Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Zehntes Kapitel

. Die Lage Ludwigs des Sechzehnten hatte sich noch wesentlich verschlimmert, seit aus den in einem geheimen Wandschranke der Tuilerien entdeckten Papieren offenbar geworden war, daß der König fortgesetzt Beziehungen zu seinen Anhängern im Auslande unterhalten und Geldsummen zu konterrevolutionären Zwecken verteilt hatte. Dennoch hätte er vielleicht noch gerettet werden können, wenn das Haar, an dem sein Leben hing, nicht zufälligerweise ein Frauenhaar, und noch dazu vom Scheitel des kapriziösesten Kopfes von ganz Paris, gewesen wäre.

Von den beiden Parteien des Konvents, den Jakobinern und den Girondisten, zeigten diese, wohl weniger aus Menschlichkeit als aus politischen Gründen, Neigung, das Leben des Königs zu schonen. Wie aber wollten sie mit ihrer Ansicht gegen Widersacher durchdringen, die die einflußreichsten Männer und die besten Redner zu den ihrigen zählten, und in deren Reihen Leute wie St. Just und Robespierre saßen? Da geschah das Unerwartete, daß Danton, angeekelt von dem ewigen Blutvergießen, und Dumouriez, der auf der kreisförmigen Bahn seiner politischen Überzeugungen wieder einmal beim monarchischen Prinzip angelangt war, Anschluß an die Gironde suchten. Was hätte diese Partei, verbündet mit dem vergötterten Führer der Massen und dem siegreichen General der Revolutionsarmee, vermocht! Aber die dargebotnen Hände wurden zurückgewiesen; Madame Roland, die Gattin des Ministers, die Egeria der Gironde, die jede Parole ausgab und den Rednern ihre Themen stellte, wollte kein Bündnis mit Männern, die ihr persönlich unsympathisch waren. Und so ging das Schicksal seinen Weg. Hätte Danton nicht ein pockennarbiges Antlitz, hätte Dumouriez weniger grobe Züge gehabt, wer weiß, ob die Geschichte nicht um einen Königsmord ärmer geblieben wäre!

Immer lauter schallte der Ruf: »Capet auf die Guillotine!« Er erfüllte die Straßen von Paris, er fand Widerhall in allen Gauen Frankreichs, er drang bis in die entlegensten Länder der Erde und weckte hier überall das gleiche Entsetzen, den gleichen ohnmächtigen Zorn. Wenn Ludwig der Sechzehnte, der als König und Mensch nie größer war als auf diesem letzten und düstersten Abschnitte seines Lebensweges, eines Trostes bedurfte, so mußten ihn die Beweise von Treue und Opfermut aufrichten, die er jetzt von allen Seiten erhielt. Kühne Männer und Frauen veröffentlichten, unbekümmert um den ihnen gewissen baldigen Tod, Rechtfertigungsschriften, in denen sie rückhaltlos die Verdienste des unglücklichen Monarchen um die Wohlfahrt seiner Untertanen hervorhoben; Helden wie der greise Malesherbes, der unermüdliche Tronchet und der junge feurige Sèze erboten sich freiwillig zu seiner Verteidigung, die ihnen nach menschlicher Voraussicht nichts andres einbringen konnte als den dankbaren Händedruck eines dem Tode Geweihten und den eignen Untergang. Sogar Flüchtlinge stellten sich dem Könige zur Verfügung, darunter Leute, deren Namen Gewicht und Klang hatten, wie der Graf von Narbonne, der Marquis von Lally-Tollendal und Bertrand von Moleville.

Auch Marigny richtete, von dem edeln Eifer ergriffen, das Äußerste von dem geheiligten Haupte des Souveräns abzuwenden, einen Brief an Ludwig den Sechzehnten, worin er bat, ihn mit der Widerlegung eines oder mehrerer der siebenundfünfzig Anklagepunkte zu betrauen. Von Tag zu Tag wartete er auf Antwort. Umsonst. Der Brief war wohl überhaupt nicht in die Hände des Königs gelangt. Noch einmal schreiben? Ach, das wäre unnütz gewesen! Die Zeit verrann, verrann unaufhaltsam und das Lebensschifflein des Angeklagten trieb immer schneller stromabwärts – dem empörten Meere zu, in dessen Brandung es scheitern mußte.

