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Des heiligen römischen Reichs Pfaffengasse war seit Dezennien nicht so belebt gewesen wie in den Julitagen des Jahres 1792. Bewimpelte Schiffe glitten zu Berg und zu Tal, auf den Leinpfaden der Ufer keuchten die Pferde, und lange Reihen schwerer Reisekaleschen, von glänzenden Kavalkaden geleitet, ließen den Staub der Landstraßen nicht zur Ruhe kommen. In das schier ununterbrochne Festgeläute der Kirchen und Klöster mischten sich die Salutschüsse von den Stadtmauern und Festungsbastionen, und wo ein geschmücktes Fahrzeug vorüberzog, wo ein Wagenzug eine Ortschaft passierte, da strömte die schaulustige Bevölkerung zusammen und begrüßte nach der Väter Brauch die Reisenden mit vielstimmigem Vivatrufen.
Aber das Vivat klang nicht so froh und zuversichtlich wie früher bei ähnlichen Gelegenheiten. Es lag etwas in der Stimmung des sonst so lebenslustigen rheinischen Volkes, das der Gewitterschwüle jener Sommertage entsprach und keinen rechten Festesjubel aufkommen ließ. Es war, als hätten die Menschen geahnt, daß die seltsam geschnittnen, gestickten und verbrämten Gewänder, die mit edelm Pelzwerk besetzten Mäntel und die wunderlichen Hüte mit den wallenden Federn, die jetzt wieder einmal die Augen auf sich lenkten, bald zum Plunder der Vergangenheit gehören würden, als hätten sie geahnt, daß die Herren, die sich hier, gebläht von der Bedeutung ihrer Person, ihrer Würden und Ämter, in die Polster ihrer Kutschen schmiegten oder aus dem Sattel ihrer Rosse den Gruß der Bürger lässig erwiderten, zum letztenmal nach der freien Reichsstadt am Maine zogen, und daß durch die vollen Glockenklänge, die heute zur Krönung Franz des Zweiten nach Frankfurt luden, zugleich auch das Sterbeglöcklein der alten deutschen Kaiserherrlichkeit scholl.
In jenen Tagen glich Koblenz einem Bienenstocke vor dem Schwärmen. Aber die Aufregung, die alle Bewohner der Stadt, Noblesse wie Ratsstand, Bürger wie Fremde, gleichmäßig ergriffen hatte, galt nicht dem Sohne Leopolds des Zweiten und seinem Ehrentage; es war auch nicht Freude, was Alt und Jung Schlaf, Appetit und Lust zur Arbeit raubte, sondern Sorge und Furcht vor der Zukunft. Wohl bestieg auch der Kurfürst seine Lustjacht, um rhein- und mainaufwärts zu fahren und bei der Feier in Frankfurt des Amts zu walten, aber er reiste mit dem allerbescheidensten Gefolge und kehrte gar für die kurze Frist, die zwischen Wahl und Krönung des neuen Oberhaupts lag, zu einem kurzen Besuche nach Koblenz zurück. Verwirrung überall: beim Hofe, bei den Direktorien, beim Magistrat und beim Militär, Verwirrung nicht minder bei den Emigranten, die sich immer mehr als die Herren der Stadt zu gebärden begannen. Und was war die Ursache dieser allgemeinen Kopflosigkeit? Drei Worte, anfangs gerüchtweise gemunkelt und ungläubig aufgenommen, später bestimmter wiederholt und lebhafter erörtert, endlich öffentlich verkündet und durch tausend Anzeichen bestätigt, drei Worte nur, aber inhaltschwer: Die Preußen kommen!
