nachdem er sie gewonnen hatte?

Alter, dem Heinrichson, so toll ich ihn liebte, dem hätt' ich später manchmal das Herz aus der Brust reißen mögen; aber er hat kein Herz! Er nahm mich vom Professor weg, miethete mir eine Wohnung, besuchte mich täglich, zeichnete, malte mich...

Nicht allein, Auguste? Es kamen Freunde mit ihm... ihr schwärmtet, ihr tranket...

Ja! Ja! Murray! Aber das Kind war von ihm...

Welches Kind? fragte Murray erschrocken.

Es ist todt, sagte Auguste dumpf. Es starb zu rechter Zeit. Als Heinrichson von mir eine Mappe voll Zeichnungen und ich von ihm das Kind unter'm Herzen hatte, verließ er mich... nein, Murray, ich war nicht untreu. Er, er schickte nur die Freunde, die mich zeichnen sollten! Er wollte, daß ich Allen gehörte, gemeinsam war... wie ein Soldat, ein Kunstreiter, ein Trödler mit einem langen Bart, wo sie zusammenschießen und Jeder für seinen Thaler ihm ein Stück vom Leibe abzeichnet. Als ich aber das Kind trug, Alter, so nützte ich Keinem... Ha, ha, da war ich die Venus nicht mehr, um die sie einen rothen Purpurmantel schlugen und als ich Mutter war... hieß es... meine Schönheit hätte den Rest gekriegt...

Auguste schluchzte... Ihre Erzählung erstickte ihre Thränen.

Murray schonte ihren Kummer, so sehr er sich auch nur auf das Gefühl der verletzten Eitelkeit zu stützen schien.

Das Kind starb... sagte er weich und theilnehmend.

Ha, rief Auguste, aber die Mutter wollte leben, leben, aus Rache um diesen Vater leben! Sie lebte auf! Sie fluchte dem Elenden, der gesagt hatte: Deine Formen nehmen ab! Er nur hatt' es gesagt, weil er zu viel Andere lieben mußte und sich nicht theilen konnte. Er nur, der heute bei einer Vornehmen, morgen bei einem Bürgermädchen ein Rendezvous hatte! Der Elende! Sein Kind war todt, aber die Mutter lebte!

Lebte! rief Murray. Nennst du Das Leben, daß du nun einen geistigen Tod starbst? Nennst du Das im Sonnenstrahl aufblühen, daß du nun ein Kind der Nacht wurdest? Den Sonnenstrahl fliehst du, wie er dich auch aufsuchen möge, um dir in's Antlitz zu leuchten und dich an Besinnung und Umkehr zu mahnen! Kehre um, Auguste! Noch stehst du nicht so tief auf der Leiter, die hinunter in den Abgrund führt, daß es sich nicht noch lohnen sollte, wenn du deine letzte sittliche Kraft zusammennähmest und wieder aufwärts stiegest!

Auguste schwieg. Der Gedanke an ihr Kind, an den Anfang ihrer Irrgänge, an Heinrichson hatte sie zu heftig erschüttert. Sie stieß sich den alten Tisch, der in ihrer Nähe stand, mit dem Fuße heran und stützte den Kopf auf, dessen zierlicher, wie zur Festesfreude aufgebundener Haarschmuck in einem seltsamen Abstich war gegen ihre plötzlich leidenden und schlaffen Züge...

Nach einer Weile fuhr sie fort:

Papa, höre, ob sich vielleicht noch etwas aus mir machen läßt!

Sprich, Auguste! antwortete Murray voll aufmerkender Theilnahme...

Die Tante hat in meinem Elend nichts mehr für mich gethan, sagte Auguste. Wie oft fleht' ich sie fast fußfällig an, mich aus dem Jammer herauszureißen! Sie verbot mir, das glänzende Haus des Geheimrathes zu besuchen, ja sie untersagte mir, mich ferner nur ihre Verwandtschaft zu nennen. Der Geiz, der sie brennt und aufzehrt –

Ist sie so geizig, die Ludmer?

Geizig wie du! sagte Auguste...

Murray lächelte.

Der Geiz und die Sparsamkeit für den Oberkommissair Pax, den sie ihren Vetter nennt – als wenn der mein Bruder wäre! – machte, daß sie mir jede Unterstützung entzog. Heinrichson mocht' ich nicht bitten; den haßte ich. So führte mich das Elend soweit, als du mich angetroffen hast. Die Tante drohte schon oft, mich gewaltsam von hier wegbringen zu lassen...

