Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am Nachmittag desselbigen Tages stehen die Flügel eines großen Fensters in der Dechanei weit offen. Sie sind beschattet von den Zweigen einer Linde, die sich die nassen Zweige und Blätter trocknen läßt von den fast mühsam durch das Laub hindurchdringenden Strahlen der wieder am blauenden Himmel hervorgetretenen Sonne. Die Vögel zwitschern, Käfer summen wieder; sie hatten an den Simsen und in den Cannelirungen des Hauses vor dem Regen ihre Zuflucht gesucht; wirklich auch trottet ein Pfau unterm Fenster über die unten rings hinlaufenden feuchten, moosdurchwachsenen Sandsteinfliesen und wiegt und hebt den bunten Schweif, fast wie um ihn nicht naß werden zu lassen und ganz wie eine Dame ihre Kleider schont. Sähe man nicht da und dort ein heiliges Emblem, am Eingang des engern Parks ein Marienbild, am Ausgang zur Kathedrale hin ein Crucifix, unter den Stuccaturen an dem Hause eine ehemals vergoldet gewesene Strahlenkrone, ein Kreuz, ein Dornenhaupt: man würde den Eindruck haben, als müßte man sich hier umschauen nach einem Marmorbilde der Flora, nach einer Gruppe versteckter Satyrn oder Nymphen entführender Centauren.
Am offenen Fenster gibt es einen traulichen grünen Winkel zwischen den hineinlangenden Zweigen der Linde und einem Studirtische, dessen Vorsprung den Vögeln ebenso zugänglich 120 scheint wie eine Anzahl ans Fenster gerückter Sessel, auf deren Lehnen sie sich zu setzen wagen. Ein Greis, den die Vögel schon kennen und den sie sogar auf seinem Schreibtisch besuchen – er lockte sie regelmäßig durch seinen Morgenzwieback und sein Mittagsdessert – nennt diesen Winkel seine liebste Sakristei und seinen segensreichsten Beichtstuhl.
Auch Bücher sieht man in glänzenden Einbänden mit geöffneten Kupfersticheinlagen in der Mitte des Zimmers auf einem runden Tische. Ein in Guache gemalter Christuskopf von Guido Reni hängt über dem Schreibtisch. Die bunten Lithophanieen, welche die Fensterscheiben verdecken, sind jetzt, da die Fenster offen, an die Wand gelehnt. Man sieht in Alabaster das Abbild der speerbewaffneten Göttin der Weisheit vom Parthenon auf einem weißen kleinen Porzellanofen. Auf dem eleganten Mahagonischreibtisch mit Fächern und kleinen durchbrochenen Galerieen aller Art liegen und stehen in Bronze bunterleigestaltete Nippsachen, Briefbeschwerer, Streusandschalen, Federgestelle, Federwischer von bunten Farben, ein gewaltiges Tintenfaß in Gestalt eines Drachen, der sein schwarzes Gift ausspritzt, zierliche silberne Leuchter, ein Lichtschirm von grüner Seide – –
Der ehrwürdige Bewohner lehnt den einen Arm auf ein grünsammetnes Fensterkissen und athmet den köstlichen Duft der Linde ein. Er lockt einen der Vögel, die in seinem stillen und dunkeln Zimmer unter ihren Zweigen zu sein träumen. Am liebsten beschied er auch ebenso von seinen Beichtkindern alle die, die ihm gar zu oft kamen oder zu umständlich sich ausplauderten oder die in ihrer »Sündhaftigkeit sich so außerordentlich wichtig machten«, hierher an diese stille Stätte. In neuerer Zeit freilich kamen wenige. Die Dechanei stand nie im Geruch der Heiligkeit, jetzt vollends nicht, seitdem Beda Hunnius, Bonaventura's damaliger Mitgeweihter, nach mancherlei anderweitiger 121 Verpflanzung, in Kocher Stadtpfarrer geworden war und überhaupt in vielen Kirchen rings in der Provinz täglich die Posaune Zions mächtiger geblasen wurde, als »zu seiner Zeit«, zur frühern Zeit des Dechanten hier Sitte war. Manche jetzt predigten doch, als wollten sie die Trommeln übertönen, die da eben jetzt auf dem Marktplatz drinnen zu Kocher am Fall gerührt werden zum Appell des 35. Landwehrregiments. Sie predigten, als sollt' es an eine neue Bartholomäusnacht gehen, an ein Pour l'amour de dieu mit geschwungenem Schwerte, falls nur der Herr Kirchenfürst im Kampf mit der Regierung, mit der Philosophie und den gemischten Ehen bald die Parole ausgeben wollte. Der gute Onkel Bonaventura's und Benno's von Asselyn nahm die Sache der Religion von einer milden Seite. Auch hier an seinem Lindenbaum pflegte er jedesmal schnell mit dem selbstgeschilderten tiefen Verderben seiner Beichtkinder fertig zu werden, zog dann gern sein goldenes Döschen, ging auf Krieg und Frieden in der Türkei, auf Kunst, Natur, Menschenleben in Rom, Griechenland und Kocher am Fall über und endete gewöhnlich mit den besten Zusprüchen, die er dem Entschluß, auf Gottes Gnade zu vertrauen, ertheilte und mit den zuversichtlichsten Hoffnungen auf das nach Leibniz ja prästabilirte Glück und die Heiterkeit des ganzen Universums.
Dabei entbehrt jedoch der Greis, der, zurückgelehnt in einen bequemen saffianenen Voltaire, ein violettes Sammetkäppchen auf dem mit weißen Löckchen umwallten Haupte trägt, keineswegs einer gewissen Schärfe. Etwas Schlaues sogar, wenigstens Markantes, fehlte dem Dechanten keinesweges. Seine Nase war lang und habichtartig, das Auge dunkel und sogar listig. Und stochert er sich eben die wenigen Zähne, die ihm noch geblieben, so geschieht dies mit jener feinen Miene, die mehr einem Diplomaten hätte angehören können, allerdings einem Diplomaten aus der alten 122 Schule, jener, die noch am Wiener Congreß um ein Bonmot vom Fürsten de Ligne sich ebenso exaltiren konnte, wie unsere jetzige Diplomatie sich nur um eine neuconstruirte Jagdflinte exaltirt. Auch des Dechanten Kinn war ausdrucksvoll schön geschweift und länglich, die ganze Erscheinung, auch in den weißen wohlgepflegten Händen, entschieden vornehm und aristokratisch; ja, statt des kleinen weißen Streifens unter der schwarzen Halsbinde hätte ebenso gut ein blaues oder rothes Band irgendeines Comthurkreuzes hervorschimmern können. An den schöngeformten Schläfen, an der Stirn und dem Scheitel konnte man Geist und Phantasie erkennen. Nur ein etwas zu weicher, ja schlaffer Zug am Munde verrieth Bequemlichkeitsliebe, ein bekanntes Erbübel aller alten Garçons, vornehmlich aber derer von der langen Robe.
