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Drittes Kapitel

. Um die grauen Türme von St. Florin tanzten die Schneeflocken, als ob der Himmel beschlossen hätte, jeden Turmhelm, jeden Knauf, jeden Wasserspeier mit einer royalistischen Kokarde zu schmücken. Gegen die trotzigen Steinpfeiler der Moselbrücke donnerten die Eisschollen, schoben sich übereinander, zerbarsten und trieben dann als Opfer eines aussichtslosen Kampfes in Trümmern dem Rheine zu. Der Winter, dieser erbarmungslose Tyrann, der so gebieterisch Schweigen heischt, wo er erscheint, bei dessen Nahen die Vöglein verstummen und der Tritt des Wandrers lautlos wird, dessen Hauch das plätschernde Bächlein erstarren macht und die rauschenden Ströme in Fesseln schlägt, war gekommen, aber er hatte dem Lande jenseits der Vogesen die Ruhe nicht wiederzugeben vermocht. Aus den Wochen des Exils, von denen Marigny gesprochen hatte, waren Monate geworden, und nach dem, was das Koblenzer Intelligenzblatt über die Ereignisse in Paris berichtete, und was man gelegentlich aus Privatbriefen erfuhr, schien es nicht unmöglich, daß sich die Monate in Jahre verwandeln würden. Der Marquis, unfähig, sich mit den Tatsachen abzufinden, fuhr fort, sich über die Bedeutung der Geschehnisse zu täuschen, und gab nunmehr der Hoffnung Ausdruck, die vom Winter vergebens erwartete Wiederherstellung der alten Ordnung werde mit Beginn der guten Jahreszeit ganz von selbst eintreten. Im übrigen hatte seine Auffassung der Lage nicht die geringste Änderung erfahren. Daß der die Nationalversammlung beherrschende Geist mit deren Übersiedlung nach Paris noch viel revolutionärer geworden war, verursachte dem alten Aristokraten ebensowenig Sorge, wie die Säkularisation der Kirchengüter, die Veräußerung der Staatsdomänen und die damit in Verbindung stehenden schwindelhaften Finanzoperationen. Woran er sich stieß, und was seine monarchischen Gefühle am heftigsten verletzte, waren nach wie vor geringfügige Äußerlichkeiten. Die Nachricht, man habe Ludwig verboten, sich bei seinen Erlassen der alten, von den französischen Königen seit Jahrhunderten gebrauchten Schlußphrase »denn dies ist unser Belieben« zu bedienen, traf Marigny wie der härteste Schlag und raubte ihm auf mehrere Tage den Appetit. Nur die Erwägung, daß er die Nationalversammlung ja als legitime Körperschaft anerkenne, wenn er ein Schreiben an sie richtete, verhinderte ihn, auf solche Weise gegen diesen Beschluß Protest zu erheben. Aber er konnte jetzt stundenlang in seinen Familienpapieren kramen, und wenn er hierbei auf ein Dokument stieß, das das Lilienwappen trug, immer von neuem wieder die verschnörkelten Züge der Kanzleischrift lesen, bis ihm die Augen von den aufsteigenden Tränen trüb wurden, und die hohen dünnen Buchstaben des königlichen Namenszugs zu tanzen begannen und endlich langsam ineinanderflossen.

Die Küchenverhältnisse im »Englischen Gruß« hatten sich – und das tröstete den alten Herrn über manche andre Entbehrung und Enttäuschung – nicht unwesentlich gebessert, seit Marigny eines Tags in Beziehungen zu Herrn Schickhausen, dem kurfürstlichen Kapaunenstopfer – einem entfernten Verwandten der Wittib Haßlacher –, getreten war und durch ihn manche Bezugsquelle der Hofküche erfahren hatte. Bei solchen Konnexionen konnte es nicht fehlen, daß sich der Kurier, der allwöchentlich nach Mainz oder Köln reiste, um für Serenissimi Tafel Austern, Hummern und Seezungen zu holen, herabließ, gegen ein kleines Douceur auch die eine oder die andre Delikatesse für den Marquis mitzubringen. Es versteht sich von selbst, daß dieser auf die Zubereitung der so schwer errungnen Herrlichkeiten besondre Sorgfalt verwandte und an solchen Tagen Mutter Haßlachers Küche kaum verließ. Die Wirtin, die sich an den Anblick eines mit Schaumlöffeln und Spicknadeln hantierenden Edelmanns nachgerade gewöhnt hatte, wurde zum Danke für kleine Handreichungen allmählich in manches Geheimnis Marignyscher Kunst eingeweiht. Aber während der alte Herr sich dem Wahne hingab, daß er in der deutschen Kleinstadt eine Pflanzschule des verfeinerten Genusses begründe, die noch späte Geschlechter an den Aufenthalt eines Klassikers der Gourmandise in den Mauern von Koblenz gemahnen werde, erzählte Madame Haßlacher ihren Nachbarinnen und Gevatterinnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit, »ihr Franzose« zahle für das Quartier nur acht rheinische Gulden, mache sich aber dafür in der Küche nützlich und drehe stundenlang den Bratspieß.