Clemens Wenzeslaus selbst fühlte sich höchst unbehaglich. Für alles, was geschehn und nicht geschehn war, schien ihn jetzt die Verantwortung treffen zu sollen. Man machte ihm zum Vorwurf, daß er die landflüchtigen französischen Aristokraten bei sich aufgenommen habe. Ludwig der Sechzehnte beklagte sich bei ihm, die Nationalversammlung stellte ihm ihre Rache in Aussicht, die verbündeten Monarchen überhäuften ihn mit Tadel. Mehr als einmal hatte er die fremden Gäste zum Auseinandergehn aufgefordert, mehr als einmal durch strenge Verbote den Rüstungen und Truppenansammlungen auf kurtrierischem Gebiete zu steuern versucht. Aber anstatt daß die Emigranten abreisten, vermehrte sich ihre Zahl noch von Tag zu Tag, und um das Verbot bekümmerte sich niemand. Die Franzosen sprachen mit wahrer Begeisterung von der bevorstehenden Ankunft der Preußen, von denen sie glaubten, daß sie nur ihretwegen kämen, die geistlichen und die weltlichen Stände des Erzstifts dagegen fürchteten nicht ohne Grund, daß mit den Regimentern, die noch der Geist des großen Königs beseelte oder doch zu beseelen schien, eine neue, der milden und schwachen Herrschaft des Krummstabs feindlich gesinnte Zeit herannahen würde. Das Volk endlich, durch die Behörden beunruhigt, erwartete auf alle Fälle das schlimmste. Es rechnete fest darauf, doppelt beraubt zu werden, zunächst durch die mit den Preußen abziehenden Emigranten, die größtenteils seit Monaten alles schuldig geblieben waren, und sodann durch die Preußen selbst, die, wie seine geistlichen Berater prophezeiten, als Ketzer und Söhne des Antichrists zum mindesten Stadt und Land brandschatzen, wenn nicht ohne weiteres plündern würden.
So klang denn der Ruf »Die Preußen kommen!« nicht viel anders als etwa einhundertfünfzig Jahre vorher der Ruf »Die Schweden kommen!«
Und sie kamen! In unabsehbaren Kolonnen rückten sie an, Bataillon auf Bataillon, Schwadron auf Schwadron, das Antlitz von der Sommersonne verbrannt, die Montur mit Schweiß getränkt und mit Staub bedeckt und die engen Gassen mit einem Duft erfüllend, worin sich das Aroma des Tranks von Nordhausen mit dem beißenden Parfüm des braunen Krautes der Uckermark mischte.
Aber über den verbrannten Gesichtern, den straffen Zöpfen und den bestaubten Uniformen flatterten die zerfetzten Fahnen, die Roßbach, Leuthen und Zorndorf gesehen hatten, und unter den alten Grenadieren war noch mancher, der bei Minden, Liegnitz und Torgau mit dabei gewesen war.
Mit verhaltenem Groll hatten die Koblenzer zugeschaut, wie die fremden Truppen über die schnell geschlagne Schiffbrücke auf das linke Ufer rückten und in die Stadt zogen. Jetzt mußten sie Zeuge sein, wie Mannschaften vom Regiment von Thadden das kurfürstliche Militär vor der Hauptwache ablösten, und wie die meisten öffentlichen Gebäude von den preußischen Behörden mit Beschlag belegt wurden. Alles schien bis in die kleinsten Einzelheiten vorbereitet zu sein. Es stellte sich heraus, daß die preußischen Quartiermeister in der kurfürstlichen Residenzstadt besser Bescheid wußten als die Koblenzer selbst. Mit scheuer Ehrfurcht sah man all die Generale und Adjutanten, die Kabinettsräte und Mitglieder des Oberkriegskollegiums, die Ingenieure, Auditeure und Feldgeistlichen, mit stillem Grauen den Stabsprofoßen und den Scharfrichter im Kreise seiner Gesellen. Bald erregten die Wagen der Kriegskasse und des Feldlazaretts, bald die der Feldpost die allgemeine Aufmerksamkeit, bald erstaunte man über das Heer von Proviant- und Magazinbeamten und die Unzahl von Sekretarien, Kalkulatoren und Kopisten.
Und unter all diesen Söhnen des Antichrists war nicht einer, der zu plündern versucht hätte! Ja mehr als das! Man vernahm, daß der General von Göking beim Magistrat tausend Friedrichsdor zu hinterlegen sich erboten hatte, man sah, wie aus den preußischen Magazinen in Holland ganze Schiffsladungen Lebensmittel anlangten, sodaß die Soldaten nicht einmal zum Fouragieren aufs Land zu ziehn brauchten. Und man fand, daß der Teufel in Wirklichkeit nicht so schwarz sei, wie man ihn bisher gemalt hatte.
Als aber gar der Oberstkommandierende der Armee, Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, der würdige Neffe seines großen Oheims, doppelt berühmt durch den Glanz seines Namens und den selbsterrungnen Feldherrnlorbeer, über die Moselbrücke ritt, um den für das Lager in Aussicht genommnen Platz in der Rübenacher Flur zu inspizieren, da lüftete das nachdrängende Volk ehrerbietig den Hut, und als dann der hohe Herr mit freundlichem Lächeln und markiger Stimme sagte: Bedeckt euch, Leute! Barhäuptig dürft ihr nur vor Gott und euerm Kurfürsten stehn, da umbrauste den Herzog ein tausendstimmiges Vivatgeschrei!