Ist sie so tugendhaft die Ludmer...

Haha! Wenn sie wie ihre Herrschaft ist!

Wie Pauline?

Heißt die Pauline?

Die Geheimräthin von Harder...

Die ist alt und häßlich und nimmt doch noch auf, was ich wegwerfe...

Was du wegwirfst?

Vor Eurer Ankunft, Papa, war mein Elend am höchsten gestiegen. Ich wollte fort, nachdem ich die Tante so auf's Blut gereizt hatte, daß sie in ihrem Zorn ein Bund Schlüssel nach mir warf, die mir fast das Auge ausschlugen.

Sie ist wild!

Da kamst du, Papa... Dann war es auch mit dir nichts... Dein Contrakt wurde mir zu schwer und eigentlich ging ich ihn nur ein, weil ich wieder einmal gemalt sein wollte, aber als Auguste Ludmer, als ich selbst, nicht als Venus mit dem rothen Mantel! Aber unsere Sache endete in der Fortuna. Ich mußte sitzen, wie du! Was wirst du dann anfangen, sagte ein Herr, der am dritten Tage, daß ich saß, in mein Gefängniß kam, was wirst du dann anfangen, wenn du frei bist?

Am dritten Tage? ein Herr? Doch nicht ein Franzose?

Ein alter Franzose in feinem Rock mit Orden...

Einer weißen Weste und einem rothen Notizbuche in der Hand...

Der!

Der dieselbe Frage auch an mich richtete: Murray, was werden Sie dann anfangen, wenn Sie frei sind? sagte er zu mir. Was antwortetest du?

Ich sagte: Mein Herr, ich fange nie etwas an, ich lass' es gehen, wie es Gott gefällt! Da lächelte er und ich sah sogleich den Fuchs –

Den Wolf im Schafspelz!

Er wollte meine künftige Wohnung wissen und schielte mich an, als hätt' er mich zu taxiren...

Du irrst doch wohl, Auguste. Dieser Mann heißt – Murray griff nach der Visitenkarte – Sylvester Rafflard und ist ein Abgesandter fremder Vereine, die sich die Verbesserung des Looses der Gefangenen, die Untersuchung der Gefängnisse, den Einfluß auf die künftigen Schicksale der Verbrecher zur Aufgabe machen. Da ich mich nicht schuldig wußte und traurig war, gab ich ihm wenig Antwort. Ich bin überrascht, daß er mich heute besuchen wollte. Ich fand seine Karte abgegeben.