Das Verhältnis des Marquis und seiner Tochter zu Henri von Villeroi war – äußerlich wenigstens – so geblieben wie vorher. Marigny war an den Verkehr mit dem jungen Freunde zu sehr gewöhnt, als daß er ohne weiteres darauf hätte verzichten können, obgleich er ihn seit jener Auseinandersetzung nicht ohne Mißtrauen betrachtete. Es war für den alten Aristokraten eine ausgemachte Sache, daß Henri vom Geiste der neuen Zeit angekränkelt sei, wenn er sich auch entschieden dagegen verwahrte, für einen Demokraten gehalten zu werden. Der Marquis begriff nicht, daß man ein Anhänger des Königs sein und dabei doch gewisse Forderungen des dritten Standes als berechtigt anerkennen könne; für ihn gab es zwischen dem bedingungslosen Royalisten und dem radikalen Revolutionär keine weitern Zwischenstufen.

Gar zu gern hätte er den Versuch gemacht, den jungen Edelmann zum politischen Glauben seiner Väter zurückzuführen, aber er fürchtete, daß jeder Widerspruch ihn nur in seinen Gesinnungen bestärken würde, traute sich selbst auch wohl kein ausreichendes Maß von Beredsamkeit und geistiger Gewandtheit zu, einen solchen Kampf mit einiger Aussicht auf Erfolg wagen zu dürfen. Er tröstete sich, so gut es gehn wollte, mit der Hoffnung auf den günstigen Einfluß der von revolutionären Miasmen völlig freien Koblenzer Luft und versprach sich nicht zuletzt auch von dem Verkehr Henris mit guten Royalisten, zu denen er sich natürlich selbst an erster Stelle rechnete, die heilsamste Einwirkung auf den vom rechten Weg abgeirrten Freund.

Villeroi seinerseits vermied geflissentlich alles, was eine Verschärfung der Gegensätze hätte herbeiführen können. Er verstand, daß sich sein alter Gönner nie zu seiner eignen Auffassung der Verhältnisse bekehren werde, und nahm sich vor, um jeden Preis ähnliche Auseinandersetzungen wie die bei seinem ersten Besuch im »Englischen Gruß« zu verhindern. Diese Rücksicht glaubte er nicht nur dem Marquis, der ihm stets ein väterlicher Freund gewesen war, sondern ganz besonders auch dem geliebten Mädchen schuldig zu sein. Aber bei diesen guten Vorsätzen hatte er nicht mit seinem heißen Blute gerechnet.

Man war stillschweigend übereingekommen, politische Gespräche auf die gegenseitige Mitteilung der eingetroffnen Nachrichten aus der Heimat zu beschränken, sich jedoch aller weitern Erörterungen über die Ereignisse zu enthalten.

So war man genötigt, um nur die Unterhaltung einigermaßen in Fluß zu halten, sich mit den nächstliegenden Dingen zu beschäftigen, denen man unter andern Umständen kaum eine besondre Beachtung gezollt haben würde. In diesem seichten Wasser fand sich der Marquis am leichtesten zurecht. Wenn ihm der weite und klare Blick für die Phänomene am politischen Horizont auch versagt war, so verfügte er, wie alle Kurzsichtigen, über ein desto schärferes Auge für die kleinen und meist auch recht geringfügigen Einzelheiten seiner nächsten Umgebung. Über das Leben und Treiben seiner emigrierten Landsleute, deren Zahl sich mit jeder Woche vergrößerte, wußte er weit genauer Bescheid als die bezahlten Spione der Revolution, die als Lakaien oder Haarkräusler die kontrarevolutionären Pläne der Flüchtlinge auszukundschaften suchten. Dazu kam, daß ihn Madame Haßlacher über den Koblenzer Stadtklatsch auf dem laufenden hielt, der denn in seiner relativen Harmlosigkeit dem an die mehr als pikanten Geschichten des Trianons und des Palais Royal gewöhnten Franzosen etwa so mundete, wie eine Walderdbeere dem von Ananas und Bananen übersättigten Gaumen eines Schleckers.

