Der Zauberer von Rom / II. Buch
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82 11.

Inzwischen war Lucinde nicht müßig gewesen.

Das Billet der Frau von Gülpen hatte sie zwar eine Weile so niedergeschmettert, wie einst vor Jahren Serlo's Tod an jenem Abend, als sie in ihm den einzigen Menschen zu finden gehofft hatte, der mit der Fähigkeit, Trost zu geben, für sie noch auf der Welt vorhanden war. Eine Weile hatte sie sich gesagt: Du gehörst denn also wirklich zu den Unglücklichen, die keine Ruhe im Leben finden werden! Zu den Gezeichneten, vor denen alles flieht! Zu denen, die gehaßt werden, wo sie doch lieben, falsch erscheinen, wo sie sich doch voll Vertrauen hingeben! Zu den Unglücklichen, vor denen die Mütter ihre Kinder wegreißen, weil sie glauben, schon ihre freundliche Anrede thäte ihnen Leides, ihr Auge hätte den bösen Blick, der Verderben bringt! Zu den Unglücklichen, die, was sie auch im Leben beginnen, keinem etwas recht machen können, immer eine andere Absicht haben sollen, als sie aussprechen oder zeigen – ach! und denen wirklich auch die Natur, grausam genug, die Hand des Ungeschicks gegeben hat, daß sie fallen lassen, was sie angreifen, alles nur noch mehr verwirren, was sie lösen möchten!

Sie kämpfte jetzt zwischen zwei Rathgebern und Beiständen. Sollte sie sich an Bonaventura wenden oder an Beda Hunnius? Jener war noch gestern, auch vorgestern, so freundlich und gut 83 mit ihr gewesen. Ihr einziges Lebensziel, in dieses Priesters Nähe und Vertrauen, in seinem Abglanz zu leben, und wär' es als Magd, es war ihr wieder in so unmittelbare Nähe gerückt. Und doch auch Er! Wie war im Grunde seine Freundlichkeit so ablehnend, seine Höflichkeit so kalt! Ihr schien es geradezu seltsam, daß sich auch Bonaventura vor ihr fürchten konnte, fürchten als Verführerin zum Bruch seiner Gelübde! Bitter sagte sie sich: Daß diese Männer ewig nur das Eine in uns finden können –! Nur die Evanatur, die Schlange! Nie und nirgends etwas Anderes!

Nach einigen Stunden der Verzweiflung, des Zornes, der Hoffnung auf einen versöhnlichen Schritt vielleicht von Seiten des Dechanten oder von Seiten Bonaventura's, entschloß sie sich – da sie nun auch noch Bonaventura und den Dechanten das Haus verlassen sahe und nichts kam, sie zu befreien von ihrem Jammer, von ihrer Demüthigung, – die Hülfe Beda Hunnius' in Anspruch zu nehmen.

Ihr Zimmer zu verlassen wagte sie nicht – aus Scham, etwa Benno oder Hedemann zu begegnen – jeder Stein schien sie zu verhöhnen – jedes Baumblatt schien ein Mitleid mit ihr zu haben, das sie nur verletzte. Ja an Hunnius wollte sie schreiben. Geräthschaften dazu gab es in ihrem Koffer. Sie öffnete und legte alles Nöthige heraus.

Als sie geschrieben, hatte sie zwei Gelegenheiten, deren sie sich zur Abgabe des Briefes bedienen konnte. Die eine war Napoleone Biancchi, der sich vom Dechanten nicht ganz hatte abweisen lassen, sondern die Treppe hinaufstieg und nach Signora Schwarz fragte. Auch das mußte Frau von Gülpen hören und sehen! Der Ankauf schon einer Kunstsammlung im Hause! sagte sie, als sie den Italiener an die Thür verwies, wo man den Moses Michel Angelo's hatte kaufen wollen.

84 Lucinde begrüßte den Italiener gefaßt, lehnte den Ankauf nicht ab, gab für die Statue, was Napoleone verlangte. Dann ließ sie Porzia grüßen. Sie erfuhr richtig, daß Hedemann seiner Tochter gestern den Dienst erwies, den sie vorausgesetzt hatte. Auf ihren Glückwunsch zur »schönen Müllerin von Witoborn« machte Napoleone eines jener charakteristischen Zeichen, mit denen der Italiener dreierlei abwehrende Gedanken zu gleicher Zeit ausdrücken kann, sagte aber doch: Herr Hedemann wollte von Ihnen italienisch lernen!