Zu mir, sagte Auguste, wird er nicht kommen. Ich war so voll Zorn, daß ich ihn mit allen seinen Redensarten von Besserung zur Thür hinauswerfen lassen wollte und ihm einen Kalbskopf über den andern nachschimpfte. In dem Zorn wurd' ich eben frei. Die Kleider und Schmucksachen waren mir genommen und unter Lachen und schlechten Witzen gaben mir die Aktuare gute Lehren. Da rannt' ich zur Tante. Man wollte mich abweisen. Ich ließ mich nicht stören. Es war mir, als hört' ich die Stimme der Alten in den Zimmern der Geheimräthin. Ich werfe den Bedienten bei Seite, reiße eine Thür nach der andern auf und stehe vor einem wunderschönen Bilde, das ganz frisch, wie eben fertig mit noch halb nassen Farben – ich hab' etwas von dem Handwerk gelernt beim Professor Berg – auf einer Stellage steht. Das bin ich! sagt' ich mir. Das hat Heinrichson gemalt und in dem Augenblick geht die Thür auf und Heinrichson mit der Geheimräthin tritt herein. Ha, ha, ha! fang' ich an zu lachen. Da zu lachen war Verrücktheit. Ich war auch verrückt. Ich weiß noch jetzt nicht, ob ich in dem Augenblick Vernunft gehabt habe. Ich lachte und schluchzte und redete mit Heinrichson, wie er schon längst nicht mehr da war. Heinrich Heinrichson, rief ich, bin ich Das? Sag's deiner Liebsten, das weiße Thier da, der Vogel auf dem Bilde warst du, du tückischer, falscher, heuchlerischer Drache! So kannst du lügen, wie dies Thier da! Sieh, wie's mit dem Schnabel klappert, wie der Held den Schönen spielt und die arme Auguste Ludmer schläft oder macht die Augen zu, um deine Teufelsaugen nicht zu sehen! Beiß mich nicht! sprach ich. Geh! Geh, ich verlange nichts für mein Kind, geh, es ist todt! Und in dieser Art sprach ich meine rasende Wuth vor dem geleckten Menschen aus; seine zierlich gekräuselten, geölten Locken hätt' ich zerzausen mögen. Aber er war fort. Die Geheimräthin zog die Glocke, alle Glocken im Hause schellten. Die Ludmer kam und schleppte mich fast an den Haaren hinaus. Wahnsinnige, schrie sie mich an, du machst, daß ich dich noch in's Tollhaus stecken lasse! Schändliche, was willst du hier? Welche Frechheit gegen die Herrschaft, gegen einen fremden, feinen Herrn... ich war todtblaß, stieß sie zurück und setzte mich auf ein Sopha, um mich zu erholen. Sie wollte mich aufreißen, ich schleuderte sie wieder zurück, daß sie auf einen Sessel sank und ächzte. Du mordest mich noch! stöhnte sie. Ich sagte: Ja, das thu' ich. So saß ich wol zehn Minuten. Ich war zu elend, ich konnte nicht mehr sprechen. Immer dacht' ich auch, die Thür geht auf und Heinrich Heinrichson kommt wieder herein und sagt' dir: Auguste, vergib mir! Ich bereue, daß ich die Ursache deiner Leiden bin! Ich denke täglich an dich, wenn ich in meiner Mappe blättere und diese schönen Bilder male! Vergib mir! Du siehst, ein vornehmes Weib liebt mich! Was kann ich für dich thun? Aber Heinrich Heinrichson kam nicht. Die Tante hatte sich erholt, stellte sich wenigstens so und verlangte, daß ich mit ihr in ihre Wohnung ginge, die in einem Nebengebäude liegt. Ich ging ganz willenlos hinter ihr über den Hof. Ich sage Das ausdrücklich, weil ich wol mag ausgesehen haben wie das Leiden Christi. Wer mich sah, mag gedacht haben: Die schlägt die Augen nieder und ist sittsam wie ein Grabesengel..

Warum erwähnst du Das? Wer sah dich denn?

Im Zimmer der Alten, fuhr Auguste sinnend fort, hielt sie mir eine letzte Strafpredigt und gab mir zwei Thaler. Ich mußte sie nehmen, weil ich nichts zu essen hatte. Vor ihrem Spiegel ordnete ich meine Kleider und ging nun. Ich elendes Geschöpf mag doch gedacht haben: Vielleicht sieht Heinrichson dir durch's Fenster nach! Ich will doch nicht, daß er hinter mir herspottet und mich auslacht! Ich that also nun, als wär' ich froh und hielt mich recht aufrecht. So kam ich nach Haus. Nach einer Stunde etwa kommt Franz, von der Geheimräthin ein Lakai. Er macht mir einen Vorschlag. Ein Mann in seinen besten Jahren hat mich draußen bei der Tante gesehen und Gefallen an mir gefunden. Ob ich Den heirathen und dann die Gegend verlassen wollte? Habt Ihr irgend einen Gauner bezahlt, rief ich, damit ich nur fortkomme und dem Liebhaber der Geheimräthin nicht die Augen ausreiße? Der Bursch ließ sich auf nichts ein, sondern blieb dabei, daß es richtiger Ernst seiner Herrschaft wäre, den Mann dürfte er nur nicht nennen, ich sollte mit ihm nächster Tage auf einen Fortunaball gehen und da mit ihm anknüpfen, aber sittsam sein und gescheut und dann fort von hier. Es wär' ein Fremder, der von der Stadt nichts wisse, auch nur dann und wann herein käme... wenn er mich nähme und ich mit ihm davonzöge, würde man mir ein Heirathsgeschenk von zweihundert Thalern machen. Ich lärmte zwar und polterte und drohte, ich steckte doch noch einmal das ganze Haus der Geheimräthin an; allein, wie der Mensch ist, auf den Fortunaball ging ich doch und sah da meinen Freier. Papa, was meinst du nun wohl, wen sie mir ausgesucht haben?

Ich bin begierig... sagte Murray – schaudernd über das leichte Gewissen dieser ihm wohlbekannt scheinenden vornehmen Menschen.