Marguerite und Villeroi, die, beide von Natur ernster als Marigny, an all diesen Nichtigkeiten wenig Gefallen fanden, waren nie glücklicher, als wenn sie den alten Herrn in der Küche wußten. Kein Mensch, der die beiden, wie sie in solchen Stunden beisammensaßen, beobachtet hätte, würde in ihnen ein Liebespaar der leichtfertigsten Nation und des leichtfertigsten Jahrhunderts vermutet haben. Der Ernst der Zeit und die nahezu hoffnungslosen Aussichten für die Zukunft hatten dem Bunde der jungen Herzen eine Weihe gegeben, die ihn festigte, aber ihm auch den poetischen Hauch raubte, ohne den wir uns den Brautstand – und am allerwenigsten den geheim gehaltnen – nicht recht vorzustellen vermögen.

In einem Punkte freilich täuschten sich die Liebenden, in ihrer Annahme nämlich, der Vater habe die große Wandlung, die mit den ehemaligen Spielgefährten vorgegangen war, nicht bemerkt. Der Marquis hätte blind sein müssen, wenn er all die zarten Aufmerksamkeiten, die Henri dem Mädchen erwies, und die schlecht verhehlte Ungeduld, mit der Marguerite den jungen Edelmann, wenn er einmal länger als gewöhnlich ausblieb, erwartete, nicht ihrem wahren Wesen nach erkannt hätte. Aber er ließ sich nichts merken – einmal aus persönlicher Bequemlichkeit, weil er sich davor scheute, Henri über das Aussichtslose seiner Bemühungen aufzuklären, und zum andern, weil er der Tochter das unschädliche Divertissement von Herzen gönnte. Sie konnte ja, so glaubte er, nie und nimmer an eine Verbindung mit dem gänzlich mittellosen Freunde denken. Und wenn dann erst ein annehmbarer Freier erschiene, mußte der Verkehr mit dem Jugendgespielen ja ohnehin aufhören. Also weshalb die beiden jungen Menschen in ihrem harmlosen Vergnügen stören? Zumal hier in der Fremde, wo man sich in den zwanglosen Formen des Landaufenthalts oder des Feldlagers bewegen durfte! Nein, der Marquis war kein Barbar! leben und leben lassen war von jeher seine Devise gewesen, und diesen Grundsatz wollte er auch in seiner Häuslichkeit befolgt wissen, unter der Voraussetzung natürlich, daß dabei das Dekorum nach außen hin auf das strengste gewahrt blieb, und daß seine eignen Absichten nicht durchkreuzt wurden.

An einem Spätnachmittag des Januars saßen Marigny, seine Tochter und Villeroi wieder einmal zusammen. Der Marquis, der sich nach langen vergeblichen Bemühungen endlich Zutritt bei Hofe verschafft hatte und an einem der vorhergegangnen Tage vom Kurfürsten zur Tafel gezogen worden war, konnte sich nicht genug darin tun, die Hofgesellschaft von Serenissimus bis hinab zum Türsteher in seiner sarkastischen Weise zu schildern und die genossene Gastfreundschaft mit der Überlegenheit des an den Glanz des Versailler Hofes gewöhnten Mannes zu kritisieren. Er fand die Einrichtung des Schlosses ärmlich, das Tafelsilber nicht massiv genug, die Wachskerzen zu dünn, dafür aber die Hofdamen der Prinzessin Kunigunde, der Schwester des Kurfürsten, zu dick, die Toiletten der Damen nicht nach der neusten Mode, die Herren schlecht frisiert, meinte, Clemens Wenzeslaus sei gegen die italienischen Sängerinnen seiner Hofkapelle zu leutselig, gegen seine französischen Gäste jedoch zu zurückhaltend gewesen, beklagte sich, daß man den Pontac zu kalt, den Rheinwein zu warm und die Straßburger Schnecken ohne Kräutersauce serviert habe, und ließ an der ganzen Festlichkeit nur die Tafelaufsätze aus sächsischem Porzellan und die Instrumente der Hoboisten gelten, von denen man ihm gesagt haben mochte, daß sie aus Paris bezogen worden seien.