Hatten die Preußen so binnen wenig Tagen die Herzen der Koblenzer erobert, so verursachten ihnen die Emigranten desto mehr Verdruß. Die Prinzen selbst waren freilich beim Einrücken der Truppen abgereist – ein Ereignis, das sich der kurfürstliche Oheim in seinem Diurnale mit dem Zusatze »Gott sei Dank! Des bin ich froh!« notierte –, aber ihr Anhang und der größte Teil ihres Hofstaats waren zurückgeblieben und legten den Behörden immer neue Schwierigkeiten in den Weg, indem sie sich weigerten, ihre Quartiere und Stallungen mit den vorher so sehnlich herbeigewünschten Rettern zu teilen. Schlimmer als dies war noch der Einfluß, den sie auf den König von Preußen gewannen. Sie allein, so erklärten sie, seien imstande, den Einmarsch der verbündeten Armeen in Frankreich zu leiten, in ihren Händen seien die Schlüssel aller Festungen, und sie verbürgten sich dafür, daß die Truppen der Revolution beim ersten Zusammentreffen mit dem Feinde die Waffen strecken würden. Friedrich Wilhelm der Zweite, in den Künsten der Liebe erfahrner als in denen der Politik und des Krieges, schenkte den Eingebungen der großsprecherischen Kavaliere sein Ohr und vermochte den widerstrebenden Herzog von Braunschweig zur Unterzeichnung des unglückseligen, von Anmaßung strotzenden Manifests an die französische Nation, jenes elenden Machwerks eines Abenteurers, das bestimmt schien, das Schicksal Ludwigs des Sechzehnten endgiltig zu besiegeln.
Einer der wenigen Emigranten, die sich in diesen Julitagen dem politisch-militärischen Getriebe fernhielten, war der Marquis von Marigny. Desto eifriger nahm er dafür an den Festlichkeiten teil, mit denen der Kurfürst die preußischen Gäste zu ehren suchte, an den Galatafeln, Dejeuners und Soupers – natürlich wieder auf seine Art in der gewohnten Umgebung von Bratenspickern, Kapaunenstopfern und Küchenjungen. Wenn er Veranlassung hatte, über die schier unerträgliche Hitze zu klagen, so traf die Verantwortung hierfür weniger die Julisonne als die Glut der gewaltigen Herde der Schloßküche, denn die Sonne bekam der alte Herr kaum noch zu sehen. Von früh bis spät war er auf seinem Posten in der Küche oder hielt sich doch in einem Nebenraume auf, jeden Augenblick bereit, sein Ingenium in den Dienst der kontrarevolutionären Allianz zu stellen. Die Preußen, die in Koblenz so manchen Wandel geschafft hatten, hatten nämlich auch die Küchenordnung auf den Kopf gestellt. Jetzt gab es keine von langer Hand wohl vorbereiteten Diners mehr, wie früher, wo man zehn Tage vorher die Einladungen versandte und zur Zusammenstellung des Speisezettels Muße in Fülle hatte; jetzt hieß es nachmittags um vier: In zwei Stunden gedenken des Königs Majestät nebst den königlichen Prinzen und der Generalität die kurfürstliche Mittagstafel mit Dero Gegenwart zu beehren! Und dann mußte in zwei Stunden das geschafft werden, wozu man sonst ebensoviele Tage gebraucht hatte. In solchen Augenblicken, wo die erprobtesten Küchenmeister mitunter den Kopf verloren, bewährte sich das Genie Marignys. Wie ein Feldherr stand er, umhüllt von Dampfwolken, mit Stock und Degen inmitten der weißuniformierten Schar, hier zur Besonnenheit ermahnend, dort die Lässigen antreibend.
Man hatte bestimmt, daß jedes Mahl, bei dem der König zugegen war, nur aus sechs Gängen bestehn durfte, weil die Sitzungen des Kriegsrats, die Revuen und Paraden die knapp bemessene Zeit über Gebühr in Anspruch nahmen. Was aber den Diners und Soupers an Umfang und Dauer abging, das sollten die einzelnen Platten durch ihre Auswahl und Zubereitung ersetzen. Eine Aufgabe, doppelt schwer wegen der heißen Jahreszeit, die das Einlegen großer Vorräte verbot! Aber Marigny wußte sich zu helfen, und die sechs Gänge wurden jedesmal zur rechten Zeit fertig.