Bitter lächelnd über die Zerstörung all dieser Hoffnungen. die sich für das Leben in Kocher so traulich angelassen hatten, überlegte sie, ob sie ihren Brief für die Stadtpfarrei durch Napoleone besorgen lassen sollte. Inzwischen fiel ihr Blick vom Fenster aus auf einen Ankömmling, der in den Wegen des Parkes sichtbar wurde, eine hohe, kräftige weibliche Gestalt, welche unverkennbar von gestern die Jüdin war. Sie trug auf dem einen Arm ein Kind, auf dem andern einen großen verdeckten Korb.

Rufen Sie mir jene Frau mit dem Korb und dem Kinde herauf! sagte sie zu dem Italiener, der sich gern dazu erbot und der aus ihrem Erstaunen nicht mehr herauskommenden und wie auf Wachtposten stehenden und lauschenden Frau von Gülpen die Mittheilung machen konnte, daß Lucinde ihm einen seiner werthvollsten Abgüsse abgekauft hatte. Frau von Gülpen mußte glauben, die Ausgewiesene wollte sich trotzdem hier häuslich einrichten.

Lucinde stand aber sinnend vor dem Gesetzgeber der Juden, dessen kolossale und markige Formen eher einem Hercules angehörten, wenn man nicht an den Propheten des »starken und eifrigen« Gottes denken wollte. Ist doch nicht jeder Priester nur ein Schatten! sagte sie. Nicht jeder nur ein kalter todter Begriff! Nicht jeder nur im Bienenstock die Drohne! Nicht jeder nur ein Mann, schimpflich genug, in langen Frauenkleidern!

85 Das paßte wie auf Moses so auf Beda Hunnius. Sie hatte den Brief, den sie an letztern geschrieben, noch einmal überlesen. Sie schilderte dem neuen Freunde ihr Misgeschick in der Dechanei und bat um seinen Beistand.

Als sie gesiegelt, klopfte es. Die Hasen-Jette trat ein. Auch ihr hatte Frau von Gülpen mit den Worten den Weg zur Mansardenstube gewiesen: Ich sehe, dort oben bekommt noch heute die ganze Stadt Audienz! Gehen Sie nur! Ich will doch sehen, was das für ein Ende nimmt!

Frau Henriette Lippschütz trat in gewählterer und minder phantastischer Kleidung ein, als sie diese Nacht anhatte. Am rechten Arm hielt sie einen mächtigen Korb voll frischgeschossenen wilden Geflügels, das auf einer Unterlage von zusammengerollten und gleichfalls verkäuflichen groben Scheuertüchern, Zwirngebinden, Bandrollen, Schwefelfäden, Feuerzeugen und dergleichen ruhte; auf der Linken trug sie einen Knaben von mindestens schon zwölf bis dreizehn Jahren.

Tragen Sie einen so großen Jungen noch auf dem Arm? fragte Lucinde.

Mein Davidchen! antwortete die Jüdin. Das Kind ist so schwach auf die Beine! Und weil nun die Tante Ley gestorben ist, fürchtet sich das Kind zu Hause! Wir wohnen gerade gegenüber dem Unglück! Komm, Davidchen, sitz dich auf das schöne Sopha da! Das Fräulein erlaubt es! Womit kann ich dienen?

Lucinde nahm Kleider und Wäsche vom Sopha, aber der große Knabe protestirte mit langgezogenem, weinerlichem Tone und hielt sich am Halse seiner Mutter fest.

Fürchtest dich doch nicht, Davidchen? Eine so schöne Dame! Hände wie Seide! Komm, Davidchen! Laß dich sitzen!

Nein! war die Antwort, weinerlich langgezogen und entschieden.

86 Und voll unendlichster Milde und Nachgiebigkeit sagte die große Frau: Willst du nicht, Davidchen? Nun, so gib dich nur! Ich will den Korb niederstellen! Womit kann ich dienen, Fräulein? Sie hielt unverwandt den schweren Knaben.

Ich hätte gern einen Brief von Ihnen in die Stadt besorgt – sagte Lucinde.