Als er die Wahrnehmung machte, daß Henri und Marguerite seinem Berichte nur geteilte Aufmerksamkeit schenkten, brach er die Erzählung mit deutlichen Anzeichen der Verstimmung ab, trat an das Fenster, trommelte auf die Scheiben und trällerte die Arie aus Gretrys »Richard Löwenherz« vor sich hin, die seit dem Feste der Garden zu einer Art von Nationalhymne der Royalisten geworden war: »O Richard, o mein König, ob dich die Welt verläßt, ich bleib dir treu!«

Villeroi wußte den alten Herrn jedoch bald wieder einigermaßen zu versöhnen, indem er sich erbot, eine Partie Schach mit ihm zu spielen, wozu der Marquis jederzeit mit Freuden bereit war, obgleich er in der Regel dabei verlor.

Marguerite, froh, das drohende Unwetter vorüberziehn zu sehen, holte mit großer Dienstbeflissenheit das Schachbrett herbei und stellte selbst die zierlichen Elfenbeinfigürchen auf. Dabei hatte sie das Mißgeschick, den weißen König fallen zu lassen, sodaß er von der polierten Tischplatte hinabrollte. Das Mädchen wollte sich nach der Figur bücken, Henri kam ihr jedoch zuvor, hielt sie mit vorgestrecktem Arme zurück und fuhr dann hastig unter den Tisch. Unglücklicherweise hatte er nicht bemerkt, daß die Figur, die vollrund geschnitzte Statuette eines Phantasiekönigs, auf den unebnen Dielen weitergerollt war und nun unmittelbar vor seinem Fuße lag. Er trat darauf, griff danach und brachte einen König ohne Kopf und Krone zum Vorschein!

Das war ein Schade, den ein geschickter Drechsler oder Bildschnitzer ohne Schwierigkeit heilen konnte, denn der Bruch war glatt von statten gegangen, und so ließ sich durch Einfügung einer kleinen Schraube das gekrönte Köpfchen fester auf den Schultern anbringen, als es dort bisher gesessen hatte. Aber Marigny, vom Geiste Voltaires und Rousseaus noch unberührt, neigte dazu, in solchen geringfügigen und natürlichen Zufälligkeiten Vorbedeutungen zu sehen, die seine Stimmung gewöhnlich auf das ungünstigste beeinflußten. Er sagte zwar kein Wort; an seinen zusammengekniffnen Lippen und den seltsam zuckenden Fingern ließ sich jedoch deutlich genug erkennen, wie unangenehm ihn das Geschehene berührte, und wie schwer es ihm wurde, seine Gefühle hinter der gleichgiltigen Maske des Weltmanns zu verbergen.

Henri kam auf den unglückseligen Gedanken, sich und dem Partner durch einen Scherz über die fatale Situation hinweghelfen zu wollen, und so sagte er, indem er das enthauptete Figürchen vorwies: Was meinen Sie, Herr Marquis, ein König ohne Kopf, das wäre etwas nach dem Geschmacke des Grafen Mirabeau?

Der Marquis erwiderte nichts, aber seine Hände umklammerten krampfhaft die Armlehnen des Sessels. Marguerite bemerkte, als sie das Licht vom Kaminsimse nahm und neben das Schachbrett stellte, wie das Antlitz des Vaters sich gerötet hatte – stärker als nach der anstrengendsten Tätigkeit am Herde oder nach dem Genusse erlesener Tafelfreuden.

Villeroi, dessen Auge schon auf den Figuren ruhte, ahnte nicht, was er mit seiner so harmlos gemeinten Äußerung angerichtet hatte. Mit der Ruhe, die nur ein gutes Gewissen zu verleihen vermag, sagte er zu seinem Partner gewandt: Sie haben anzuziehn, Herr Marquis, das letzte mal, als Sie verloren, hatte ich die Partie begonnen.

Die Unbefangenheit Henris schien den Zorn des alten Herrn zu entwaffnen. Er rückte noch eine Weile mit dem Sessel hin und her, als ob bei diesem Spiele die Entscheidung von einem möglichst bequemen und sichern Sitz abhinge, und machte, ohne lange zu überlegen, den ersten Zug. Bald merkte Villeroi, daß sein Gegner heute ganz mechanisch spielte, daß er planlos zog und keine seiner Figuren genügend deckte. Schon nach wenig Minuten waren drei der weißen Offiziere außer Spiel gesetzt.