Ein einzigesmal nur mußten sich die Herrschaften mit fünf Platten begnügen. Und das kam so. Der Marquis war gerade damit beschäftigt, ein Vol-au-vent, das in der Hauptsache aus Kalbsbröschen, Krebsschwänzen und Champignons bestand, in den Wärmofen zu schieben, als einer der aufwartenden Pagen in der Küche erzählte, daß der neue französische Gesandte, Herr Bigot de St. Croix, an der Tafel teilnehme.
Was? rief Marigny, rot vor Zorn, Bigot de St. Croix? Nun wohl, so weiß ich, was ich zu tun habe. Für Demokraten sind Krebsschwänze und Champignons nicht gewachsen!
Und ehe eine rasche Hand es verhindern konnte, flog der Inhalt des Kasserols in das lodernde Herdfeuer.
Wie alles auf dem Planeten, den wir Erde nennen, nahmen auch die Revuen, Paraden und Galadiners in Koblenz ein Ende. Der König selbst drängte zum Aufbruch. Am 28. Juli verließ er Schönbornslust und bezog ein Zelt im Feldlager in der Rübenacher Flur. Am 30. sollte sich die Armee in Bewegung setzen.
Koblenz schien wie ausgestorben. Die Behörden hatten den Kaufleuten die Genehmigung erteilt, im Bereiche des Lagers Meßbuden zu errichten, ihre Waren feil zu halten und Weinschank zu betreiben. Die Dominikaner und die Franziskaner brauten Tag und Nacht Bier; wer eines Stückes Vieh habhaft werden konnte, der wandte sich dem Fleischergewerbe zu, in der Hoffnung, mit Hilfe eines einzigen Hammels oder Schweins ein reicher Mann zu werden. Das Fahrtor bei der Moselbrücke wurde während der Nacht nicht mehr geschlossen, und der Gastwirt in Metternich, einem Dörfchen zwischen der Stadt und dem Lagerplatze, glaubte, das goldne Zeitalter sei angebrochen.
Unzufrieden war nur einer: der Herzog von Braunschweig. Seinen Kriegsplan, zunächst die Maasfestungen zu nehmen und hier in gesicherten Stellungen die gute Jahreszeit abzuwarten, hatte der König im letzten Augenblick verworfen, indem er geradeswegs auf Paris zu marschieren befahl. Daran war niemand anders schuld als die Emigranten, deren Rachedurst nicht früh genug gestillt werden konnte. Und nun mußte der Herzog noch erleben, daß ihm achttausend dieser Leute zugewiesen wurden! Er empfing sie mit schlecht verhehltem Ingrimm und beobachtete mit Zähneknirschen, wie sie, die weder zu befehlen noch zu gehorchen verstanden, sich unter seinen murrenden Kriegern breit machten, allerorten Händel anfingen und mit ihrer Bagage die Lagergassen versperrten. Wie erstaunte er aber erst, als er bei der Revue erfuhr, daß mehr als die Hälfte dieser royalistischen Streitmacht aus Weibern, Kammerdienern, Köchen und Friseuren bestand!
Unter den in Koblenz zurückgebliebnen Franzosen, die dem Abmarsch des Heeres beiwohnen wollten und in den Morgenstunden des 30. Juli die staubige Straße zur Rübenacher Hochebne hinaufwanderten, war auch der Marquis von Marigny. Er hatte sich dem Grafen von Cayla angeschlossen, dessen Sohn mit den Preußen ins Feld rückte. Marigny glaubte zu bemerken, daß ihnen auf ihrem Wege zwei Männer in immer gleichem Abstand folgten, halt machten, wenn sie stehn blieben, und wenn sie rascher gingen, auch ihre Schritte beschleunigten. Er machte seinen Gefährten hierauf aufmerksam und gab der Vermutung Ausdruck, daß die beiden nichts Gutes im Schilde führten und möglicherweise ein paar der von Bigot de St. Croix bezahlten Aufpasser seien. Aber der Graf beruhigte ihn bald, indem er sagte: Keine Sorge, mein Freund! Die beiden sind die harmlosesten Menschen von der Welt. Ich habe mich an ihre Begleitung so gewöhnt, daß ich sie ungern entbehren möchte.
Und wer sind sie? fragte der Marquis verwundert.
Ein paar Bursche, die sich in den Kopf gesetzt haben, über meine Sicherheit zu wachen und mich nicht aus den Augen zu lassen. Der eine ist Ladendiener bei Lallier und Lacomparte, der andre Hausknecht im Kurtrierischen Hofe. Kann man die Aufmerksamkeit gegen Gäste weiter treiben?