Den besten Engel auf der Erde, sagte Auguste lachend, meinen geliebten Freund von Solitüde, der mich einmal gelobt hatte, weil ich Blumen mit Bast an hölzerne Stäbe zu binden verstand und mir auf die Schultern klopfte, als ich im Grase kniete...

Den Inspektor?

Mangold! Ein Kind von siebenundvierzig Jahren! Nun zwar schon ein bischen von der Sonne getrocknet, aber rüstig und gut wie immer...

Kannt' er dich?

Wo wird Der mich? Lieber Gott! Der Mann kennt Bäume wieder, die aus dem Samen gezogen sind, den er gesammelt hat... aber Menschen! Ich mußte ihm in's Gesicht lachen, erst, weil ich den Kopf schütteln mußte, daß ich in den steifen Patron hatte verliebt sein können, und dann, weil er mir zu possirlich den Hof machte und es wirklich ganz ernst nimmt...

Aber Auguste! rief Murray. Man hat da einen rechtlichen, der Welt unkundigen Mann getäuscht! Du wirst doch nicht...

Getäuscht?

Auguste, getäuscht! Man hat ihm falsches Gold für echtes gegeben! Falschmünzerei! Ha! Ha! Das sind keine zwanzig Jahre Zuchthaus, die Denen blühen, die schmuzige Seelen für reine in Cours setzen: Die gehen frei aus! Die dürfen nur lachen!

Papa!

Auguste, daß du nur eine Minute diesen redlichen Mann über dich hast können in Zweifel lassen, Das macht dich zur Hehlerin der Falschmünzerei! Darauf stehen zehn Jahre!

Vater, du bist toll! Mäßige dich, quäle mich nicht! Zehn Jahre? Ich habe Mangold gleich ausgelacht, aber jemehr ich lachte, desto mehr war's ihm Ernst, ich sollte sein Weib werden und ihm auf ein herrschaftliches Schloß folgen, wo er künftig wohnen würde! Das Schloß läge einsam, er müsse nun endlich eine Gefährtin für sein Leben haben, das abwärts ginge. Ich habe mich sittsam benommen, weil Das ein Ehrenmann ist. Aber gelacht hab' ich doch und ihn zitternd vor Wonne abgewiesen und wie ein Kind geneckt. Dennoch will er mich. Alle drei Tage kommt er von Solitüde und geht mit mir Abends einsam spazieren und spricht von einem Schloß, Namens Buchau, weit von hier, wohin ich ihm folgen soll. Ich habe aber, trotzdem daß mein Arm an seinem bebt, soviel Achtung vor ihm, daß ich ihn durch mein Ja! nicht betrügen will und neulich...

Nun, Auguste...

Neulich gestand ich ihm meinen ersten Fehltritt...

Das war brav! Was sagte er? Nicht wahr, es ist nun vorbei?

Auguste schwieg...

Murray fuhr fort:

Er sprang auf, er riß sich aus deinen Armen los. Und Das führt dich nun her? Du bist unglücklich, verzweifelst... weil dich Alle verstoßen, Niemand dich mag?

Aus meinen Armen? sagte Auguste und schüttelte den Kopf. Papa, denk' doch nicht zu schlecht von mir! Ich bebe wie im Wind ein Blatt vor dem Manne, ich glaube nicht, daß er mich schon einmal küßte...

Was aber sagte er, als du ihm gestandest, daß du nicht mehr so bist, wie du aus der Hand Gottes hervorgingest?

Er sprang auf, wie du sagtest, Papa, er weinte sogar ein bischen, schien mir's, und lief dann auch davon. Er sagte mir Abschied auf immer! und... nach drei Tagen...

Nach drei Tagen?

Klopft's wieder an meine Thür...

Die Vergebung kam?

Die Vergebung!

Auguste! Und Dies zerreißt nicht dein Herz im innersten Busen? Du sankest nicht auf deine Knie und strecktest die Hand zum Allmächtigen empor, der seine Himmel öffnet und schon wieder einen Strahl seiner Gnade zu dir herabsendet? Er vergab dir? Der edle Mann, der nahe seinem funfzigsten Jahre noch auf Liebe und Unschuld hoffte?...

Ach, Papa, sagte Auguste in der That schmerzzerrissen. Was soll ich nun thun! Das Eine vergab er mir, aber das Andre... ach, es ist so Vieles!