Jetzt war es Henri, der siegesgewiß und selbstvergessen die bewußte Arie aus »Richard Löwenherz« zu summen begann und nicht wenig erschrak, als Marigny in barschem Tone die Frage an ihn richtete:

Soll hier musiziert oder Schach gespielt werden?

Er entschuldigte sich mit einigen nicht gerade glücklich gewählten Redensarten, deren Wirkung überdies noch dadurch beeinträchtigt werden mochte, daß er in demselben Augenblicke Marignys Dame schlug. Damit war das Spiel für den Marquis aussichtslos geworden. Sein Partner glaubte es dem alten Herrn schuldig zu sein, ihn über die unvermeidliche Niederlage zu trösten.

Ich durchschaue Ihre Absicht, sagte er lachend, Sie entäußern sich Ihrer Figuren, um den König fremden Einflüssen zu entziehn und mir dann den Beweis zu liefern, daß ein Autokrat von rechtem Schrot und Korn zum Regieren weder eines eignen Kopfes noch der Köpfe seiner Ratgeber bedarf.

Das war der Tropfen, der das Gefäß Marignyscher Langmut zum Überlaufen brachte. Der Alte sprang empor, fegte mit einer einzigen Handbewegung das Schachbrett samt den Figuren vom Tisch, riß sich, als sei er dem Ersticken nahe, die Halsbinde ab und rief: Jetzt ists genug! Kein Wort mehr! Ich muß Sie ersuchen, mich wenigstens in meiner eignen Behausung mit Ihren Kränkungen zu verschonen. Wenn Sie revolutionäre Reden halten wollen, so gehn Sie doch nach Paris und lassen Sie sich durch Ihre Gesinnungsgenossen, die Herren Lameth, Duport und Barnave, in die Nationalversammlung einführen. Dort werden Sie an Ihrem Platze sein. Oder noch besser, ziehn Sie mit dem Pöbel vor die Tuilerien, den besten aller Fürsten zu verhöhnen; ich bin überzeugt, Sie dürften ein dankbares Publikum finden. Aber hier in meiner Wohnung dulde ich nicht, daß man die geheiligte Person Ludwigs mit Schmutz bewirft. Lange genug habe ich geschwiegen. Ich konnte nicht glauben, daß es eine Viper war, die ich an meinem Busen genährt hatte. Ich hätte es ahnen können. Der Geist der Widersetzlichkeit ist Ihr böser Dämon gewesen von Ihrer frühesten Jugend an, ihm haben Sie es zu danken, daß man Sie aus Ihrem Regiment ausstieß –

Herr Marquis! rief Henri jetzt auffahrend, sagen Sie alles, was Ihnen in den Sinn kommt, aber sagen Sie das nicht! Man hat mich nicht aus dem Regiment ausgestoßen, ich habe vielmehr aus eignem Antriebe meinen Abschied genommen!

Weil Sie Ihrer Ausstoßung zuvorkommen wollten, weil Sie wußten, daß Ihr Maß voll war –

Mag sein, gab Henri zurück, aber das berechtigt Sie nicht, die Tatsachen zu entstellen. Man soll auch im Zorne nichts Unwahres reden.

Wollen Sie mich der Lüge zeihen? Sie – dessen ganzes Dasein eine Lüge ist?

Mein ganzes Dasein eine Lüge? Was heißt das?

Villeroi hatte sich erhoben und stand dem Marquis Auge in Auge gegenüber. Nur der Tisch trennte als schmale Schranke die Streitenden. Da fühlte der junge Edelmann, wie sich zwei Hände auf seine Schultern legten und ihn mit sanftem Druck auf seinen Sitz niederzuzwingen versuchten.

Marguerite, geh hinaus! Laß uns allein! schrie der Marquis, über die Einmischung der Tochter jetzt noch mehr aufgebracht als über den Widerstand Henris.