Unter dem Schutze der freiwilligen Leibgarde gelangten die beiden Herren ins Lager. Nicht ohne Mühe bahnten sie sich durch das Gewühl der Soldaten, Packknechte, Rosse und Wagen ihren Weg. Mehr als einmal mußten sie zur Seite flüchten, wenn ein scheugewordnes Pferd ihnen entgegenstürmte oder ein stürzendes Zeltgerüst sie zu erschlagen drohte. Nach langem vergeblichem Suchen fand man den jungen Cayla, einen langaufgeschossenen Menschen mit schlaffen Zügen und knabenhaft linkischem Benehmen. Man kam überein, in einer Weinbude, die mit Landsleuten überfüllt war, eine Abschiedsbouteille auszustechen. Der junge Graf schien hier schon Bescheid zu wissen und empfahl seinem Vater den Leistenwein von 1783 als den einzigen trinkbaren Tropfen. Als es aber ans Bezahlen ging, stellte es sich heraus, daß der Vater seine Börse nicht bei sich hatte. Da der Sohn keine Miene machte, für ihn einzuspringen, wollte Marigny die Zeche übernehmen, was sich Cayla jedoch auf das entschiedenste verbat. Dieser verließ hierauf das Zelt und kehrte nach wenig Minuten mit dem nötigen Gelde zurück.
Sie haben wohl einen Freund getroffen? fragte der Marquis.
Einen Freund? Wie kommen Sie darauf?
Nun, weil Sie Geld erhalten haben.
Halten Sie mich für einen Menschen, der seine Freunde mit solchen Bagatellen belästigt?
Aber es muß Ihnen doch jemand den Betrag vorgeschossen haben?
Gewiß.
Ein Fremder also?
Ein Fremder? Das gerade nicht. Wenn Sie es denn durchaus wissen wollen: es war der Ladendiener von Lallier und Lacomparte.
Marigny wollte etwas erwidern, aber das Wort erstarb ihm auf der Zunge. Mitten in der Menschenwoge, die bei dem Weinzelte vorüber durch die Lagergasse flutete, hatte er Henri und Marguerite erblickt. Villeroi trug die Uniform der Garden d'Artois. Der »Demokrat« – denn das war er in den Augen des alten, bedingungslosen Royalisten bis heute geblieben – wollte also teilnehmen an dem Kampfe, der dem Könige die Freiheit, dem Vaterlande die Ruhe und die Ordnung wiedergeben sollte! Einen Augenblick lang dachte Marigny daran, aufzuspringen und seine Kinder zu begrüßen. Aber dann fiel ihm ein, daß es nicht seine, sondern Henris Pflicht sei, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun. Henri trug den größern Teil der Schuld an ihrer Entfremdung, und überdies war er der Jüngere. Durfte er, ein bejahrter Mann, sich in die Lage bringen, hier in Gegenwart so vieler Landsleute, die alle das seltsame Verhältnis kannten, von seinem Schwiegersohne mit irgend einer kühlen Redewendung abgespeist zu werden? Freilich: Villeroi zog in den Krieg; an seinem Mute, ja an seiner Tollkühnheit war nicht zu zweifeln; kaum ein andrer würde sich wie er der Gefahr aussetzen – wer konnte also wissen, ob unter solchen Umständen auf ein Wiedersehen zu hoffen war? Mußte der Marquis, dessen Sache es doch war, zu vergeben, nicht dennoch dem Gatten seiner Tochter entgegengehn, ihm die Hand bieten und ihm sagen, daß er ihm verziehe – verziehe um des Degens willen, den er an seiner Seite sähe? Und der Entschluß, die alte Scheidewand niederzureißen, siegte über Trotz und Stolz und beflügelte den Fuß des greisen Edelmanns, als er sich durch die Menge Bahn brach und die Lagergasse hinuntereilte, an deren Ausgang Henris Tressenhut soeben hinter den Dreispitzen preußischer Grenadiere verschwand. Aber das Schicksal schien es anders bestimmt zu haben! Einem Bagagewagen, der zwischen den Zelten gestanden hatte und nun von kräftigen Armen in die Gasse geschoben wurde, brach ein Rad. Er neigte sich langsam zur Seite und schüttete seinen ganzen Inhalt an Koffern, Mantelsäcken und Geschirrkörben mitten in die nach rechts und links auseinanderstiebende Menschenmenge aus. Nun war der Weg vollends versperrt, und als Marigny auf Seitenpfaden die Stelle erreichte, wo er Henri zuletzt gesehen hatte, war jede Spur von diesem und Marguerite verloren. Was tun? In einer von sachkundigen Beurteilern auf mehr als fünfzigtausend Köpfe abgeschätzten Menge, die sich zum Aufbruche rüstete und wie eine aufgestörte Ameisenrepublik durcheinanderhastete, zwei einzelne Menschen suchen? Das mußte sogar einem Optimisten, wie der Marquis es war, als völlig aussichtslos erscheinen.