Seiner geistigen Richtung nach gehörte Franz von Asselyn zu den wenigen noch Ueberlebenden aus den Zeiten Wessenberg's, der sich damals, als das gesammte Vaterland für alle seine Lebensbezüge eine Vereinigung träumte und sich diese ehrlich verdient hatte durch die Jahre der Napoleonischen Knechtschaft, verdient durch den Aufschwung der Befreiungsjahre, auch für die katholische Kirche »Reformen« möglich gedacht. In jener Zeit hätte Franz von Asselyn rasch emporsteigen können zu einem Bisthum, er hätte jetzt Erzbischof sein können; denn waren auch die drei Brüder von Asselyn, Franz, Friedrich und Max, an Gütern nicht gesegnet, hatte jener den Priesterstand, Friedrich die Beamtencarriere und Max die Bewirthschaftung der wenigen und nach seinem frühen Tode ganz veräußerten Besitzthümer der Familie gewählt und traten sie dabei ohne andere Ausstattung als die ihres Herzens und ihrer Bildung in die Welt, so fehlte es doch an Verbindungen nicht. Franz ließ sich, nach einer lebhaften Antheilnahme an der »westfälischen« Zeit und einem damals häufigen Einspruch auch auf Schloß Neuhof, wo er in der That 123 »Frau von Gülpen«, die Schwester der »Frau Hauptmännin«, kennen gelernt hatte, in der Friedenszeit eine gute Pfründe genügen, das Dechanat zu St.-Zeno. Obgleich in einer wenig freundlichen Gegend gelegen, war sie doch die einträglichste und reichstdotirte auf fünfzig Meilen im Umkreise. Man würde sie wie alle diese Stifter, wenn nicht nach dem Wiener Congreß säcularisirt, doch in ihren Einkünften beschnitten haben, wenn nicht von alten Tagen her die deutschen Kaiser auf die alte Kathedrale ein Patronatsrecht geübt hätten, das infolge eines damals von Franz von Asselyn entwickelten außerordentlichen Eifers auf das Haus Oesterreich übergegangen war. So erhielt sich die Dechanei zu Kocher am Fall in ihren alten Einkünften, während die Amtsverpflichtungen sich nur auf den Kirchendienst beschränkten; denn zum wirklichen, der Bureaukratie verantwortlichen Dechanten, d. h. katholischen Superintendenten, machte man später den Stadtpfarrer eines benachbarten Ortes, nachdem eine kurze Zeit hindurch Franz von Asselyn die wirkliche Dechantschaft verwaltet und über Geburten, Hochzeiten, Sterbefälle, Disciplinarvergehen, Kirchenbauten und Reparaturen, Verbrauch von Wein, Brot, Oel, Wachs u. s. w. an die Regierung seine Berichte gemacht hatte. Freilich war das nur ein kurzer hitziger Anlauf gewesen. Franz von Asselyn war seiner Unfähigkeit zu solchen Relationen schon damals inne geworden, als ihn der kurze, befehlende Ton der Regierungsbescheide »verletzte«. Sowol sein »freiherrlicher« Sinn wie der dem Priester mit der ersten Weihe eingepflanzte Stolz, der bei manchem bekanntlich in einen imperatorischen Hochmuth übergehen kann, konnte sich in diese Erlasse, in die Form dieser Fragen und Antworten nicht finden. Als er im Unmuth über den officiellen Regierungsstil einmal fast gegen ein Viertelhundert Briefe im Zeitraum von zwei Monaten gar nicht geöffnet hatte und ihm doch über die Dinge, die er nun auf diese 124 Art versäumte, über die Menschen, die er durch die Nichtbeachtung ihrer Angelegenheiten in die peinlichste Noth versetzte, zuletzt so himmelangst wurde, daß ihm die Briefe in Gestalt händeringender Weiber und Kinder Nachts am Bette erschienen und er nicht mehr schlafen konnte, da schickte er sämmtliches aufgehäufte Material an den damaligen Kirchenfürsten der Provinz mit der Bitte, ihn vor dem hohen Gubernium zu entschuldigen oder ihm wenigstens für sein kurzgefaßtes Mittel, sich nicht ärgern zu wollen, die möglichst lindeste Strafe zu erwirken. Der damalige Kirchenfürst war im Sinne der Regierung gestimmt, doch nicht ohne Wohlwollen für seine Angehörigen; so erfolgte eine friedliche Vermittelung. Die Dechanatsgeschäfte wurden dem Freiherrn Franz von Asselyn einfach abgenommen gegen eine Vergütung, die er an seinen Stellvertreter zahlte.
Der nominelle Dechant war indessen bei alledem doch seinen freiern Anschauungen über die Stellung der Kirche zur Religion, Wissenschaft und zum Vaterland nicht untreu geworden. Für die jetzt angebahnte mittelalterliche Reaction fehlte ihm alle verwandte Gemüthsstimmung. Er sah sogar etwas in ihr, dem sich der Stolz und die dynastische Treue des deutschen Adels hätte fern halten sollen. Er mochte nicht den Protestantismus, hätte aber gern eine katholische Kirche gehabt, wo Licht und Aufklärung alle Künste und Wissenschaften, die den Menschengeist, vorzugsweise den deutschen, ehren, Platz behalten hätten. Diese Gesinnung mit Eifer zu verfolgen, für sie zu kämpfen, zu leiden, dazu fehlte ihm freilich der Aufschwung. Er begnügte sich, seinerseits das zu sein und es auch zu scheinen, was er war. Er ließ sich die Minerva nicht von seinem Ofen wegnehmen, bis des Winters, wenn geheizt wurde. Daß es darüber Anfeindungen gab, verstand sich bei der zunehmenden Liebe zur Dunkelheit und Angeberei von selbst. Einstweilen versöhnte er die Gegner durch 125 sein Herz. Seine Wohlthätigkeit war grenzenlos und wenn man an seiner Rechtgläubigkeit zweifelte, so konnte er sagen: Ich erzog euch ja einen Heiligen und wer weiß ob nicht außerdem noch einen St.-Georg, wenigstens einen vorm Appell- und Cassationshofe! Er meinte Bonaventura und Benno, die er beide hatte ausbilden lassen und wie seine Söhne liebte.
Diese Aeußerung hatte der Dechant auch noch heute wiederholt gethan, als er bei seinem immer gewählten, heute sogar festlichen Tische mitten unter Donner, Blitz und Regen mehrere der tonangebenden Geistlichen der Umgegend zu Gaste hatte. Mit Einschluß der Frau von Gülpen, seiner nunmehr schon fast der »goldenen Hochzeit«, wie er oft scherzte, sich nähernden Wirthschaftsführerin, hätte die Tafel beinahe aus dreizehn Personen bestanden. Sein alter Diener, der Sternseher – er hieß Joseph Windhack und hatte einst bei einem Lehrer der Astronomie, einem österreichischen Exjesuiten in Wien, seine Carrière im Dienen und im Sternsehen begonnen – hätte diese Herausforderung der Schicksalsmächte ebenso wenig geduldet wie Frau von Gülpen. Es waren an die immer offene Tafel des Gastfreiesten der Gastfreien heute elf geistliche Herren gekommen, unter ihnen sogar ein Mönch. Jetzt blieb der Oberst von Hülleshoven, der mürrische Sonderling, aus. Nun half nichts, Frau von Gülpen mußte die zwölf Herren allein lassen und sich von der Tafel ganz zurückziehen, wodurch sie insofern einen Vortheil gewann, als sie desto umsichtiger erstens die Ordnung der verschiedenen Gänge dirigiren und zweitens die gerade zwischen einem pikanten Hors d'oeuvre und dem Braten ankommende Lucinde empfangen konnte.