Nein, gab das Mädchen mit großer Bestimmtheit zurück, ich bleibe. Die Parteien sind allzu ungleich. Die Jugend und der Starrsinn unsers Freundes sind ein paar Anwälte, die sich mit der Erfahrung der reifern Jahre und der Kunst der Selbstbeherrschung, die Ihnen, mein Vater, zu Gebote stehn, nicht messen können. Da halte ich es für meine Pflicht, ihm ein wenig von meiner Ruhe mitzuteilen. Und ihre Hände blieben auf Villerois Schultern liegen. Aber von der beruhigenden Wirkung dieser Maßnahme war wenig zu spüren.

Sie sind mir noch eine Aufklärung darüber schuldig, weshalb mein Dasein eine Lüge sei, sagte er mit blitzenden Augen.

Weil Sie ein andrer sind, als Sie zu sein vorgeben. Sie spielen den Aristokraten und sind dabei ein Revolutionär. Wären Sie ehrlich, so trügen Sie auf Ihrem Hute die dreifarbige Kokarde. Dann wäre man vor Ihnen gewarnt und könnte Sie vielleicht noch als einen Mann, der aus seiner Überzeugung kein Hehl macht, achten.

Sie widersprechen sich selbst, Herr Marquis. Eben weil ich aus meiner Überzeugung kein Hehl mache, glauben Sie mich mit Vorwürfen überhäufen zu dürfen. Sie kennen und respektieren nur eine Überzeugung, und das ist die Ihrige. Sie müssen sie teuer erkauft haben, so teuer, daß es Ihnen der Mühe wert schien, sie so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen.

Wollen Sie mir vorwerfen, daß ich Frankreich verlassen habe?

Vorwerfen? Wie käme ich dazu, ich, der ich doch dasselbe getan habe?

Nun also! Auch Sie sind geflohen. Es ist gut, daß Sie es zugeben!

Geflohen? Herr Marquis, Sie widersprechen sich schon wieder. Vor wem hätte ich fliehen sollen, der ich nach Ihrer Ansicht doch ein Revolutionär bin? Etwa vor Barnave, vor Lameth oder vor Duport, den Herren, die Sie meine Gesinnungsgenossen zu nennen beliebten?

Gut. Ich will annehmen, daß Sie die Wahrheit sagen. Sie sind also nicht geflohen. Natürlich. Weshalb hätten Sie auch fliehen sollen! Sie sind mithin aus einem andern Grunde hier. Soll ich Ihnen diesen Grund nennen?

Wenn Sie durchaus wiederholen wollen, was ich Ihnen bei meiner Ankunft sagte –

Sie sind nicht zum Vergnügen hier –

Wie mans nimmt. Ich hatte allerdings nicht darauf gerechnet, so wenig vergnügliche Stunden hier zu verleben.

Man hat Sie hierher gesandt –

Wer?

Ihre Freunde. Die Leute, deren Gesinnungsgenosse Sie sind. Sie sind ein Spion des Untersuchungsausschusses –

Herr Marquis!

Schweigen Sie, Villeroi – unterbrechen Sie mich nicht! Sie sind der Judas, der uns den Schergen der Revolution verrät. Darf ich fragen, wieviel man Ihnen für jede Nachricht aus Koblenz bezahlt? Wie viele Silberlinge Ihnen jeder aufgefangne Brief, jedes arglos ausgesprochne Wort einbringt? Erhalten Sie bares Geld oder Assignaten für Ihre Bemühungen?

Jetzt riß sich Henri aus Marguerites Händen los und stürzte zu der Fensternische, in die er seinen Degen zu stellen pflegte. Aber das Mädchen, seine Absicht erratend, kam ihm zuvor und rang mit ihm um die Waffe. Es gelang ihr zwar nicht, sie ihm zu entwinden, aber einer glücklichen Eingebung folgend faßte sie den Degen zugleich am Gefäß und an der Spitze und bog ihn so kräftig, daß der Stahl in der Scheide zerbrach. In diesem Augenblick zog der junge Edelmann vom Leder und trat – mit halber Klinge – vor Marigny hin.