Die Frau nahm den Brief; aber David sagte: Ich – ich will ihn haben!

Willst ihn haben, mein Sohn? sagte die schwächste aller Mütter. Er kann nichts sehen Geschriebenes, er will's haben! Gelt, David, du gibst einen Gelehrten?

So schmeichelte sie dem David, nur damit er nicht den Brief zu tragen begehrte. Die kluge Frau sah bereits, daß das Fräulein den Brief nicht offen getragen wünschte. Zum Glück war David eitel und wollte noch gründlicher seine Kenntnisse leuchten lassen. Er zeigte auf den Korb und sagte:

Achetez quelque chôse, Mademoiselle! Nous avons des jolis objets à vendre!

Was hat er gesagt? Was hat er gesagt? rief die entzückte Mutter.

Lucinde übersetzte es und rühmte aufrichtig des Knaben Genie.

Der Onkel laßt ihn lernen alles zu Hause durch Maîtres! Das Kind ist so klug! Aber es kann nicht gehen in die Schule! Gleich ist es müde, wenn es ist gegangen eine halbe Stunde – es ist so schwach auf die Beine!

Also David kann gehen! sagte Lucinde voll Entrüstung über den großen Jungen, der sich tragen ließ.

Er studirt soviel! wiederholte die gute Mutter.

Aber wieder wollte David den Brief haben und die Adresse lesen. Er bekam ihn auch und übersetzte die Adresse gleich ins Französische.

87 Das Kind! sagte Frau Lippschütz. Nichtwahr, Fräulein, der Brief ist auf die Post?

Auf die Post? wiederholte Lucinde. Sagt' ich's denn noch nicht? Nein, liebe Frau! – sie gab ihr ein Geldstück – bringen Sie den Brief in die Stadtpfarrei –

Wohin? fiel die Frau mit einer sich verdüsternden Miene ein.

Zu Herrn Hunnius!

Hunnius –? sagte die Jüdin und während sie immer mehr in Verlegenheit gerieth, betrachtete David das Geldstück, das er der Mutter sogleich aus der Hand genommen hatte. Ein Frédéric d'argent! sagte er.

Was hat er gesagt?

Ich hätte Ihnen einen silbernen Friedrichsdor gegeben!

Ein Viergroschenstück ein silberner Friedrichsdor.

Doch erhob sich die Freude der Mutter nicht mehr zu dem frühern strahlenden Glanze über die Kenntnisse und den Witz ihres Kindes, sie zögerte und nahm Anstand, das Billet in die Stadtpfarrei zu tragen. Fräulein! sagte sie. Ich muß Ihnen etwas sagen! Ich will schicken eines von den Kindern der armen Frau Ley! Es will auch kommen ein Herr, der Trendchen Ley möchte mitnehmen in die Stadt und will sich erkundigen nach ihr beim Herrn Stadtpfarrer! Ein Kind wie eine Prinzessin! Dabei die Arbeitsamkeit selbst!

Warum wollen Sie nicht selbst gehen?

Ich kann nicht gehen in die Klostergasse –

Liegt da die Stadtpfarrei?

Ich kann nicht gehen über die Schwelle der Stadtpfarrei –

Sind Sie so rechtgläubig?

Die Jüdin lehnte diese Auslegung ab –

Auch die Dechanei ist die Wohnung eines christlichen Geistlichen – sagte Lucinde.

88 Die Jüdin sah sich um, mit einer Miene, die offenbar so viel sagen wollte als: Hier, in diesem toleranten Hause empfind' ich nicht das, was mich in der Stadtpfarrei stören würde. Zugleich fiel erst jetzt ihr Auge, das sie unverwandt nur auf ihren David gerichtet hatte, auf das ansehnliche Gipsbild, das Lucinde auf eine Kommode gestellt. Gott! rief sie plötzlich. Wer ist der Mann?

Hercules, der Gott der Stärke! sagte David.

Nein – warf in steigender Aufregung seine Mutter ein –

Es ist Moses, euer Gesetzgeber! berichtigte Lucinde.