Soviel jedoch war gewiß: bevor die Kolonnen sich nicht in Bewegung setzten, würde auch Marguerite nicht zur Stadt zurückkehren. Und bis dahin konnten immerhin noch ein paar Stunden vergehn. Also die Zeit benutzen!
Marigny hielt es nicht einmal für nötig, sich von den beiden Grafen Cayla zu verabschieden; er suchte so schnell wie möglich aus dem Gewühl hinauszukommen und rannte förmlich auf demselben Pfade, den er zum Rübenacher Plateau hinaufgewandert war, nach Koblenz zurück. An der Moselbrücke mußte er wider Willen halt machen. Das Regiment von Thadden, das als Besatzung in der Stadt gelegen hatte, rückte gerade ab, um zur Armee zu stoßen, und versperrte auf eine gute halbe Stunde den Übergang zum andern Ufer. Frauen und Mädchen, durch die zarten und dabei festen Bande junger Freundschaft mit den abziehenden Kriegern verknüpft, gaben ihnen eine Strecke weit das Geleite. Den Posten beim Fahrtor hatte wieder kurfürstliches Militär bezogen. So wäre an dieser Stelle das äußere Bild der kleinen Residenz wieder das alte gewesen, wenn ihm nicht gänzlich die gewohnte Staffage der hier verkehrenden Kranenadmodiatoren, Schiffer und Schürger gefehlt hätte. Aber die Gassen und die Plätze blieben tot: alles, was Beine hatte, war auf dem Rübenacher Lagerplatze.
Der Marquis bog in die Weisergasse ein und betrat das Haus, worin seine Tochter wohnte. Außer einer schwarzen Katze, die auf der Türschwelle lag und sich die glühende Sonne auf den Pelz scheinen ließ, schien es kein lebendes Wesen zu beherbergen. Wäre der alte Edelmann ein Dieb gewesen, er hätte sich keinen gelegnern Augenblick aussuchen können, um dem Hause, das freilich nicht aussah, als ob es Schätze enthielte, seinen Besuch abzustatten. Er stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Tür der Villeroischen Wohnung. Als auch auf wiederholtes Pochen niemand zum Vorschein kam, legte er die Hand auf die Klinke, um zu erfahren, ob die Tür verschlossen sei. Und was er zu hoffen kaum gewagt hatte, geschah: sie ließ sich öffnen.
Drinnen in den engen Räumen wußte er Bescheid. Im Wohnzimmer, wo er Henri zu dem Bilde gesessen hatte, hielt er sich nicht weiter auf, sondern drang von hier aus in die Kammer vor, von der er mit Recht annahm, daß sie den jungen Leuten als Schlafgemach diente. Und hier fand er, was er suchte, nach dessen Anblick er geschmachtet hatte, wie der Verdurstende nach einem frischen Trunk: seinen Enkel. Unbekümmert um die drückende Schwüle und die zudringlichen Fliegen lag das Büblein in dem zur Wiege hergerichteten Korbe aus grobem Weidengeflecht und schlief so ruhig, als habe der Herzog von Braunschweig das Rübenacher Plateau nur deshalb zum Lagerplatze gewählt, damit jeder, der den Schlummer des kleinen Franzosensprößlings hätte stören können, aus Koblenz entfernt werde.
Der Großvater beugte sich über das schlafende Kind und betrachtete es mit prüfenden Blicken. Mund und Kinn, so sagte er halblaut zu sich selbst, erinnern an Henri, aber die Stirn und den Ansatz der Nase, die hat der kleine Kerl von uns. Dahinter – hier fuhr er mit der Spitze seines Zeigefingers ganz leise und behutsam über die Wölbung des Vorderkopfes –, dahinter steckt die Energie der Marignys! Schade, daß er bei diesen Anlagen sein Leben lang den Namen Villeroi tragen muß! Wie seidenweich die Härchen sind! Die hat er von seiner Mutter. Wenn ich nur wüßte, von wem er die Augen hat!