Dieser hatte die kurze Frist nicht unbenutzt gelassen und sich eines Hirschfängers bemächtigt. Diese Waffe mit ausgestrecktem Arme dem Gegner entgegenhaltend suchte er mit dem Rücken Deckung an der Wand zu gewinnen. Der alte Herr war im Grunde kein Freund vom Blutvergießen, am allerwenigsten aber von Zweikämpfen, bei denen er selbst eine der Parteien zu sein hatte. Es kam ihm deshalb gar nicht unerwünscht, daß Marguerite, die den Geliebten wehrlos sah, sich vor ihm, dem Vater, auf die Kniee warf und ihn beschwor, das Leben Villerois zu schonen. Der Anblick des Degens in Henris Hand hatte Marignys Blut gewaltig abgekühlt. Daß die Klinge zerbrochen war, bemerkte er bei dem flackernden Kerzenlicht erst jetzt. So kehrte denn mit der Besonnenheit auch der Mut des Marquis zurück, und mit dem Mut kam die Erkenntnis, es sei an der Zeit, einzulenken und die Situation nach Möglichkeit auszunutzen.

Zunächst hieß er die Tochter sich erheben – eine Weisung, der das Mädchen, das in des Vaters Zügen seine Friedensbereitschaft gelesen haben mochte, wider Erwarten schnell nachkam. Dann steckte er den Hirschfänger wieder in die Scheide, mit der gravitätischen Bewegung etwa, wie sie den römischen Feldherren der Oper eigen ist, wenn die besiegten Feinde, um Gnade bittend, zu ihren Füßen liegen. Aber er hatte übersehen, daß er kein siegreicher Feldherr, und daß Villeroi kein gedemütigter Feind war. Seine Absicht, in einer wohlgesetzten Rede Amnestie zu proklamieren, wurde durch den Gegner selbst vereitelt.

Henri warf ihm nämlich die halbe Degenklinge mit höhnischem Lachen vor die Füße, wandte sich auf dem Absatze um, griff nach seinem Hute und schritt zur Tür. Aber Marguerite, von dem Gedanken beseelt, sie müsse verhüten, daß der Bruch zwischen dem Vater und dem Geliebten unheilbar würde, was bei dem Starrsinn der beiden Männer sicherlich eintreten werde, wenn sie sich jetzt unversöhnt trennten, versuchte Villeroi zurückzuhalten, indem sie ihn mit ihren Armen umklammerte und ihn bat, noch eine Minute – ihr zuliebe – zu bleiben.

Der junge Edelmann leistete nur geringen Widerstand, er mochte selbst einsehen, was für Folgen der beabsichtigte Schritt haben müsse, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre er in seinem Entschlusse, das Gemach ohne Gruß zu verlassen, wankend geworden. Aber das Schicksal schien nun einmal beschlossen zu haben, eine endgiltige Entfremdung zwischen zwei Menschen, die sich jahrelang herzlich zugetan gewesen waren, herbeizuführen.

Der Marquis sah in diesem Augenblicke nichts als das bekümmerte Antlitz seiner Tochter. Da kam ihm zum Bewußtsein, daß der Mann dort, der ihn eben noch mit der blanken Waffe bedroht, ihm auch das Teuerste, was er gehabt hatte, das Vertrauen und die kindliche Liebe Marguerites, geraubt habe.

Um den Wehrlosen zu retten, war das kühle, stolze Mädchen, das bis zu dieser Stunde noch niemals eine Bitte ausgesprochen hatte, mit erhobnen Händen auf die Kniee gesunken! Ihm, dem Freunde, nicht dem Vater, galt ihre Sorge; die Angst, ihn verlieren zu können, trieb sie von einer Selbsterniedrigung zur andern. Das war mehr als freundschaftliche Zuneigung, das war auch mehr als eine flüchtige Laune des Herzens, das war die Liebe selbst, die vor keiner irdischen Schranke zurückschreckt, die Entbehrung und Elend nicht scheut und Schande und Tod nicht fürchtet.

Und zu der Abneigung gegen den politischen Ketzer, zu dem Haß gegen den Mann, der sich zwischen ihn und seine Tochter gedrängt hatte, gesellte sich in Marignys Innerm noch der alte Familienhochmut seines Hauses, das seit Menschengedenken mit mühsam verhehlter Verachtung auf die armen Nachbarn hinabgeschaut hatte. Dieses ewig mit dem Hunger kämpfenden verabschiedeten Offiziers wegen sollten die Luftschlösser in Trümmer sinken, die sich der Marquis in stillen Stunden erbaut hatte – jetzt, wo er sich der Verwirklichung seiner Hoffnungen näher als je gewähnt hatte! Was nützte es nun, daß tagtäglich die Söhne der erlauchtesten Geschlechter Frankreichs eintrafen, daß an der Wirtstafel in den »Drei Reichskronen« nie weniger als fünf Herzöge, zweiundzwanzig Grafen und an die dreißig Marquis saßen, wenn die unselige Liebe zu Villeroi in Marguerites Herz jede Spur von Ehrgeiz erstickt hatte?