Jetzt kam die Nachricht nach Koblenz, daß am 26. Dezember, dem Tage, an dem man in frühern Jahren die Geburt des Heilands gefeiert hatte, der Bürger Capet zum zweitenmal vor die Schranken des Konvents gestellt worden sei. Und seltsam! Man vernahm zugleich, daß um diese Zeit, wo alles Alte von einem riesenhaften Strudel in die Tiefe gerissen zu werden schien, wo Rotten trunkner Männer und Weiber Tag und Nacht an den Stätten tanzten, deren Name mit der Geschichte des Königtums in irgend einer Verbindung stand, und wo in den Spelunken der Spielpächter Würfel und Karten nicht mehr zur Ruhe kamen, Tausende und aber Tausende in wahnsinniger Angst in die Kirchen strömten, um, vor den Gräbern der Heiligen in den Staub gestreckt, durch brünstige Gebete das Schicksal abzuwenden, das furchtbar drohend über dem Haupte eines jeden schwebte.

Ob die allgemeine Verwirrung in Paris wirklich so groß war, daß es einem einzelnen Menschen gelingen würde, ohne angehalten zu werden, bis zu dem Kerker des königlichen Märtyrers vorzudringen? Das war die Frage, die Marigny nun ohne Unterlaß beschäftigte. Denn er wollte und mußte zum König, er hatte ein Recht dazu, denn er trug die Kammerherrnschlüssel, und er glaubte die Zeit gekommen, manchen versäumten Dienst nachzuholen. Wie dies zu ermöglichen sei, darüber war er freilich einstweilen noch im unklaren. Er würde damit zufrieden sein, wenn er die Lage des Gefangnen auf irgend welche Weise erleichtern könnte, er wollte sich gern mit dem Amt eines Kammerdieners begnügen, oder, noch lieber, die Funktionen eines Kochs übernehmen. Daß Ludwig der Sechzehnte einen solchen jetzt am dringendsten brauchte, stand für den alten Herrn felsenfest. Woher sollte er die Festigkeit der Seele und die Beweglichkeit des Geistes nehmen, deren er jetzt mehr als je zuvor bedurfte, wenn der Körper entkräftet war? Und dann: im geheimen vertraute der Marquis darauf, vom Himmel zu einem Werkzeuge seiner wunderbaren Pläne ausersehen zu sein. Er dachte an die griechische Fabel von der Maus, die trotz ihrer Kleinheit befähigt war, den in des Jägers Netzen verstrickten Löwen zu befreien.

So rüstete er sich denn zur Abreise. Er begann seine Vorbereitungen damit, daß er zwei Leintücher auf den Dielen seines bisherigen Wohngemachs ausbreitete und auf jedem einen kleinen Berg von Kleidungsstücken und Gebrauchsgegenständen sehr verschiedner Natur aufschichtete. Da kamen aus den Tiefen des gewaltigen Kleiderschrankes, aus den Schiebladen der Kommoden, aus Koffern, Truhen und Mantelsäcken alle die seltsamen Dinge wieder zum Vorschein, über die die Nachmittagssonne des 19. Oktobers 1789 mit vollem Rechte so erstaunt gewesen war, die Dominos aus schwarzem Taffet, die scharlachnen Westen, die Reitröcke und Jagdhabits, die Hemden mit den Spitzenmanschetten, die Haarbeutel, die Galanteriedegen und die betreßten Staatsröcke, da stellten sich, genau so wie damals, die Fläschchen mit eau de lavande und Blütenextrakten, die Dosen und Büchschen mit Salben und wohlriechenden Pasten und die Futterale mit Schermessern und Handspiegeln ein, da gesellten sich wieder spanische Rohre mit goldnen Knöpfen, Birschbüchsen und Sonnenschirme zu Büchern, Nippesfigürchen, Hüten, Hirschfängern, Sätteln und Teemaschinen. Ja, das Chaos schien gegen damals noch größer geworden zu sein, denn von den Töpfen und Tiegeln, Pfannen und Kasserollen, Bratrosten und Reibeisen, Gewürzmühlen und Pastetenformen, die jetzt den Wirrwarr im Atelier des seligen Herrn Haßlacher vermehrten, hatte die Oktobersonne des Jahres 1789 noch nichts zu sehen bekommen.