Sollte er das Kind wecken? Nein, das wäre Frevel gewesen! Und der alte Herr rückte sich einen Schemel an den Korb und ließ sich neben dem schlummernden Enkel nieder. Wie ärmlich das Bettchen war! Wie dürftig das Hemdchen aus grobem Barchent! Wahrhaftig, die Kinder seiner Bauern in Aigremont waren besser gebettet und gekleidet gewesen als der leibliche Enkel ihres Herrn. Er mußte an Marguerites frühe Kindheit denken, an das geräumige Gemach mit dem Täfelwerk aus Eichenholz und den hohen Fenstern, an die reichgeschnitzte Wiege mit den Vorhängen aus Tüll und an die Hemdchen, Kleidchen und Häubchen aus schneeweißem Batist, in denen das runde Kindergesichtchen doppelt rosig, die Härchen doppelt goldig erschienen waren. Welcher Wandel der Zeiten und Verhältnisse!
Eine Fliege lief über des Kindes Wange. Es zuckte mit den Wimpern. Vielleicht würde es jetzt erwachen! Der Großvater war einen Moment unschlüssig, ob er das Insekt verscheuchen oder den Störenfried, der ihm zum Anblick der Augen des kleinen Burschen verhelfen konnte, gewähren lassen sollte. Aber die Liebe überwand Selbstsucht und Neugier. Und da die Fliege unbekümmert um Marignys Blasen und Fächeln auf der kleinen Stirn sitzen blieb und sich, ohne auf die darunter schlummernde Energie Rücksicht zu nehmen, mit großer Sorgfalt die geschmeidigen Beinchen putzte, so versuchte der alte Herr, sie mit spitzen Fingern zu ergreifen. Die Fliege bekam er hierbei zwar nicht, dafür kniff er aber den Enkel ein ganz klein wenig in die zarte rosige Haut – ein ganz klein wenig nur, aber doch fühlbar genug, daß der Kleine davon erwachte. Er wandte sich zur Seite, rieb sich mit den Rücken der runden Händchen das kleine Gesicht und sah den fremden Mann an seinem Bettchen verwundert an.
Marguerites Augen! sagte der Marquis, also noch ein Erbteil von der Familie mütterlicherseits! Weiß Gott, Herr von Villeroi, ich möchte sehen, was aus Ihrem Kinde geworden wäre, wenn wir Marignys nicht das Beste dazu gegeben hätten!
Das Büblein verzog, durch die ungewohnte Stimme erschreckt, die Mundwinkel und zeigte Neigung zu weinen.
Holla, kleiner Bursch, du wirst doch vor deinem Großvater keine Furcht haben? redete ihm der alte Herr zu, indem er seinem Antlitz den freundlichsten Ausdruck gab, der ihm zu Gebote stand, bedenke, mein Junge, daß du ein Marigny bist – morbleu, du bist doch ein Marigny, wenn du auch Villeroi heißt! –, und daß uns Marignys die Tränen nicht so locker sitzen. Also die Ohren straff, mein Junge, und den Großvater ruhig angesehen, er hat noch niemals Kinder gefressen und wird bei seinem Enkel auch nicht den Anfang machen. Verstehst du mich, Bürschchen?
Den Sinn dieser Rede verstand das Kind freilich nicht, aber es begriff, daß der fremde Mann keine bösen Absichten hatte. Und da überdies aus der Uhrtasche seines Beinkleids Berlocken mit drei prächtigen Amethysten baumelten, die herrlich klapperten und klirrten, wenn sie mit dem Rande des Bettkorbes in Berührung kamen, so fand der alte Herr gar bald Gnade vor des Bübleins Augen. Die Händchen griffen ungeschickt nach dem glitzernden Spielzeug. Marigny bemerkte es anfangs nicht, da er mit den Neigungen kleiner Kinder nicht mehr so recht bekannt war, dann aber erfüllte ihn dieser Beweis von erstaunlicher Klugheit mit desto größerm Entzücken.
Nicht wahr, mein kleiner Bursch, das gefällt dir? Die Steinchen möchtest du haben? Später, mein Junge, später! Aber mit dem Petschaft darfst du ja doch nicht siegeln, das ist das Marignysche Wappen, siehst du, eine Stadtmauer und darunter ein steigender Widder, ihr Villerois führt drei Fische im Schilde, der Teufel weiß, wie ihr dazu gekommen seid.
Diese heraldische Erörterung schien das Büblein höchlichst zu belustigen. Jedenfalls lachte es laut auf und fuhr fort mit den Berlocken, die der Großvater von der schweren Repetieruhr losgelöst und auf die Decke des Bettchens gelegt hatte, zu spielen.