Auf eine kurze Vorbereitung und erst einleitende Anweisung für ihre Stellung war Lucinde gleich in dem oben citirten Briefchen angewiesen worden. Daß diese so kurz ausfallen würde, 126 hätte vielleicht Petronella von Gülpen selbst nicht geglaubt; denn Lucinde war über die Aehnlichkeit der Gesellschafterin des Dechanten mit ihrer alten verschollenen »Frau Hauptmännin« sogleich sprachlos geworden, hatte allem zugestimmt und sich nur erst auf ihrem Zimmer zu sammeln gesucht –
Das Diner war vorüber. Der Dechant war erschöpft von Tischgesprächen, wie er sie nicht liebte. Hatten diese Collegen sich heute nicht gerüstet zu einer Conferenz, die Nachmittags beim Stadtpfarrer stattfinden sollte, als gält' es einen Wettkampf mit den Kriegsmanövern! Es waren nicht einmal die Zeloten, die der Dechant bei sich sah, aber alle standen unter dem Druck der Eiferer. Der erwähnte Mönch, ein Franciscaner, den einer der Herren mitgebracht hatte, war einer der berühmtesten unter den Drängern und Stürmern und ein geistvoller Mann dazu. Wie griff das alles den Dechanten an, ihn, der die Gewohnheit des alten Exjesuitenschülers, seines einst aus Wien mitgebrachten Dieners, Joseph Windhack, Abends auf einer Plateforme des Schlößchens sich um den Lauf und die Stellung der Gestirne zu bekümmern, so gern zum Anlaß nahm, von ihnen beiden zu sagen, daß sie ja überhaupt mehr im Sirius lebten als auf dieser kleinen Erde, dieser Tellus, die nicht einmal ein eigenes Licht hätte, sondern das ihrige von der Sonne und sogar dem armseligen Monde borgen müßte, ja daß die Sonne wieder ein Fixstern untergeordneten Ranges wäre und mit dem Sirius in gar keine Vergleichung kommen könnte, welcher Sirius wiederum seinerseits – Weiter ging er wenigstens in seinen Ketzereien heute an der Tafel nicht, wo das Gespräch auf den Sirius gekommen war und den Mönch veranlaßt hatte, über die Kassiopeja und die Farbe der Sterne überhaupt zu sprechen, worüber sich Windhack beinahe vergessen und beim Serviren ins Gespräch gemischt hätte.
127 Bis zur Conferenz beim Stadtpfarrer, wo der Dechant nicht fehlen durfte, hatte es noch einige Zeit. Nach dem Diner waren die Gäste entlassen worden, weil sie den Kaffee beim Stadtpfarrer nehmen sollten. Der Dechant hatte ein wenig in seinem Voltaire geschlummert, hatte den süßen, weichen Lindenduft eingeathmet, hatte das Zwitschern der Vögel belauscht und den Pfau vom Simse oben auf die untern Fliesen gejagt, diesen Lolo, den er nur Frau von Gülpen zu Liebe duldete – Lolo war ein gar böser Vogel, wie alle Pfauen; eitel von der hohen Büschelkrone bis zu den bunten Augen seines Schweifes hinunter, fuhr er herzlos auf alles Lebendige zu, dem er nur irgend mit seinem krummen Schnabel beikommen konnte. Ein unsteter Nachtunhold, hielt er nie sein Nest im geräumigen Hofe inne, hatte Lagerstätten überall, oben auf Windhack's Sternwarte, beim Hühnerstall, in der Nische eines steinernen Marienbildes, an den Eingangssäulen des Portals, auf einem Zweige da, in einer Hecke dort. Lolo war ein Nachtschwärmer, über den der Dechant in mancher schlaflosen Nacht oft bitter seufzen mußte, mehr noch als über das allgemeine Weh der Welt, bis er regelmäßig bei solchen Störungen doch zuletzt ärgerlichst an die spanische Wand klopfte und der in Sorge um den Lolo nebenan noch wachen Petronella von Gülpen zurief: Aber liebste, beste, theuerste Freundin! Was hat denn nur heute Nacht schon wieder Ihr verfluchter hoffärtiger Satan vor? Gewiß wieder nichts als Zorn und Aerger auf die Hennen, die still und sanft über ihren Jungen sitzen! – Dann pflegte Frau von Gülpen seufzend zu erwidern, der Lolo gräme sich, weil er im grünen Parke allein leben müsse – Der Dechant entgegnete aber: Ei, der niederträchtige Kerl mordet uns ja jedes Weibchen, das wir ihm schon bei allen Gutsbesitzern der Umgegend bald erbettelt, bald mit schwerem Gelde erkauft haben! Glauben Sie mir's, beste Freundin, um das Glück der Ehe 128 würdigen zu können, ist der Mensch, wollt' ich sagen der Vogel zu lange Cölibatär gewesen. Gerade wie bei uns! Heben Sie heute das Cölibat auf, ich glaube, wir heirathen gar nicht einmal! – Frau von Gülpen war dann, statt auf solche Blasphemieen schlafloser Verzweiflung zu antworten, gewöhnlich schon in ihrer Kontusche, hatte die Fenster geöffnet und sprach in die finstere Nacht hinaus mit dem auf einem Baumzweige wach sitzenden und vielleicht, wie der Heine'sche Fichtenbaum, von seiner eigentlichen Gangesheimat, wo eben allerdings die Mittagssonne hellglänzend in die Kelche der Lotosblumen schien, träumenden Vogel sanfte und still begütigende Worte.
Trotz solch schrecklicher Nachtreden war aber der Dechant die Sanftmuth und Herzensgüte selbst und am Tage in seinem Benehmen von den gewähltesten Ausdrücken. Zur Bestätigung dessen hätte man nur seine zierlichen Billetchen zu lesen brauchen, z. B. die Zeilen, die er schon heute früh geschrieben hatte, um vom eigengezogenen Obst des heutigen Desserts ein Körbchen voll an Frau Majorin Schulzendorf (die Gattin des Chefs unsers braven Wachtmeisters Grützmacher) zu übersenden. Unter einem Briefbeschwerer von Achat lagen die beantworteten, unter einem andern von Marmor die noch zu beantwortenden Briefe. Das waren allerdings keine »Regierungsschinken«, wie sie gewöhnlich genannt und früher zum Räuchern gleichsam in den Schornstein gehängt wurden: zierliche, duftende Billetchen waren es, und manche darunter weit her und weit hin, besonders aus und nach Wien, das der Dechant alle drei Jahre zu besuchen verpflichtet war.