Hätte mir eins gesagt: Henriette, es ist dein Onkel, der Doctor Leo Perl – ich würde gesagt haben: Der Kopf! Der Blick! Das Auge. Ja! Gott im Himmel, das war ein Mann – man hätte geglaubt, er zerschmeißt die Welt – und muß sich taufen! Tauft sich in der Stadtpfarrei! Hier in Kocher vor seiner ganzen Familie! Es war meiner Mutter Bruder! Und der Mann, gewesen wie ein Löwe, ist zusammengegangen wie ein Kind, wie wenn ich sagen wollte, der Moses da auf der Kommode geht zusammen wie mein David hier auf dem Arm!

In diese lebhafte Anschauung einer Phantasie, die das kleine Gipsbild doch im vollen lebensgroßen Bilde des Propheten sah, wiederholte mehrmals David mit kritischer Schärfe: Warum sitzt Moses?

Die Mutter, die wieder leicht im Stande gewesen wäre, zu erwidern: Auch er war schwach auf die Beine! hatte vor Trübheit ihrer Erinnerungen keinen Ausdruck der Bewunderung mehr über eine Frage, die schon Winckelmann beschäftigt hat, sondern hob den Korb in die Höhe, bat Lucinden, ihr die Thür zu öffnen und versprach, das Billet so pünktlich besorgen zu lassen, als wenn sie es dem Stadtpfarrer selbst überbracht hätte.

Als Lucinde allein war, entsann sie sich auf des Dechanten 89 gestriger Erzählung, daß Leo Perl von ihm sein Freund genannt worden und sogar der Geistliche gewesen sein sollte, der Bonaventura getauft hatte.

Es vergingen ihr jetzt zwei der peinlichsten Stunden ihres Lebens. Ungeduldig schritt sie auf und ab, las eine Weile, schrieb, schloß und öffnete das Fenster, sah bald nach dem kleinsten Geräusch, bald verschmähte sie es, ihre Aufmerksamkeit auf ein größeres zu richten. Wagen rollten an und ab. Aus der Ferne hörte sie die militärischen Uebungen – Trommeln und Schießen. Sie las in Serlo's Erinnerungen – in Hunnius' Saronsrosen – sie schrieb an Joseph Niggl, an den Vorsteher des orthopädischen Instituts – sie wußte noch nicht, ob sie dahin zurückkehren sollte. Sie zeichnete sich mit der Feder auf ein leeres Blatt Papier als Pilgerin mit Muschelhut und dem Wanderstabe – sie dachte alles Ernstes daran, ganz so in dieser Tracht hinauszuwandern in die Welt und die zu ärgern, die für ihre katholische Wiedergeburt so wenig Anerkennung hatten. Sie sagte sich: An der Schwelle der Peterskirche will ich sterben!

Die Hoffnung, daß plötzlich Bonaventura eintrat oder der Dechant oder Benno oder irgendwer, der eine Vermittelung versuchte, erfüllte sich nicht. Gegen Mittag erschien Windhack und bot ihr zu essen an. Er wollte ihr auch alles, was sie begehrte, auf ihr Zimmer bringen.

Sie schüttelte den Kopf und wandte ihm den Rücken.

Im Spiegel sah sie, daß sich der Alte zu verwundern schien über die gemüthliche und noch so wohnliche Ordnung des Zimmers, die keine Spur einer Zurüstung zur Abreise trug.

Das Gipsbild wird halt ein bissel schwer zu verpacken sein! sagte er, mit Erwartung, was auf diese ironische Andeutung würde erwidert werden.

Statt aller Antwort trat Lucinde an die Kommode, fuhr 90 mit der Hand über sie hinweg und warf die Figur hinunter, die dann in hundert Scherben im Zimmer lag.

Windhack schien sein Gefallen an dieser Kraftäußerung zu haben. Lächelnd sagte er: Wenn Ihnen das Zimmer zu dumpf ist, Fräulein, und Sie frische Luft schöpfen wollen, hier geht gleich die Treppe zu meiner Sternwarte hinauf!

Lucinde sah nicht hin, dankte aber mit einer stummen Kopfverbeugung. Sie fühlte es wohl, daß in diesen Worten eine Anerkennung lag.

Der Dechant drückt Ihnen sein Bedauern aus! fuhr Windhack fort. Er hat es eben erst jetzt nach seinem Ausgang erfahren! Er läßt Sie fragen, ob Sie noch etwas zu wünschen hätten?

Lucinde schüttelte den Kopf.