Die Wittib, die gerade unter dem Mansardengemach in ihrer Wohnstube beim Nachmittagskaffee saß und sich der Lektüre des Intelligenzblattes hingab, wurde auf das ruhelose Hin- und Herwandern »ihres Franzosen« aufmerksam. Sie wäre am liebsten sogleich unter irgend einem Vorwande hinaufgestiegen, um sich über die Ursache dieses seltsamen Gebarens Auskunft zu verschaffen, aber sie wußte, daß der Marquis solche Besuche nicht liebte, und dann mochte sie sich nicht vor der Zeit um die angenehm-gruselige Stimmung bringen, in die eine höchst ausführliche Beschreibung der ingenieusen Erfindung des wackern Doktors Guillot sie versetzt hatte. Als sie jedoch über ihrem Haupte das Rücken von Möbelstücken oder schweren Koffern vernahm, hielt sie es doch für ihre Pflicht als Hausbesitzerin und Wirtin, hinaufzugehn und nach dem Rechten zu sehen.

Sie fand Marigny in Hemdärmeln und mit schweißbedeckter Stirn zwischen den beiden Bergen mehr oder minder nützlicher Gegenstände stehn. Er war damit beschäftigt, ein Kleidungsstück, von dem nur ein kleiner Zipfel sichtbar war, mit ungeheurer Anstrengung aus der untersten Lage des einen Haufens herauszuzerren, um es, nachdem ihm dies schließlich gelungen, auf den andern zu werfen. Dafür nahm er von diesem wieder eine Kräuselschere, wog sie nachdenklich in der Hand und legte sie langsam auf den ersten Berg.

Kann ich Ihnen helfen, Herr Marquis? fragte Madame Haßlacher, als sie merkte, daß der alte Herr in seiner Beschäftigung innehielt und sie mit argwöhnischen Blicken betrachtete.

Helfen? gab er zurück. Wobei?

Nun – beim Aufräumen. Sie wollen sich wohl anders einrichten?

Nein, Madame. Ich will ausziehn. Ich muß Sie verlassen. Verstehn Sie mich? Von morgen oder übermorgen an stehn diese Räume wieder zu Ihrer Verfügung.

Die Wittib stand einige Sekunden lang wie versteinert da, dann stammelte sie unter Tränen:

Aber ich habe Ihnen das warme Wasser zum Rasieren doch jeden Morgen Schlag sieben Uhr vor die Tür gestellt, und von der – nun, Sie wissen schon, von dem Frauenzimmer, das gar nicht Ihre Tochter ist, habe ich doch auch kein Sterbenswörtchen mehr gesagt. Und da wollen Sie ausziehn! Ach, liebster Herr Marquis, von dem ganzen ausländischen Volk – nehmen Sie das einer alten Frau nicht übel! – sind Sie ja der einzige Anständige. So wie der Erste im Kalender stand, hatte ich mein Geld, da hat kein Kreuzer dran gefehlt. Ein bißchen kurz angebunden waren Sie ja – der Wahrheit die Ehre! –, aber dafür sind Sie ja auch ein vornehmer Herr, und was mein Seliger war, der auch genug mit Herrschaften zu tun hatte – Sie wissen ja, er hat im neuen Residenzschloß die schöne Decke gemalt, wo ihm der Zick dabei geholfen hat –, mein Seliger, der sich immer ein bißchen deutlich ausdrückte – nun ja, dafür war er auch Künstler, und manchmal trank er auch nen Schoppen mehr als nötig war, nun ja, dafür ist er auch in der Mosel ersoffen –, der sagte oft genug: Je feiner, desto gemeiner.