Heute fesselte ihn ein Brief, den er lange in der Hand behielt. Es war eine vor Tisch erst empfangene Antwort. Er hatte an einen geistlichen Freund geschrieben, der sich mit dem Ausdeuten von Handschriften beschäftigte und daran ebenso viel Vergnügen fand, wie seinerseits der Dechant an seiner 129 Kupferstichsammlung, seinen Gemmen und den Alterthümern von Herculanum, Pompeji, Babylon, Ninive, die er um sich breitete und in Dutzenden von Mappen sammelte. Diesem Freunde hatte er einige Zeilen einer Handschrift vorgelegt, die ihm vor einigen Wochen in einem anonymen Briefe mit mehreren Poststempeln aus dem Canton Tessin in der Schweiz, aus Chur in Graubündten, aus Lindau am Bodensee zugekommen war. Der Chirogrammatist schrieb ihm, die bezeichnete Handschrift wäre eine verstellte und gehörte einem Manne an, der mindestens fünfzig Jahre zählte, einen melancholisch-phantastischen Charakter hätte, niemals Börsengeschäfte zu machen im Stande wäre, in unserm Jahrhundert des Yankeethums sich nicht recht heimisch fühlte, am liebsten in einer kleinen verschwiegenen Villa am Lago di Lugano, am Fuße der Alpen oder in einem düstern Eichenwalde in den Thälern Piemonts wohnen könnte, einem Manne endlich, der, wäre er ein Feldherr, wie Cincinnatus hinterm Pfluge würde die Gesandten empfangen haben, die ihm das Consulat bringen wollten, einem Manne, der, wenn er ein Fürst wäre, doch wie Dionysius in Korinth den Schulmeister hätte spielen können, einem Manne, der Staaten lenkte und dabei junge Mädchen unterrichtete im Griechischen, Hebräischen, auch wol Abends beim Thee mit einer Scheere zierlich ausschneiden könnte – kurzum wie dergleichen Thatsachen die Handschriftdeuter bis zur Beantwortung der Frage, ob der betreffende Schreiber gern Sauerkraut äße und die unlöbliche, vielen großen Geistern jedoch eigene Gewohnheit hätte an den Nägeln zu kauen, herauszubringen wissen. Ja, der Correspondent trieb seinen Scherz noch weiter. Der Dechant las, daß der anonyme Briefschreiber »Werther's Leiden« auswendig wüßte, keinen Monat bis zum Dreißigsten mit seiner Gage auskäme und sich in jeder Stadt gefallen würde, 130 nur in keiner, die zu gleicher Zeit Festung wäre oder an einem schiffbaren Flusse läge –
Nun zog der Dechant, lächelnd und kopfschüttelnd, aus einem der Schubkasten seines Mahagoni-Schreibbureau einen Brief, an dessen vielfach gestempeltem Couvert man die Veranlassung dieser chiro- und einfach romantischen Deutungen und Ahnungen erkannte. In anonymen Briefen liegt, wenn sie uns nicht aus feigem Versteck mit Grobheiten regaliren oder die Ansicht eines einzelnen Dummkopfs zu einem »Es geht das Gerücht« aufblasen, ein eigener Reiz, zumal wenn sie, wie dieser, ein verschwiegenes Abenteuer provociren, ein Stelldichein, das freilich nach dem vorliegenden Briefe aus dem Canton Tessin in der Schweiz (so gern der Dechant alle drei Jahre an die Ufer der Donau reiste und sich in seinen »St.-Zeno-Angelegenheiten« einige Monate lang von den Wirbeln und Strudeln des wiener Lebens wie der Jüngsten einer und dann ohne alles Uebergewicht treiben ließ – Frau von Gülpen blieb daheim –) etwas beschwerlich war und über das ohnehin im Dunkeln gehaltene Alter des Dechanten hinauslag. Der anonyme Brief hatte gelautet und lautete immer noch, wie er ihn auch kopfschüttelnd betrachtete:
Sub sigillo confessionis.
Fiat lux in perpetuis! Quando quis tibi occurrit fidei romanae sacerdos, qui...«
Oder geben wir die Uebertragung:
»Unter dem Siegel der Beichte. Es werde Licht in Ewigkeit! Sollte Ihnen ein römischer Priester bekannt sein, der nicht den Tod eines Huß, Savonarola, Arnold von Brescia scheuen würde, um unsere Kirche von ihren Fehlern zu reinigen, so theilen Sie ihm unter dem Siegel der Beichte mit, daß sich am 20. August 18** unter den sogenannten Eichen von Castellungo zwischen Coni und Robillante am Fuß des 131 Col de Tende aus allen Theilen der Welt eine Versammlung gleichgesinnter Freunde und Wetteiferer um die Ehre unsers neuen Martyriums einzufinden gedenkt. Es werde Licht in Ewigkeit!«
Als schon vor längerer Zeit der Dechant diese räthselhaften Zeilen erhalten hatte, war seine erste Regung keine wie über einen Scherz. Er hatte wirklich eine Religion, den Aberglauben. Ganz wichtige Dinge gab es, deren Ausführung er abhängen ließ von der geraden oder ungeraden Zahl seiner Rockknöpfe. Die Ferne, die seltsame Zumuthung an sich selbst, ein mit so vielen Stempeln versehener Brief, alles das machte ihm einen geheimnißvollen Eindruck, ja es lag in dem Briefe etwas, was ihn im ersten Augenblick erschreckte. Nicht gerade die Handschrift, nein, der schwärmerische Geist des Inhalts erinnerte ihn an seinen theuern Bruder Friedrich. Später legte sich der erste Reiz dieser Zuschrift. Die gewohnte Bequemlichkeit sagte ihm: Dieser Briefschreiber ist entweder ein Narr oder es liegt dem Ganzen eine Fopperei zum Grunde! Man weiß sehr wohl, daß ich gewiß am wenigsten Lust habe, einen Scheiterhaufen zu besteigen, selbst wenn ich bis zu dem Versammlungstage neunzig Jahre zählen würde, wo ich mir vielleicht nichts mehr aus der Krankheit machen würde, an der ich doch nun einmal sterben müßte! »Aus allen Theilen der Welt!« Auch aus dem Sirius? – sagte er sich. Der Dechant besaß von allen irdischen Dingen, auch den großen Culturreformen, die Meinung, daß diese sich ganz von selbst machen müßten, wie die Gletscher, die sich seit Jahrtausenden aus kleinen Zufälligkeiten der Lokalität und Atmosphäre bilden und still und unhörbar von Jahrhundert zu Jahrhundert fortrutschen und die Gestalt verändern. Später nahm er dann an, daß sich's der Briefschreiber ein schreckliches Geld hatte kosten lassen, diesen oder ähnlich abgefaßte Briefe an hundert 132 andere Geistliche zu schicken. Doch schonte er das Geheimniß; er nahm wirklich an, daß es ihm gleichsam in der Beichte mitgetheilt war und horchte blos hierhin und dorthin, ob nicht aus den Gesprächen seiner Amtsbrüder Anklänge an diese auch an sie ergangene Einladung sich heraushören ließen; indessen war ihm nichts davon seither aufgestoßen. Das hatte ihn dann wieder aufs neue erschreckt bis zur Nachforschung bei jenem Freunde, den er die Handschrift aus einigen auf dünnem Papier durchgepausten Worten beurtheilen ließ. Und bei alledem war ihm erst heute wieder die Ahnung gekommen, als wüßten wol auch andere um den Brief. Zufällig war der 20. August erwähnt worden, der Tag des heiligen Bernhard von Clairvaux, – einige Fanatiker, unter ihnen der Franciscanermönch, tadelten an diesem gelehrten und gottseligen Theologen sein gegen das unbefleckte Geborenwordensein der Mutter Gottes abgegebenes Votum – er sah bedeutungsvoll im Kreise rundum, forschte auf den Mienen; aber selbst als während des Gewitters und vor dem Essen der Speisesaal zu dunkel wurde und der alte Windhack an den Fenstern die Vorhänge höher hinaufzog mit den harmlosen Worten: Fiat lux in perpetuis! achtete von den Anwesenden niemand der von Windhack's Seite nur zufällig gegebenen Anspielung weiter, als die Anerkennung der bereits bekannten Bildung des alten Bedienten mit sich brachte. So fiel denn wieder die Frage schwer auf sein Inneres: Wer hat gerade dich, dich erkoren, einen so unglücklichen Märtyrer aufzutreiben? Kennt man die Hoffnungen, die wir alle auf Bonaventura setzen? Dann mußte er sich freilich sagen, daß Bonaventura zu einer Richtung gehörte, die an Rom irgendetwas ändern zu wollen für leere Freigeisterei hielt.