Erzähle mir, warum er dir vergab und ich sage dir, ob ein Engel des Himmels auch über das Andre hinwegkommt! Warum vergab er dir, daß du eine Gefallene warst, Mutter von einem Kinde?

Weil Buchau weit und einsam wäre, sagte Auguste und kein Mensch dorthin käme als nur zuweilen der König und die Königin, wenn ihnen die Krone zu schwer würde... und unter den alten Eichen, wo der Mensch ganz allein sich selber gehörte und nur vor Gott Rechenschaft abzulegen hätte, da vergäße man Vieles und an rechter Stelle nähme sich jeder Baum, auch wenn er schief und krumm gewachsen wäre, angenehm aus, ja an Teichen hätte man es ja gern, wenn die Trauerweiden, die mit ihren langen Hängezweigen hineinlangen, ein bischen gebeugt stünden, und dabei gab er mir die Hand und sagte: Er hätte mich wirklich auch schon als Kind lieb gehabt!

Murray schwieg eine Weile gerührt, dann erklärte er:

Der Teich ist die Buße und die Weiden sind die Reue... O mein Kind, ich flehe, lache nun nicht mehr! Spotte die Regungen eines bessern Gefühles nicht aus deiner Seele hinweg! Wie ging es denn mir, da dein Vater mich dem Leben zurückgab? Ich trotzte nicht mehr, ich erkannte eine höhere Allmacht und fühlte die starke Himmelshand sichtbar, als wir auf dem Meere von den Stürmen gepeitscht, in den Wellen hin- und hergeschleudert wurden. Ich war noch verstockt, als ich in Hamburg das Schiff bestieg, verstockt, als ich Land sah, die Dünen der Schelde und des Rheins; aber draußen im großen Ocean wurd' ich demüthig und was ich in einem Sturme gelobte, wo eine einzige Welle von dem Schiff fünfzehn Menschen neben mir fortspülte in den Abgrund, Das hab' ich gehalten, habe gearbeitet, gebetet und auf mich selbst gelauscht. Ich bin kein Frömmler. Aber wenn es mir schlecht ging in Amerika, nahm ich zwölf Bibeln von einem Buchbinder, gab meine letzten Kleider auf einen Tag bei ihm dafür zum Versatz und ging mit meinen zwölf Bibeln in die Häuser. Wo eine Dienstmagd am Brunnen wusch, stellte ich mich zu ihr und bot ihr das Buch der Bücher zum Verkauf. Kein Mensch ist so arm, daß er nicht das erste Ersparniß anwendete, sich eine Bibel zu kaufen. In einem Vormittage schon hatte ich bei den Ärmsten zwölf Bibeln verkauft und mit Vortheil; ich brachte das Geld, bekam meine Kleider und konnte am Nachmittag noch neue zwölf absetzen. Ich machte aber kein Geschäft daraus. Nur immer wenn ich ganz darbte, wenn nichts mir übrig blieb, als betteln zu müssen, dann half ich mir mit den zwölf Bibeln. O, mein Kind, ich frömmle nicht; ich bin nur ein Mensch, der da fühlt, daß er die Welt nicht hat erschaffen können. Wer Das sich sagt, Dem hilft die große Hand, die mit dem Erdball wie mit einem Kreisel spielt! Mädchen, halte sie fest, diese ersten Schauer innerer Einkehr! Wenn sich ein edles Herz fände, das dich erlöste...

Auguste schien zwar erschüttert, zuckte aber doch schon wieder spöttisch mit den Lippen.

Mädchen, rief Murray erregt. Trotze nicht ewig so gegen dich selbst!

Auguste wollte nun aufstehen.

Nein, Auguste, du bleibst! Hörst meinen Worten! Verflüchtigst die bessere Regung nicht! Gib diesem Hämmern in dir, diesem Klopfen deines Gewissens Gehör!

Auguste versuchte aber zu trällern und wollte nun fort.

Nieder! rief jetzt Murray und warf die Binde auf die Stirn.

Herr Gott, was willst du, Papa, antwortete das zitternde Mädchen, das gleichsam nur sich selbst entfliehen wollte.

Auguste erschrak vor Murray, fürchtete sich nun fast vor ihm. Er hatte ihre beiden Hände ergriffen. Er drückte sie mit Gewalt auf den Stuhl. Sie, von Furcht gepackt, fast zitternd vor Angst, fast auch über sich selbst, drängte von ihm loszukommen. Er bat, er flehte, sie sollte jetzt eingestehen, daß sie elend, eine Verworfene, eine Sünderin wäre. Sie stieß ihn zurück. Da warf er die Binde ganz von seinen Augen. Flammend und groß brannten zwei mächtige Augenkerzen auf sie nieder. Sie hätte schreien mögen.