Herr von Asselyn, der Pfarrer, ist schon nach St.-Wolfgang zurück.

Lucinde hielt sich mit beiden Händen krampfhaft am Fensterbret fest und sah zitternd gen Himmel.

Ein Bote hat ihn so schnell nach der Residenz des Kirchenfürsten berufen. Man sagt, er wird dort in eine Stelle an den Dom kommen, die offen ist.

Sie lächelte bitter. Ihre Gedanken sprachen: Also empor zu Paula's Prophezeiung!

Fräulein! näherte sich Windhack vertraulicher. Sie erwarten einen Brief? sagte er.

Nun wandte sich Lucinde.

Frau von Gülpen, flüsterte er, läßt niemanden mehr zu Ihnen! Ich habe den Brief – den hab' ich halt dem Trendchen Ley abgenommen – aber heimlich – Sie wollte Ihnen auch für Ihre Theilnahme danken, sagte das liebe Kind zur Frau von Gülpen. Ich merkte gleich etwas. Frau von Gülpen meinte, des Nachts wäre noch keine ihrer Nichten so aus dem Hause 91 gelaufen und wenn noch soviel Menschen in der Stadt im Sterben gelegen hätten. Sie würden abreisen! sagte sie. Und während mir das arme Kind dann vom Begräbniß der Mutter erzählte und von einem prächtigen Dienst, den sie bekommen soll, ließ ich mir halt heimlich von ihr den Brief zustecken –

Dann sich umsehend, wie wenn Frau von Gülpen an der Thür lauschen könnte, gab ihr Windhack das Billet und entfernte sich, um dem Verdacht zu entgehen, als wenn er sich auch noch »mit der Person auf Gesprächen betreffen ließe«.

Es war die Antwort des Stadtpfarrers. Lucinde erbrach und las: »Meine Hochverehrteste! Ich bin aufs tiefschmerzlichste berührt von einer solchen Ihnen widerfahrenen Behandlung! Kaum eine Freundschaft gewonnen, wie die Ihrige, und schon die persönliche Nähe preisgeben müssen! Aber zu erwarten war dieses schnelle Ende! Ihr Geist, Ihr Feuer, Ihre Bekenntnißtreue und – die Dechanei!« . . . Sie nickte, ganz jetzt übereinstimmend. »Hier an Ort und Stelle!« fuhr sie zu lesen fort, »wüßt' ich im Augenblick leider keine Gelegenheit, Sie zu fesseln! Ohnehin ist vor Ihnen als vor einer Emissärin gewarnt worden! Auch meines Bleibens ist hier ja wol schwerlich noch allzu lange! An dem Dom in der Residenz des Kirchenfürsten ist eine Stelle offen, für welche ich gegründete Aussicht habe, daß ich durch den Ihnen bekannt gewordenen Freund und Briefsteller designirt bin . . .« Lucinde unterbrach sich mit einem bittern Lächeln, als wollte sie sagen: Armer Thor! Diese Stelle ist schon für Bonaventura von Asselyn bestimmt und wird die Staffel werden zu seinem künftigen Bisthum. Und nun schon im Uebermaß ihrer Eifersucht, zerstreut durch den Gedanken, wie die alte Renate jetzt in St.-Wolfgang packen und aufbrechen und mitreisen würde, auch durch die Furcht erregt, jetzt wol gar Klingsohr und Bonaventura zusammentreffen zu sehen – fuhr sie zu lesen 92 fort: »Eine Anknüpfung ist vielleicht für Sie durch einen Mann möglich, den ich stündlich von der Residenz des Kirchenfürsten erwarte, einen vielvermögenden Herrn Schnuphase. Er hat, wie er hieher geschrieben, den Auftrag, daselbst für ein vornehmes, überaus reiches und einflußreiches Haus eine Gesellschafterin zu suchen, die gewisser Conflicte wegen mit besonderer Vorsicht gewählt werden muß –« Lucinde las diese Stelle noch einmal – Der plötzliche Gedanke, in die Nähe Bonaventura's und Klingsohr's verpflanzt werden zu können, ließ sie vor Aufregung den übrigen Inhalt nur noch überfliegen – »Das erste christliche Handelshaus daselbst ist das Piter Kattendyk'sche und wenn Sie vielleicht geneigt sein könnten, bei Frau Commerzienräthin Walpurgis Kattendyk –« »Postscriptum. Soeben kommt Herr Schnuphase am Hause vorgefahren! Der Vorschlag ist gemacht, erwogen, angenommen! Sie können, wenn Sie wollen, Herrn Schnuphase sofort begleiten und noch heute mit ihm in die Residenz des Kirchenfürsten reisen, wo Sie nach dem, was ich von Ihnen erzählt habe, im Kattendyk'schen Hause, zu einer der glänzendsten Stellungen, mit offenen Armen werden aufgenommen werden!« Lucinde mußte jetzt vor Aufregung, Glückseligkeit und dem triumphirenden Gefühl der Genugthuung und doch wieder auch vor Furcht, alles das – und was mehr, als die Hoffnung, in Bonaventura's Nähe weilen zu dürfen! – würde doch wieder scheitern, den Brief eine Weile aus der Hand legen.