Marigny ließ den Redestrom der guten Alten geduldig über sich ergehn, nicht belustigt, nicht gelangweilt und nicht gereizt, sondern mit dem imponierenden Gleichmut eines Mannes, den nichts mehr aus seiner Fassung zu bringen vermag.

Sind Sie fertig, Madame? fragte er gelassen, während sie sich mit dem Zipfel ihrer Schürze heftig die Augen wischte.

Ja, du lieber Himmel, was sollte ich denn auch noch sagen? fuhr sie fort. Ich darf mich ja gar nicht einmal beklagen! Was hat zum Exempel die Hebenstreitin bei ihrem Franzosen eingebüßt! Neunhundertundzweiundsiebzig Gulden rheinisch ist er ihr schuldig geblieben. Nichts war ihm fein genug. Die Talglichte hat er einfach auf die Gasse geworfen. Er wäre Wachskerzen gewöhnt, hat er gesagt, und mit den Rebhühnern hat er seine Hunde gefüttert. Und die Zollschreiberin Wendland, die den Vicomte von Chevillon hatte! Aber der dummen Person kann mans gönnen. Tat sich immer damit dick, daß ihrer der feinste wäre. Jawohl! Prostemahlzeit! Bezahlt hat er keinen Kreuzer, und als er abzog, hat er ihr die Daunen aus den Bettkissen mitgenommen. Aber dafür hat er auch mit ihren Demoiselles Töchtern scharmutziert, daß es eine Art hatte, und der Alten kanns passieren, daß sie an einem Tage dreimal Großmutter wird. Und wenn ich erst an die Gondorfin denke, bei der das Weibsbild im Quartier lag, das der Herzog von Guiche mitgebracht hatte! Eine ganz ordinäre Komödiantin und ließ sich »Ew. Gnaden« oder so ähnlich titulieren. Strümpfe trug sie – so lang und von himmelblauer Seide, aber Sie hätten einmal die Löcher darin sehen sollen! Mit der ganzen Hand konnte man durchfahren. Des Morgens um zehn trank sie im Bett die Schokolade und ließ sich dazu frisieren, und dabei stand dann allerlei Mannsvolk um sie herum, das las ihr Gedichte vor und fragte, ab sie gut geschlafen hätte – genau, als ob sie eine veritable Herzogin oder Königin gewesen wäre. Und als die Gondorfin endlich Geld haben wollte, da hat ihr die Person gesagt, sie möge nur zum Herzog von Guiche gehn, und als sie das denn auch getan hat, da hat der Herzog sie durch einen Reitknecht auf die Straße bringen und ihr sagen lassen, ihn ginge das Weibsbild schon längst nichts mehr an, und zahlen täte er keinen Kreuzer. Sehen Sie, Herr Marquis, das wollen doch alles reputierliche Leute sein und benehmen sich so lumpig. Alles, was wahr ist: Sie waren der einzige Anständige!

Der Marquis, der seine Tätigkeit wieder aufgenommen hatte und gerade damit beschäftigt war, von einer roten Sammetweste die silbernen Knöpfe abzutrennen, schien durch die plötzlich eingetretene Stille an die Gegenwart seiner redseligen Wirtin erinnert zu werden, etwa wie der Müller zu erwachen pflegt, wenn das gewohnte Rädergeklapper aufhört.

Sind Sie denn jetzt fertig, Madame? fragte er noch einmal. Und als die Alte nickte, fügte er schnell hinzu: Ich muß verreisen. Für den laufenden Monat bezahle ich natürlich.