Laß mich! flehte sie und wollte fort. Den Hut hatte sie schon in der Hand...

Murray aber schleuderte den Hut und den schwarzen Flor, den er vorm Auge trug, von sich und rief:

Nieder, Auguste! Nieder! wiederholte Murray und schlug seine beiden Augen so voll und so hell auf, daß sie wie zwei Flammen in der Nacht leuchteten.

Was hast du? Was sollen meine Hände? Was thust du?

Falte die Hände! rief Murray fast wie ein Thierbändiger in einem Käfig einen Panther ergreifen und auf die Erde schmettern würde.

Du zerbrichst sie... Laß! Laß! stöhnte Auguste, aber doch schon gedemüthigt von der mächtigen geistigen Gewalt des Alten und auf die Erde sinkend.

Falte die Hände! Bete mir im Geiste nach, was ich laut sprechen werde! Bete! Bete! Auguste!

Auguste ließ das Haupt sinken, hielt die Hände, die auf ihren Schooß wie ohnmächtig und leblos niederglitten, so zusammen, wie sie Murray ihr gefaltet hatte und hob die bebenden Lippen, indem ihre Augen starr und wie irr an den Augen Murray's hingen.

Murray sprach:

Nicht zu dir, Herr des Himmels, red' ich! Denn ich kenne dich nicht und meine Augen sind trübe. Zu mir selbst will ich sprechen! Zu meinem eigenen, eigensten inneren Geiste! In mich selbst will ich blicken, in mein innerstes Herz. Der Gott, der mich geschaffen hat, wird mir zur Seite stehen und mir deuten, was ich jetzt sehe, jetzt fühle. Ich fühle mich elend und ich sagt' es mir nicht! Ich fühle mich in tiefster jammervollster Trostlosigkeit und ich lachte Derer, die mir Erquickung boten. Wer bin ich, Allmächtiger! Ein Haufen Erde, in dem die Würmer wühlen werden, wenn meine Stunde gekommen ist. Ich bin Staub, Asche... Ein Todtenkopf sieht mich einst an, wenn ich in den Spiegel blicke, und die Lippen, die einst so frevelten, spöttelten, sagen mir jetzt schon: Das ist einst dein Bild! Ach, gibt es eine Schönheit, die unvergänglicher wäre als die eines reinen Herzens? Das fühl' ich doch, wie ein Kind so lieblich und gehorsam in seiner spielenden Welt lebt, die Freude der Menschen ist, auch Derer, denen es nicht gehört und die es nur sehen, nur wie fremd beobachten! Wie schmückt Jeden unter uns die Zier einer friedfertigen kindlichen Gesinnung! Wie schön steht uns zu dulden und nicht zu murren wider das Geschick! Der Himmel hat mir nie lächeln wollen. Ich weine d'rob! Ich armes Kind, das ich unter Unglücklichen und Bösen aufwuchs, die Ältern nicht kannte und mit ihnen nichts vom Jugendglück. Aber prüfe dich recht, mein Herz! Nahmst du nicht jedes deiner Misgeschicke für eine Entschuldigung deiner Fehler? Sagtest du dir nicht: Wie kann ich auf die Zufriedenheit mit mir selbst bedacht sein, hab' ich doch keine Freude, als die flüchtige der Selbstvergessenheit? Ach, es wird die Stunde kommen, Auguste, wo du an deinem Ohre die Worte hören wirst: Wie war sie schön und wie verblühte sie nun! Du wirst hören, daß man Andre preist und Die, die du am meisten verachtetest, weil du ihre Seele kanntest, die werden sich vor dir brüsten und sich rühmen, daß an ihren Blättern der welkende Herbst erst um einige Tage später erscheint! Ach, dann werd' ich nach ewiger Schönheit suchen und sie nirgend finden, als in Bescheidenheit und treuer Liebe. Treue Liebe! Du süßestes Kleinod des edlen Frauenherzens! Treue Liebe! Du Schmuck der Armen, Du, der einzige Stolz der Geliebten, wie das Kind, selbst ein schwaches und unschönes, doch der beste Schmuck seiner Mutter ist! Treue Liebe! Wer bringt mir deinen Hauch, daß ich ihn in meine Seele ziehe, wie einen Duft der Opfer, die dem Herrn angenehm sind, daß ich ihn wieder ausströme in ein Herz, das noch Hoffnung zu mir fassen kann! Ach, daß der Gute, Edle, Vergebende sein sanftes Auge auf mir ruhen ließe! Daß ich die letzten gesammelten Reste meiner bessern Natur, die ich doch aus mancher stillen Abendstunde kenne, dem schon früh Geliebten bieten dürfte wie die arme Witwe ihr Erspartes mit der Ärmeren theilt! Weiche nun von mir jede Verstellung! Ich will mein Auge niederschlagen auf der Straße, ich will Dem, der mich frägt, was mir fehle, sagen: Ich bin krank! Ich will Schmach erleiden, will noch einmal, zum letzten male versuchen, ob eine gütige Hand mich aus diesem Dunkel führt. Und wär' es nicht – wäre auf meiner Stirn das Zeichen vergangener Irrthümer zu tief eingebrannt, nimmt er mich nicht hinüber in die Luft, die läutert, an die Quelle, die reinigt... auch dann, auch dann, Herr des Himmels, soll mich nicht die Verzweiflung fassen, sondern nur... und nur die Reue. Ich will, mein Gott, in mich sehen, will den Trost der Menschen suchen, die mit mir beten und die ein gleiches Bedürfniß trieb, mit seinem eigensten Herzen zu sprechen und auf die ernsten Fragen der Seele mit Ernst zu antworten. Dies Beten hört ja nur Gott. Der spottet deiner nicht. Der weint mit dir, der freut sich mit dir! Der ist dein Widerhall! Und hörst du den Widerhall, der aus deinem Herzen tönt, dies stille Trösten und diese Ruhe gern, dann ist's Der Gott, der in dir wohnt. Dann ist er dir nahe! Glaube ihm! Vertraue ihm! Hoffe auf ihn! Von nun an in Ewigkeit und die Zeit deines vielleicht nur kurzen Lebens noch! Amen!