Wie der Greis so sann und sann, gesellte sich allmählich zu dem Zwitschern der Vögel noch das Geräusch eines über die 133 Teppiche des Fußbodens im Zimmer selbst still hin und wieder Wandelnden. Windhack war es, der vor einigen Stunden das Fräulein Lucinde Schwarz empfangen hatte. Wollte das kleine graue Männlein, dem eine spitze Nase und eine stark gewölbte Stirn das unverkennbare Gepräge eines ins Detail gehenden Forschers gaben, sich lieber mit der Thatsache beschäftigen, daß in diesen gegenwärtigen Augustnächten die reichste Ausbeute von Sternschnuppen zu erwarten war, oder unterstützten sein stark geröthetes Antlitz und gewisse klare, glückselige Augen, die auf einen gründlichen Verwahrer der übriggebliebenen Weinreste des Diners schließen ließen (daß die dem Keller des Dechanten zu übergebenden Weine vorher gründlichst durchkostet und kennerhaft geprüft waren, gehörte nächst der Haarwuchsbehandlung des Hauses und aller Freunde desselben zu den unbestrittenen langjährigen Vorrechten des alten Exjesuitenzöglings), wir sagen, unterstützten diese äußern Merkmale seine Kritik des, wie das ungeduldige Männlein sich äußerte, »überstandenen« Diners oder schmunzelte und lächelte er darum so behaglich, weil ja nun Frau von Gülpen's neueste »Nichte« angekommen war – genug, er begann sich bemerklich zu machen und wie ein guter Diener ganz leise, ganz nur zufällig, nicht etwa hereinplatzend und die Stille der Betrachtung seiner Herrschaft störend. Er brachte eine Zeitung, griff dann nach einem an dem Porzellanofen hängenden eleganten rothen Staubwischer und wedelte sanft über die Minerva hin, über den Guido Reni, über die Kupferstichmappen, mehrere nach hinten versteckte und jetzt erst sichtbare Carlo Dolces und einige noch etwas mehr versteckte und von freistehenden Bücherrepositorien verborgene Torsi alter heidnischer Erinnerungen, zu denen selbst die Venus von Milo gehörte.
Der Dechant wußte nun, daß Windhack etwas zu melden hatte. Hm! sagte er. Schon fünf? Zeit zur Conferenz?
134 Noch eine Viertelstunde, Herr Dechant!
Das Getrommel in der Stadt wird die ganze Nacht dauern –
Hier hören Sie's ja nicht!
Benno angekommen?
Doch wol –
Hedemann –?
Gesund und vergnügt! Auch der junge Thiebold de Jonge –
Und –?
Assessor von Enckefuß –
Armgart nicht?
Nein, aber das Fräulein –
Welches Fräulein? Aha! besann sich der Dechant. Nun?
In diesem Nun lag viel, sehr viel, und, wenn man will, in dem lächelnd wiedergegebenen: Je nun! des alten Dieners lag noch mehr. Es lagen zwei Lebensgänge in diesen kleinen Worten. Einer durch die schönen Tage auf Schloß Neuhof unter den Tänzerinnen, Sängerinnen, Marquisinnen und Vicomtessen seines alten Freundes des Kronsyndikus bis nach Wien und Paris – Der andere Lebensgang von da zurück in diese stille Klause hier zu Kocher am Fall, einer Stadt an einem Bergstrome, der wie von einem ungeheuern Sarge herniederzugleiten schien. Und eben wollten beide ihr Nun? und ihr Je nun! auf die ihnen geläufige Weise erläutern und ausführen, als eine leichte, unsichtbare, gleichfalls fast unhörbare Rollenthür in der Tapete leise aufschnurrte und Frau von Gülpen eintrat. Auch Frau von Gülpen machte die Anzeige, daß Fräulein Schwarz angekommen wäre und dem Dechanten ihre Aufwartung machen könnte –
Petronella von Gülpen war die jüngere Schwester Brigittens von Gülpen, der bereits im Jahre 1809 auf Schloß Neuhof entthronten Beherrscherin des Kronsyndikus. Beide Schwestern gehörten einem Familiensystem an, das sich durch Jahrhunderte in 135 der Nähe geistlicher Sitze in einer Weise fortpflanzt, die, wie man von einem Fahnenadel spricht, ebenso von einem Krummstabadel sprechen lassen könnte. Es ist immer eine und dieselbe Familie, wenn auch die Namen wechseln. Die weiblichen Bestandtheile derselben sind diejenigen, auf welche es am meisten ankommt; die dazu nöthigen Männer sind mehr zufällig und die Verbindungen schließen sich geheimnißvoll und unerklärt. Die Mutter der beiden Schwestern von Gülpen war die Wirthschafterin eines Fürstabts; ihr »Vater« war ein ehemaliger Unteroffizier Friedrich's des Großen, der jedoch in der aus hundertzwanzig Mann bestehenden Armee des Fürstabts eine Stellung als Lieutenant gefunden hatte. Ueber Witoborn, eine Priesterstadt, hinweg waren sie auf Schloß Neuhof gekommen, Brigitte als die Aelteste und eine ganz in der Schule eines ehemaligen Unteroffiziers Erzogene, Petronella um zehn Jahre jünger und allmählich zur Freundin des Dechanten erkoren und demzufolge von einem höhern Aufschwunge der Bildung, ja mit den Jahren sogar theilhaftig geworden aller Feinheiten eines in so hohem Grade gewinnreichen Umgangs. Tyrannisirt von ihrer Schwester, war sie früh ebenso zum leidlich Guten geartet, wie jene zum entschieden Schlechten. Der schon 1803 säcularisirte Fürstabt, ihr Vater, wir meinen ihr Landesvater, hatte nichts für sie thun können und den ehemaligen Unteroffizier Friedrich's des Großen hatte schon in der Reichsarmee, die 1793 gegen die Sansculotten zog, noch vor der Kugel eine zu volle Ladung jungen Weines in irgendeinem geistlichen oder weltlichen, jedenfalls neutralen Keller getödtet. Seit Jahren waren beide Schwestern von einander getrennt. Obgleich sie sich haßten und nichts von einander wissen mochten und jetzt wol auch kaum noch etwas von einander wußten, hatten sie doch manches gemein. Petronella mußte man nur in jenen nächtlichen Augenblicken sehen, wo sie in der Kontusche, mit einer spitzenverzierten 136 Dormeuse über die ganze Stirn und einer das Kinn fast einhüllenden weißen Tüllbandschleife, dem unsteten Lolo Worte der Liebe und Beruhigung sprach; man mußte sie sehen bei den vielen andern tagscheuen Gelegenheiten, z. B. da, wo sie, allerdings höchst liebevoll, den Schwächen aller geschaffenen Creatur beim guten Dechanten zu Hülfe kam. Frau von Gülpen würde, das ist wahr, keine Barmherzige Schwester abgegeben haben für ein großes Spital von allerlei wildfremden Schneidergesellen oder vom Gerüst gefallenen Maurern und Zimmerleuten; dazu hätte es ihrem jetzt so vornehmen Sinn und ihrer Neigung für Exclusives durchaus an Stimmung gefehlt – sie begriff nie – und sie sagte das auch – wie es jetzt wieder Gräfinnen und Personen von Distinction geben könnte, die ganz so wie im »Alterthum« unter die Barmherzigen Schwestern träten und für allerlei »fremden, unsaubern Pöbel« Kamillenthee und Haferumschläge machten und, wenn »dergleichen Bagage« gestorben wäre, sogar deren Leichen wüschen – aber – bei einem »einzelnen Herrn«, bei einer geliebten Persönlichkeit, und wäre diese an Bedürfnissen selbst ein ganzes Spital, ein ganzes Sacré Coeur oder eine lebendige Charité gewesen, da konnte sie sich den schwierigsten Pflegen des menschlichen Leichnams unterziehen. Da gab es kein Seitenstechen, für das sie nicht eine passende Flanellreibung gehabt hätte, kein Magendrücken, dem sie nicht Erleichterung durch irgendeinen Thee verschaffte, keinen Frostballen, dem sie, bei verschlossener Thür und die Brille auf der Nase, nicht sogar eigenhändig mit einem