Es ist unrecht von deinen Leuten, daß sie dich so allein gelassen haben, sagte der Marquis; wie leicht könnte dich einer stehlen. Möchtest du wohl auf Großvaters Arm kommen?
Das Kind, das begriff, was die gespreizten Hände des alten Herrn zu bedeuten hatten, streckte beide Ärmchen verlangend nach ihm aus.
Ei, mein Bürschchen, du verstehst ja jedes Wort, fuhr Marigny fort, erfreut, daß die Verständigung mit dem Enkel so leicht vonstatten ging, du bist ja ein ganz gescheiter kleiner Kerl! Von deinem Vater hast du das auch nicht, der begreift weit schwerer. Vierfünftel Marigny – einfünftel Villeroi!
Damit hob er nicht gerade allzu geschickt das Kind aus den Kissen empor, nahm es auf seinen Arm und tänzelte mit ihm durch die Stube.
Soll Großvater dir ein Liedchen singen? fragte er. Wart einmal, vielleicht fällt ihm eins ein.
Herr Guiskard ritt wohl über das Feld,
Ritt heim nach seinem Schloß,
Von schwarzem Stahle war sein Schwert,
Und milchweiß war sein Roß.
Und als er kam wohl an das Tor –
La la la la la – a la la –
Als er merkte, daß er nicht weiter konnte, begann er kurz entschlossen ein andres Lied:
Den Stab mit Bändern schön geschmückt,
In rosenfarbnem Kleide
Trieb Nanon jeden Sommertag
Die Schäflein auf die Weide.
Kein Mädchen war so wohlgestalt
Im Land der Normandie,
Und werd ich hundert Jahre alt,
Nanon vergeß ich nie!
Es fiel ihm ein, daß diese Verse nicht eigentlich ein Kinderlied seien, und so begnügte er sich damit, anstatt der zweiten Strophe nur die Melodie zu trällern. Aber der Enkel deutete ihm in nicht mißzuverstehender Weise an, daß er Worte zu hören wünsche, und so mußte sich der alte Herr denn wohl oder übel dazu bequemen, den nicht ganz einwandfreien Text der Romanze aus den entlegensten Winkeln seines Gedächtnisses zusammenzusuchen. Bei der zehnten oder elften Strophe bemerkte Marigny nicht ohne Befriedigung, daß der Kleine müde zu werden begann und sich dem Versuche des Großvaters, ihn wieder in den Korb zu legen, nicht widersetzte. Der Gesang wurde nun immer leiser und eintöniger; bei der vierzehnten Strophe fielen dem Büblein die Augen zu, und bei der fünfzehnten verrieten tiefe und regelmäßige Atemzüge, daß der Stammhalter des Hauses Villeroi in jenen Zustand der Unschuld und Bedürfnislosigkeit zurückversunken war, worin ihn der Großvater angetroffen hatte.
Dieser entzog nun, so behutsam er es vermochte, den kleinen Händen die Berlocken, befestigte sie wieder an der Uhr und schickte sich an, die Kammer zu verlassen. Ehe er aber diesen Entschluß ausführte, holte er seine Börse heraus, entnahm ihr sechs blanke Louisdor, wickelte die Münzen in ein Stückchen Papier und schob sie vorsichtig unter das Kopfkissen des schlafenden Kindes. Dann stellte er den Schemel wieder an seinen Platz und machte sich auf den Heimweg. Er hatte kaum hundert Schritte in der menschenleeren Gasse zurückgelegt, als er eine weibliche Gestalt von der Moselbrücke her in schnellem Lauf auf sich zukommen sah. Es war die Nachbarin oder Hausgenossin des Villeroischen Paares, die er schon öfters in dessen Wohnung getroffen, und die seiner Tochter mit kleinen Dienstleistungen zur Hand zu gehn pflegte.
Das drückende Bewußtsein, das ihrer Obhut anvertraute Kind so lange allein gelassen zu haben, mochte die junge Person zur Eile antreiben. Sie nahm von dem alten Herrn, der sie mit seinen Blicken verfolgte, deshalb auch nicht die geringste Notiz. Als sie im Hause verschwunden war, ging der Marquis weiter und murmelte dabei vor sich hin: Gott sei Dank, nun kann er nicht mehr gestohlen werden! Wenn der Name nur nicht wäre! Aber mag er auch Villeroi heißen, so lange er will – ein echter Marigny ists doch!