Wie Murray dies Gebet geendet hatte, ergoß sich Auguste in einen Strom der bittersten Thränen. Sie, die seit lange nur noch vor Ungeduld geweint hatte, weinte vor Reue und dem Gedanken an ihre tiefste Hoffnungslosigkeit.

Murray, der mit gefaltenen Händen vor ihr gestanden hatte, griff nun tröstend nach ihrer Hand und zog sie empor. Sie ließ willenlos Alles geschehen, was er mit ihr begann. Er ergriff die Binde wieder, reinigte sie vom Staub und legte sie ruhig über seine Stirn. Dann sagte er:

Wann kommt Mangold?

Heute Abend, aber spät! Er ißt immer erst irgendwo zu Nacht...

In diesem Gebete und der Übereinstimmung mit Murray's Worten hatte sich die ganze Sehnsucht offenbart, daß Mangold sie von ihrem jetzigen Stande erlösen und an seine reine Brust ziehen möchte.

Du wohnst noch in der Königsstraße? sagte Murray.

Neben dem Café Richter...

So komm' ich heute, wenn Mangold kommt...

Auguste stand ermuthigter und gestärkter von diesen Worten, dieser Aussicht auf Trost und Beistand und guten Einfluß auf jenen Edlen von dem Sessel, auf den sie nach dem Gebete gesunken war, auf, zog ihren Shawl über, trocknete ihre Thränen und suchte ihr feuchtes Taschentuch zu verbergen...

Sie wollte gehen, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Murray rief sie aber in der Thür noch zurück.

Auguste, sagte er, ich habe Vertrauen! Glück bessert Thorheit, Glück bestärkt die guten Vorsätze! Man muß nicht Alles vom Unglück erwarten. Das Unglück verhärtet, verbittert uns. Du bedarfst nun Glück! Du mußt nun nicht darben! Du hast Schulden! Da! Nimm!

Damit hatte er die Schublade aufgezogen und reichte Augusten nach kurzem Suchen ein Papier hin...

Es war eine Banknote von funfzig Thalern...

Auguste gab ihm aber das Papier zurück, schüttelte schweigend den nothdürftig geordneten Kopf und wollte fort. Ihre Augen waren nicht zu dämmen. Es flossen die einmal geöffneten Schleusen des Herzens über. Sie bedurfte der Luft... sie mußte für sich weinen können. Nur weinen... Nur fort!