scharfen Messer, wenigstens an der sterblichen Hülle des Dechanten, zu Leibe gegangen wäre. Nur mußten die Menschen, denen sie die edeln Liebesrathschläge widmete – die Liebeswerke gehörten lediglich nur dem Dechanten – zu dem Kreise ihrer nächsten Beziehungen gehören. Sie mußten durch Distinction und Namen in der Gesellschaft eine Stellung 137 einnehmen. Es war das schöne Lebensprincip der »Frau« von Gülpen, daß Natürliches niemanden schände und um so weniger schände, als es einmal im Plane der Schöpfung gelegen habe, den Menschen aus einem so höchst erbärmiglichen Stoffe zu bilden, einem Stoffe, der bei jedem schönen Abendspaziergang sich eine Erkältung und von der wohlschmeckendsten Truthahnpastete eine Indigestion zuziehen könne. Den Lebensberuf der Frauen fand diese Dame darin, daß sie für die Männer, die sie lieben, in einem ewigen Kampfe gegen die Unzulänglichkeit von »Kraft und Stoff« liegen sollten. Ihre Waffen waren ein Arsenal von Leibbinden, Wärmsteinen, Fußsäcken, Kräuterkissen, Senfteigen, Theevorräthen aller Art, sowol schweißtreibender wie beruhigender, luftfördernder und lufthemmender Art, nicht eingerechnet die vielen Pillen, Pulver, Tropfen und noch unausgeführten Recepte, die sie zu häuslichen Vorkommnissen sich aus guten gemeinnützigen Schriften oder aus bewährten klösterlichen oder Familientraditionen niederzuschreiben pflegte, selbst für Fälle, die nur in schreckhafter Möglichkeit lagen, z. B. die Hundswuth. Aber die erschaffene Creatur auch in ihrem behaglichen Befinden hatte in Frau von Gülpen ihre treueste Beförderin. Man mußte sie sehen an jedem Montag bei der großen Revision der alten und neuen Wäsche; an jedem Dienstag unter den Nähterinnen, welche sie, ein liebes Mädchen, Trendchen Ley, an der Spitze, an der Wäsche flicken und stopfen ließ; an jedem Mittwoch auf dem wichtigen Mittwochmarkte zu Kocher, wo sie mit der prüfenden Uebersicht eines Feldherrn die vorhandenen Vorräthe an Wild und Geflügel musterte; an jedem Donnerstag, wo es dann regelmäßig in der Dechanei ein Diner gab; an jedem Freitag, wo die heilige Fastenordnung und ihre specielle intimste Vertrautheit mit der Kunst des Backens und der höhern Fischsaucen sie selbst zur Köchin machte; an jedem Sonnabend, wo sie dafür zu sorgen hatte, daß sie 138 nur selbst obenauf blieb und wol gar nicht selbst krank wurde, aus Angst, daß es der Dechant werden könnte, der an diesem Tage früh die Schulen zu inspiciren hatte und dann oft von drei Uhr Nachmittags bis spät Abends im Beichtstuhl festgehalten wurde und trotz aller Vorsichtsmaßregeln, trotz Fußsack, Pelz und Kohlentopf im Winter, nach Hause immer so ermüdet kam, so geistig durchschüttert, von der hochwichtigen Function des Anhörens fremder Seelenbekenntnisse so sehr um alle eigene Lebensstärke gebracht, daß er erklärte, nur die schönste, seelenvollste Musik in einem Nebenzimmer, eine Musik wie von Seraphshänden gespielt, könnte ihn wieder in den Zusammenhang mit Gottes harmonischer Weltordnung bringen! Essen konnte nicht der Dechant Sonnabend Abends. Denn, sagte er, von dem, was ein katholischer Priester in der Beichte alles zu Gehör bekommen muß, würde wenigstens ihm so weh und schlecht ums Herz, so tiefjämmerlich um Seele und Magen herum, so vollständig und unendlich satt zu Muthe, daß er nur noch Appetit zu Himmelsspeise haben könnte, zu Eliaskost, von Raben oder geradezu Engeln oder sonstigen Boten Gottes credenzt. Glücklicherweise kam dann der stolze, feierliche, hochherrliche katholische Sonntag mit seinen brennenden Lichtern, mit seinen gestickten Meßgewändern, mit seinem duftenden Weihrauch, mit seinem erhebenden Orgelton, seiner sicher jahrtausendjährigen Regelmäßigkeit – der hob, der tröstete, der erquickte ihn dann wieder – wenn er auch durch vierzigjährige Gewohnheit das Heiligste verrichtete, ohne davon eine andere Vorstellung zu haben, als die eines Traumes, geträumt mit wachem Auge. Am Sonntag Abend fing er erst wieder an sich als Mensch und von dem Ernst des Lebens minder schmerzhaft berührt zu fühlen.
Jene Sphärenmusik aber, jene Lücke am sonnabendlichen Thee, welche die gute Frau von Gülpen selbst nicht ausfüllen konnte, 139 jenes Bedürfniß nach Eliaskost war die Veranlassung, daß seine treue Freundin in fernen Gegenden eine so weit verbreitete Verwandtschaft hatte. Seit dreißig Jahren sagte man zu Kocher am Fall, daß diese nie schöne, aber immer wohlgesinnt gewesene »Seitenverwandte der Asselyns« für die Ihrigen doch auch das mildeste Herz von der Welt hätte. Eine Nichte nach der andern zog sie an sich! Sie sorgte, wenn sie nicht gleich beim ersten Eindruck misfiel und oft schon nach vierundzwanzig Stunden abreiste, »für deren Ausbildung«, ließ sie in der Dechanei wohnen und verschaffte ihr den Schutz und den Beistand des wohlwollenden und gütigen Herrn, dessen Pflege sie ohne höhere Ansprüche für sich selbst und mit einer in der That klösterlichen Entsagung seit so langen Jahren schon übernommen hatte. Nur böse Zungen waren es, die behaupteten, daß die Familie der Frau von Gülpen merkwürdigerweise einen höchst unbestimmten Typus hätte. Denn bald wären die Nichten aus einer blonden, bald aus einer braunen Seitenlinie, bald hätten sie schwarze, bald blaue Augen, bald gehörten die Nasen dem griechischen Profil an, bald säßen sie mit zierlichem Trotz stumpf auf Gesichtchen, die indessen alle, das blieb unbestritten, hübsch waren. Mesalliancen gab es in dieser weitverbreiteten Familie der Gülpens leider sehr viele, denn einige »Nichten« trugen adelige, andere nur bürgerliche Namen. Darin aber waren sie sich alle gleich, daß sie erstens, wenn sie länger als einige Wochen blieben, sämmtlich anmuthig, zweitens gebildet, drittens musikalisch sein mußten, viertens jedoch daß darum keine länger bei der Tante blieb als nur zwei Jahre. Ueber letztern Umstand gingen verschiedene Gerüchte – Die einen behaupteten, für ein geistliches Haus hätte ein längeres Verweilen, da ohnehin alle mit der Absicht kamen, nur die Tante auf einige Zeit zu besuchen, anstößig erscheinen müssen. Die andern sagten, Frau von Gülpen hätte mit dem Dechanten die feierliche 140 Abrede getroffen, daß sich keine von ihren Nichten jemals dürfte einfallen lassen, irgendwie in ihre Rechte einzutreten, was allerdings bei einem zu langen Verweilen in der Nähe des für alles Schöne lebhaft empfindenden Mannes zu besorgen war. Man sagte ferner, daß diese Trennungen oft schmerzliche Scenen herbeigeführt hätten, deren Nachklänge der Dechant nur durch seine jeweiligen wiener Reisen vergaß – Lucinde war etwa die zwanzigste Nichte, die schon nach Kocher am Fall gekommen war. Ihre Vorgängerin war zufälligerweise Angelika Müller gewesen, jene Lehrerin, in deren Persönlichkeit entweder eine arge Verwechselung stattgefunden hatte oder die dem, der sie empfohlen – es war nicht der Philosoph Doctor Laurenz Püttmeyer selbst – zu sehr verklärt erschienen sein mochte durch die Schönheit ihres Geistes und Herzens. Dennoch hatte Angelika Müller bei der »Tante« sechs Wochen bleiben dürfen.