Aber gottlob! So weit war es doch noch nicht gekommen! Noch konnte der Vater ein Machtwort sprechen. Wenn in dieser tollen Zeit auch unglaubliche Dinge geschahn, wenn Minister ihren König, Kinder ihre Eltern, Diener ihre Herren verrieten, er, der Marquis von Marigny, durfte des Gehorsams seiner Tochter gewiß sein. Die frommen Schwestern von Sainte-Madeleine standen nicht umsonst in dem Rufe, den eignen Willen in den Seelen ihrer Zöglinge zu töten und gefügige Töchter heranzubilden. Bei Marguerite konnte es sich nur um einen Rückfall in den Trotz der Kinderjahre handeln, aber diesen Trotz wollte der Vater schon zu bezwingen wissen. Es würde ohne einige Tränen nicht abgehn, das ließ sich natürlich nicht vermeiden, der Marquis entsann sich jedoch, daß solche Tränen schnell zu versiegen pflegten.

Jetzt kam es vor allem darauf an, sich des jungen Edelmanns für immer zu entledigen. Es war schade um ihn, er war bisher ein angenehmer Gesellschafter gewesen, er verstand zu reiten und zu schießen wie kein andrer, er konnte erzählen, und was weit schwieriger ist, zuhören und wußte die Werke zu schätzen, die aus den Töpfen, Bratpfannen und Pastetenformen des Marignyschen Laboratoriums hervorgingen. Aber was half das alles, wenn der Mann Revolutionär war und überdies die Frechheit hatte, Ansprüche auf Herz und Hand der Tochter seines Gönners zu erheben? Hier gab es keine Wahl, keinen Ausweg. Schade um ihn, aber: fort mit ihm!

Und der alte Herr richtete sich in seiner ganzen Höhe auf, legte den Hirschfänger auf den Tisch und sagte, als ob er sich jetzt erst wieder des Vorgefallnen erinnere: Sie sind noch hier, Herr von Villeroi? Ich dächte, wir hätten uns nichts mehr zu sagen. Was mich betrifft, so will ich das Geschehene zu vergessen versuchen, das wird für uns beide das beste sein. Ich rechne darauf, daß Sie alles vermeiden werden, was mir diesen Tag in das Gedächtnis zurückrufen könnte. Unsre Wege trennen sich für immer, ich will und kann Sie nicht halten. Leben Sie wohl und gedenken Sie der Warnungen eines Mannes, der Ihnen ein väterlicher Freund war, und dem nichts übrig bleibt, als Ihre Verirrungen zu beklagen.

Henri wandte sich mit einer leichten Verneigung der Tür zu. Seine Hand lag schon auf der Klinke, da schrie Marguerite auf: Vater, Vater, lassen Sie ihn nicht so fortgehn! Sie sind es, der die Schuld an diesem Auftritt trägt. Sie haben ihn tödlich beleidigt. War es ein Verbrechen, daß er zum Degen griff? Halten Sie ihn zurück, wenn Ihnen am Lebensglück Ihrer Tochter gelegen ist!

Schweig, Marguerite! Dieser Herr ist für dich ein Fremder geworden! Und daß du seinen Namen nie mehr vor mir aussprichst! Hörst du, nie mehr! Sonst sollst du die Hand deines Vaters fühlen lernen!

Marguerite, begann Henri mit bewegter Stimme, dein Vater hat Recht, du mußt dich seinem Willen fügen. Du bist ja seine Tochter. Und ich möchte dich vor Kränkungen bewahrt wissen. Laß uns unsre Hoffnungen in ein gemeinsames Grab bestatten. Unser Traum war zu schön, als daß er zur Wirklichkeit hätte werden können. Leb wohl!

Er beugte sich auf Marguerites Hand und küßte sie.

Dann verließ er festen Schrittes und ohne den Marquis noch eines Blickes zu würdigen, das Gemach. Er war noch nicht auf dem zweiten Absatz der Treppe angelangt, als er einen gellenden Schrei vernahm. Gleich darauf riß jemand oben die Tür auf. Es war Marigny, der über den Vorsaal rannte und mit dem Ausdrucke ratlosen Schreckens nach Madame Haßlacher rief.

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