Murray drängte ihr nun fast das Papier auf. Sie nahm es aber nicht, sondern ging. An der Treppe blieb sie stehen und wandte sich nur noch, um die tonlosen, erstickten und heiseren Worte zu sprechen:

Unten der Mullrich... der Wirthin... schuld' ich vier Thaler. Sie läßt mich vielleicht nicht durch... wenn ich durch die Hausthür will...

Murray gab ihr diese vier Thaler...

Auguste nahm sie, wickelte sie in ihr Tuch und ging ohne aufzublicken, ohne ein weiteres Wort des Abschiedes, ohne eine Phrase, ohne einen Seufzer, still und tiefbewegt von dannen. Sie hatte keine Stimme, kein äußeres Leben mehr. Sie ging wie geisterhaft, wie ihrer selbst nicht bewußt...

Murray kannte diesen Zustand und nannte ihn für sich... den des gebrochenen Rohres.

Der Auftritt hatte auch ihn erschöpft. Auch er bedurfte frischer Luft zur Stärkung. Es war zu eng um ihn, zu dumpf. Er wollte aus; es dürstete ihn. Er sah nach dem Kruge... er trank... das Wasser war matt... Er gedachte des Anerbietens seiner freundlichen Wirthin. Er ging an die Verbindungsthür der Küche und klopfte... Louise Eisold wurde hörbar.

Dürft' ich Sie bitten... sagte er.

Sogleich! war die Antwort und Louise kam über die Galerie an seine offne Thür.

Was wünschen Sie, Herr Murray? fragte sie.

Dürft' ich Sie bitten... Haben Sie in Ihrer Küche frisches Wasser?

Gewiß! sagte sie und sah nach dem Kruge. Aber das Wasser war auch da matt geworden.

Ein Gewitter liegt in der Luft, bemerkte sie. Ich hol' Ihnen frisches...

Nein, nein, Mademoiselle!

Warum nicht! sagte sie.

Damit ergriff Louise Eisold den Krug und ging, so gefällig sie angezogen war, selbst hinunter, um im ersten Hofe Wasser zu holen.

Murray lehnte sich und sah über die Galerie und beobachtete das Wetter. Er kehrte in sein Zimmer zurück. Er nahm einen alten Regenschirm, setzte den Hut auf, schloß die Thür und zog auf der Galerie alte hellgrüne, waschlederne große Handschuhe an.

In Gedanken versunken ging ihm dies Alles langsam. Er hatte den linken Handschuh an und wollte eben den rechten anziehen, als Louise mit dem Kruge schon wieder da war. Sie nahm ein Glas aus ihrer Küche, schwenkte es und schenkte es aus dem Kruge voll.

Wie Murray so dies freundliche Walten eines gewissensreinen, unbescholtenen Mädchens sah, wie sie ihm das Glas hinhielt, das reine und klare krystallhelle Wasser im reinen klaren krystallhellen Glase von reiner unbescholtener Hand, dargereicht mit klarem Auge und sittlichem Ernst, da sagte er, als er getrunken und sich gestärkt hatte:

Glücklich, wer ein Gewissen hat, das sich nur manchmal so trübt wie ein eben am Brunnen gefülltes Glas, das von den tausend Tropfen krystallreinen Wassers beschlagen wird!

Damit gab er Louisen, deren traurige Trübe bei aller Reinheit diesem Bilde entsprach, das Glas. Sie stellte den Krug zur Erde und wollte ihm das Geleite bis an die Treppe geben... Wie er nun hinunterstieg und fort war und sie in ihr Zimmer zurückkehrte, hörte Louise im Glase, das sie wegstellen wollte, einen sonderbaren Klang. Der prächtige Ring von Gold und Edelsteinen, den Murray am Finger gehabt hatte, lag auf dem Boden des Glases.

Seltsam! dachte sie in längeren Pausen. Hat er ihn vergessen? Oder soll Das ein Geschenk sein? Wer ist dieser Mann? So arm! So reich! So niedrig! So groß! So schwach! So stark! So kindlich! So weise! So offen, so räthselhaft!

Wie gelähmt vor Schreck stand sie und betrachtete das funkelnde Geschmeide... wünschte aber die Nacht herbei, um es dem wunderbaren Nachbar zurückzugeben.


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