Der Dechant verstand den eigenthümlich aufgeregten und freudvoll-leidvoll gemischten Blick seiner langjährigen Freundin, mit dem auch sie jetzt, aber tief aufseufzend, die »neue Acquisition« ankündigte. Geschah dies doch regelmäßig mit demselben unheilverheißenden Tone, demselben Unkenruf des Mistrauens und der Furcht wieder vor einer solchen »wildfremden Person«, der »niemand ins Herz blicken könne«, und die sogleich bei erster Begrüßung für das scharfe Auge der Kennerin gewöhnlich irgendeinen bedenklichen Fehler hatte. Die eine sprach ihr sogleich viel zu rasch, die andere viel zu rauh, die dritte hatte keine »Lebensart«, die vierte deren zu viel, die fünfte war naseweis, die sechste simpel – und an der Toilette schon, an der Wäsche, an der Frisur konnte Frau von Gülpen unterscheiden, weß Geistes Kind die von außenher, durch allerhand Vermittelungen empfohlene »Person« war – Ja, wenn auch eine ihrer Nichten allen Kennzeichen, die der Dechant nur verlangte, noch so 141 vollkommen entsprach, für Frau von Gülpen konnte sie irgendetwas haben, das ihr einen »Odeur« – sie meinte »Horreur« – verursachte – Kurz, der Dechant und Windhack, beide waren die erste Verurtheilung schon gewohnt und regelmäßig fanden beide hintennach bei eigener Anschauung, daß die so verfehlt geschilderte Acquisition »gar nicht so übel war«.
Nur heute bedauerte der Dechant, daß er jetzt sich eilen müßte in die Conferenz zu kommen. Ja da der neue Ankömmling nicht sogleich mit Frau von Gülpen schon eintrat, da man erst nach Lucinde Schwarz klingeln mußte, da des gefallenen Regens wegen Frau von Gülpen auch noch auf eine warme Fußbekleidung für den Dechanten drängte, so wurde beschlossen, die Vorstellung zu lassen bis zur Zurückkunft. Fand sie dann auch, da sich zum Thee jeden Abend Gesellschaft auf der Dechanei einstellte, vielleicht vor Zeugen statt, so konnte man ja dann gerade am ehesten beweisen, daß der neue Nichten-Besuch nur der Gesellschafterin des Dechanten galt, nicht ihm selbst.
Indem Windhack seinem Herrn jetzt behülflich wurde, sich zum Ausgang wärmer anzukleiden, begleitete er die Aeußerung der Frau von Gülpen, Windhack hätte sie ja auch schon gesehen! in seinem sanften Redeton, der ihn dem Dechanten besonders werth machte, mit den Worten: Ja, halt ganz wie die Berenice!
Der Dechant wußte, daß Windhack mit dieser Vergleichung nur die Figur eines Sternbildes meinen konnte. Wie so? Berenice? fragte er, eine weiße Halsbinde unter die schwarze legend, während Frau von Gülpen aufhorchte.
Wenn Sie sich die fünf Sterne der Berenice durch Linien verbunden denken und den obern sozusagen als den Kopf, so kommt halt ungefähr das neue Fräulein heraus! sagte Windhack.
Hoffentlich, bemerkte der an solche Schilderungen gewöhnte Dechant, hoffentlich heißt das nicht, daß die Dame einen Buckel hat?
142 Frau von Gülpen meinte schon: Gewiß! Sie geht sehr übergebeugt! Frau von Gülpen dachte an ihren eigenen geraden Wuchs und daß man bei etwas Tournure selbst als Sechzigerin immer noch manches vor der grünen Jugend voraushaben könne. Sie wußte nicht, daß die Vergleichungen ihres Aussehens mit der Schreckgestalt der alten »Hauptmännin« Lucinden sogleich mehr als sonst in Furcht und Nachdenken versetzt hatten.
Sonst aber sehr anmuthig! fuhr Windhack fort. Sehr freundlich! Mit jedem schon so, als wenn sie jahrelang mit ihm bekannt wäre! Mich hat sie gleich gefragt, was es für Menschen im Monde gäbe? Sie arrangirt sich jetzt halt oben ihre Kammer!
Der Dechant verfolgte diese Andeutungen nach der Richtung hin, wie ein derartiges neues Wesen in dem nicht immer ganz stillen Frieden der Dechanei sich künftig würde bewähren können. Er erschrak, als Frau von Gülpen bereits daran erinnerte, die Nichte wisse, daß sie nur vorläufig auf drei Tage »zum Besuch«, d. h. zur Probe da wäre. Hm! Hm! sagte er, Menschen im Monde! Sie kennt also schon unsere Schwächen – wollt' ich sagen – unsere Forcen! Windhack, eine Nichte, die Astronomie verstand, die hatten wir ja wol noch nicht? Richtig! Die Müller'n! Aber die trieb mehr die Mathematik! Lieber Gott, sie war selbst wie 'ne grade Linie! Hm! Berenice! Hatte die Berenice nicht ein schönes, berühmtes Haar? Das Haar der Berenice! Blond, lichtblond, wie der Name andeutet, Lucinde! Nicht?
Mit diesen Worten schritt der Dechant schon die steinernen Treppen hinunter. Windhack begleitete ihn und sagte: Im Gegentheil, Herr Dechant! Schwarz wie 'ne Novembernacht ohne Frost! Ein Regenschirm ist nicht nöthig, Frau von Gülpen!
Frau von Gülpen war bis zur Hälfte der Treppe mit 143 hinuntergegangen. Sie blieb da stehen, wo sich eine Thür zu einem Wirthschaftsentresol befand. Dort wollte sie noch einen Regenschirm mitgeben, den auch der Dechant ruhig genommen haben würde. Er hätte auch einen Sonnenschirm genommen, hätte man ihm einen in die Hand gesteckt; er würde höchstens gefragt haben: Sind jetzt so kleine Regenschirme Mode? Windhack begleitete ihn bis an das hohe Hausportal.