Dann aber las sie den Schluß: »Sie können sich aber auch, wenn Sie vielleicht – und zu meiner höchsten Freude – noch einige Tage hier im ›Riesen‹ wohnen bleiben wollen, einer spätern Gelegenheit bedienen! Derselbe vortrefflichste Herr Schnuphase kehrt in einigen Tagen wieder zurück, um dann auch vielleicht die ihm von mir empfohlene bedauernswerthe Waise, 93 Gertrud Ley, abzuholen. die er in einer nicht minder respectabeln Stellung unterzubringen hofft, wie er sagt, bei einer verwitweten Frau Hauptmännin von Buschbeck –«

Das Papier entfiel Lucindens Händen. Was? rief sie laut vor sich hin und nahm den Brief wieder auf und las die Worte noch einmal. Es war wirklich dieser Name, wirklich war es Trendchen Ley, die diese ihr so wohlbekannte Stellung antreten sollte –

»Das Mädchen«, las sie zitternd weiter, »niedergebeugt von ihrem Verlust, überbringt Ihnen diese Zeilen selbst; zugleich will sie Ihnen aber auch ihre Freude ausdrücken, mit Ihnen vielleicht gemeinschaftlich die Reise machen zu können. Wäre nicht das Begräbniß ihrer Mutter noch abzuwarten, sie ginge schon heute.«

Zur Hauptmännin von Buschbeck? Die noch lebt? In der Residenz des Kirchenfürsten lebt? Zur Schwester meiner – zweiten Peinigerin? Hat diese vielleicht von Trendchen Ley den Namen ihrer Herrschaft gehört? Ist dieser nächtliche Drache, der ganz von derselben gespenstischen und gewissensscheuen Art ist, wol gar verbündet mit dieser Schwester, die jetzt, wie man ja fast glauben möchte, von den Frommen protegirt wird, sie, der zufolge nicht Gott, sondern der Satan die Welt regiert –?

So schossen ihre Gedanken dahin. Zuletzt konnte sie kaum glauben, daß die gemeinte Frau Hauptmännin von Buschbeck die ihrige war. Bei alledem überflog sie nur noch kurz die fast zärtlichen Schlußversicherungen der Hochachtung und Ergebenheit, mit denen Beda Hunnius seinen Brief geschlossen hatte, warf ihren Shawl um, setzte den Hut auf und eilte die Stiege hinunter, um, unbemerkt von allem, was sie im Hause etwa aufhalten, etwa anstaunen, etwa anreden konnte, hinüber in die Stadt zu eilen, wo sie, im Uebermaß ihrer neuen und 94 glücklichsten Hoffnungen, in der Pfarrei erwartete entweder Aufklärungen zu vernehmen oder deren vorsorglichst selbst zu geben, sollte ein ihr lieb gewordenes junges Mädchen, das sie kannte, in Gefahren gerathen.

Ihr Herz war vielleicht nicht mehr gut, aber auch nicht ganz böse –

Sie war das, was ein starker Bildner aus ihr hätte machen können, und ihre – Klugheit bewies sie darin, daß sie hinter Schnuphase's Diplomatie nicht zurückstehen wollte. Dieser hatte offenbar verschwiegen, daß für die vacante Domstelle Bonaventura bestimmt war. Sie unterließ es, Beda Hunnius zu reizen und ihm etwas mitzutheilen, was er vielleicht nur zu früh erfuhr.


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