Als Windhack zurückkehrte, rief ihn Frau von Gülpen in die Wäschkammer und wollte wissen, was die zweideutigen Anspielungen mit der »Berenice« hätten sagen sollen? Die Vertraulichkeiten des Dechanten mit seinem alten Diener gingen zuweilen auf ihre Kosten. Beim »Haar der Berenice« hatte der Dechant einen scharfen Blick auf ihre Frisur geworfen – So behauptete sie wenigstens –
Windhack erzählte mit Harmlosigkeit, daß es einst einen berühmten alten Astronomen, Namens Kanon, und eine ägyptische Königin. Namens Berenice, gegeben hätte und letztere hätte ihren Mann in die Schlacht schicken müssen, hätte aber gelobt, käme er gesund wieder heim, so würde sie den Göttern – der Venus, Frau von Gülpen, sagte Windhack – ihre Haare opfern, d. h. in ihren Tempel stiften, wie wir Wachskerzen stiften oder silberne Herzen; und nun, fuhr Windhack fort, hatte der Astronom Kanon das Haar der Berenice zwar vielleicht abgeschnitten, aber nicht in den Venustempel abgeliefert, sondern gleich gesagt, die Götter hätten es in die Sterne versetzt, dicht an die Mähne des Löwen – auch halt ein Sternbild, Frau von Gülpen! – Nun wisse man nicht recht, mit wem der Kanon unter einer Decke gesteckt hätte, vielleicht mit der Königin selbst, die wol ihr schönes Haar zuletzt nicht gern hergegeben hätte und vielleicht interimistisch die Hauben erfand, bis es ihr wieder hätte gewachsen erscheinen können, oder mit den Venuspriestern, die diese Haare vielleicht zu ihren 144 Perrüken verwandten und keine Rechenschaft hätten darüber ablegen wollen – Kurzum, wenn man den Kanon nach dem Haar der Berenice fragte, Frau von Gülpen. so zeigte er halt immer auf die Sterne, woher auch vielleicht mit der Zeit die Redensart: »Mondschein« entstanden sein mag für einen ausgegangenen oder halt sehr kahlen –
Schweigen Sie! unterbrach Frau von Gülpen mit Entschiedenheit.
Windhack verstand sich aufs Frisiren wol noch sicherer als auf das Angeben bevorstehender Mondfinsternisse. Er besorgte nicht nur die richtige Form der Tonsur des Dechanten, sondern auch die gewellten künstlichen und schön kastanienbraunen Scheitel der Frau von Gülpen; jedoch so umständlich von Haaren zu sprechen, widersprach überhaupt aller »Conduite« und »feinen Lebensart«. Frau von Gülpen suchte für Lucinden, deren größerer Koffer erst mit Fuhrgelegenheit nachkommen sollte und die sich etwas von dem Regen durchnäßt gefühlt hatte und von der Wäsche der Frau von Gülpen einiges bis auf weiteres in Anspruch nahm, allerlei Frauenzimmerliches aus, von dem sie dann gleichfalls sagte, daß auch das ihn nichts anginge – Gehen Sie! Gehen Sie! sagte sie, Sie mit Ihrem Kanon. Heute bei Tische ist so viel von Kanonen gesprochen worden, daß ich jeden Augenblick erschrecke und glaube, sie schießen in der Stadt.
Das rauschendste Trommeln hörte man jetzt allerdings.
Windhack ließ Frau von Gülpen zu der in der Weißzeugkammer arbeitenden Nähterin, Trendchen Ley, eintreten, er selbst verfügte sich auf die Sternwarte, um für die Auguststernschnuppen seine Gläser zu prüfen.
Der Dechant schritt inzwischen zur Stadt. Er hatte die Gewohnheit, auf den gekieselten Wegen, die unmittelbar um die Dechanei her durch den kleinen Park sich schlängelten, und auch 145 noch auf den Stufen, die zum Dom emporführten, ganz besonders freundlich zu grüßen. Ernster aber wurde er oben am Dom selbst. Vollends vornehm und sogar etwas kalt war seine Art, wenn er die Stufen niederwärts zu Kocher am Fall selbst hinunterschritt. Man sagte, er entblößte nicht gern sein Haupt. Die einen meinten, weil er die Schwäche besaß, seine Tonsur zu verbergen, andere, weil er die Zugluft fürchtete, und wieder andere, weil ihn ein ewiges Grüßenmüssen von Krethi und Plethi bei aller Freundlichkeit des Herzens verdroß.
Heute wurde er kaum beachtet; denn es wimmelte von Soldaten. Eine Aufregung hatte die ganze Stadt ergriffen. Unter den einfachsten bunten Röcken steckten Bürger, Hausbesitzer, Handwerker, junge Oekonomen, Förster, Studirte der ganzen Gegend. Nun rannten auch noch die Frauen und die Kinder und wollten auf dem Marktplatz die »Parade« sehen und die Handwerker hatten ihre Arbeit eingestellt und standen in den Hausthüren, viele auch der Einquartierung gewärtig, die sie auf drei Tage bekommen konnten; auf dem Marktplatz nach dem Appell und der Revue wurden eben dazu die Billets ausgetheilt. Und an Ausspannungen und Gasthäusern waren Laubpforten errichtet, Fahnen wehten aus den Fenstern. Teppiche hingen sogar an den Häusern nieder, wie bei einem Kirchenfest. Und dazwischen spielten auch schon die Kinder Soldaten, rasselten mit Trommeln, kokettirten mit Dreimastern aus Zeitungspapier. Und die Kühe mußten denn doch auch noch durch die engen Gassen hindurch und sogar eine große Hammelheerde über den Brückensteg am Fall. Des Ho! Ha! He! 's war kein Ende. Bis auf den Marktplatz schallte es, wo schon die Glieder antraten und auf allen Budendächern die Straßenjugend saß, künftige Rekruten des großen Militärstaats selbst. Und Bataillon schwenkt! commandirte jetzt Major von Pritzelwitz, 146 der Führer des »Stabes«, glückseligst wieder die Seinigen »beisammen zu haben«, »seine Jungens«, »seine Kinder« – Er selbst zog das doppelte Tuch nicht aus – Und nun hätte einer über diese kerzengeraden Colonnen sagen sollen: Das sind Handwerker, Bauern, Oekonomen, Förster, Studenten, Referendare? Es waren Krieger, schon so gut, wie die, welche bei Leipzig und Waterloo gefochten haben.
Und auch der Dechant nickte höchst befriedigt, als es dann ein donnerndes Halt! gab. Er suchte und suchte. Richtig! da fand er den schlanken, heute so extrabrünetten, sonnenverbrannten, »wol zu spät gekommenen« Herrn Neveu mit dem gestutzten Bart- und Kopfhaar, der jetzt nicht einmal lächeln, nur mit den Augen blinzeln durfte, um ihn zu grüßen, und fünf Mann weiter stand der wunderliche Kauz, der Blonde – Thiebold de Jonge, dem Hedemann und Ulrich von Hülleshoven – er sah auf die Weinberge am Fuß des grauen Gebirgsarges – das Leben gerettet hatten. Und des Dechanten Herz schlug nun doch freudiglichst, so unter der Masse da die herauszuerkennen, die ihm lieb und unendlich werth waren.
Auch er respectirte die militärische Ordnung und grüßte nur mit einem holdseligen Lächeln und einem höchst ironischen Zuge um die Lippen, als wollte er sagen: Na, da werdet ihr denn jetzt gedrillt, ihr jungen Weltstürmer, und müßt wie die Gliedermänner zappeln und Fuß und Hand heben, nicht wie eure hochherrliche, freie, beneidenswerthe Jugendlust es will, sondern wie der alte Major von Pritzelwitz es commandirt und ihm der Polizeiassessor, heute Lieutenant von Enckefuß, euer Zugführer. nachdonnerwettert! Euch schon recht, euch schon recht!
Und in seinen Spott und seine Freude rasselten nun die Trommeln. Die Pickelpfeifen schrillten. Die Ladestöcke klingelten. Schulzendorf, der Gensdarmeriemajor, jagte mit einer Suite 147 Gensdarmen hinter den Marktbuden daher, um Platz zu machen. Auch Grützmacher war schon wieder da, vielleicht ohne den Leichenräuber; jetzt aber fegte er die Straßen rein von allem, was die Entwickelung der Kraft und Größe seines Vaterlandes hemmen konnte.
So aus dem Lager der Ghibellinen trat der Dechant in das Lager der Welfen. In einem engen Gäßchen ging es zur Stadtschule und zur Stadtpfarrei.