Kommen Sie denn nicht zurück?

Marigny lächelte wehmütig. Darauf ist kaum zu rechnen. Ich muß nach Paris –

Maria Joseph! unterbrach ihn die Wittib, jetzt nach Paris? Lesen Sie denn keine Gazetten? Wissen Sie denn nicht, daß man dort Leute Ihres Schlages nicht eine halbe Stunde ungeköpft läßt?

Madame, gab Marigny mit großer Ruhe zurück, ich weiß alles. Aber die Pflicht gebietet mir, dennoch nach Paris zu gehn. Der König bedarf meiner.

Ich bin nur eine einfache Bürgersfrau, bemerkte die Alte kopfschüttelnd, aber mir könnte der König tausend Gulden bieten und noch ein seidnes Kleid dazu – nach Paris ginge ich trotzdem nicht. Lassen Sie sich raten, Herr Marquis, und bleiben Sie hübsch hier in Koblenz. Es hat Ihnen doch bis jetzt ganz gut bei uns gefallen, weshalb wollen Sie nun Hals über Kopf weg?

Das verstehn Sie nicht, Madame. Also sparen Sie sich Ihre guten Ratschläge und hören Sie mich ruhig an! Sehen Sie – hier wies er auf den größern der beiden Berge, dessen Gipfel er noch mit dem Messingbauer des Kakadus krönte –, diese Dinge muß ich hier zurücklassen. Sie würden mein Reisegepäck über Gebühr beschweren. Verfügen Sie darüber nach Ihrem Belieben. Verkaufen Sie die Sachen zu Ihrem eignen Vorteil, oder verschenken Sie sie an Bedürftige, kurz, machen Sie damit, was Sie wollen.

Aber – Herr Marquis – das ist doch wohl nur ein Spaß von Ihnen? Den ganzen Haufen wollen Sie mir schenken?

Ich glaube mich deutlich genug ausgedrückt zu haben.

Also es ist Ihr voller Ernst? Nun, da dank ich Ihnen aber auch recht schön. Die vielen vielen Sachen! Und alle noch wie neu! Ja, das muß man Ihnen lassen: ordentlich sind Sie immer gewesen. Und den Vogel soll ich auch bekommen?

Gewiß! Schaffen Sie den Plunder möglichst bald aus meinen Augen. Er behindert mich beim Packen.

Soll geschehn, Herr Marquis, soll geschehn! Nein die schönen Röcke und Hosen! Nichts verschlissen und nichts geflickt! Wenn das mein Seliger erlebt hätte! Wissen Sie, der hatte Ihre Statur, dem hätte das alles gepaßt wie angegossen. Er hatte überhaupt viel von Ihnen. Den Gang und die feinen Manieren – er war doch lange in Holland gewesen –, nur das Gesicht war ein bißchen anders. Oft, wenn ich Sie so über den Vorsaal gehn sah, hab ich schon gedacht: der leibhaftige Haßlacher! und nachher bin ich immer ganz melancholisch geworden. Und als Sie vergangnen Donnerstag des Nachts so spät aus dem Klub kamen und im Stichdüstern die Treppe hinaufgingen, da hörte sichs genau so an, wie wenn mein Mann selig mal eine lange Sitzung im Schützenhof gehabt hatte.

Sie begann unter dem ihr zugewiesenen Nachlaß ihres Mieters zu kramen und jeden Gegenstand, der ihr dabei unter die Hände kam, mit kritischen Blicken zu prüfen.

An diesem Schuh fehlt die Schnalle, sagte sie, indem sie ihn in das Gesichtsfeld des Marquis brachte.

Schon möglich, erwiderte dieser, ich vermute jedoch, es ist niemals eine darauf gewesen.

O bitte sehr! Hier ist der andre. Der hat eine. Haben Sie keine Ahnung, wo das Ding sein könnte?

Nicht die geringste.

Das ist recht fatal. Was soll man nun mit den Schuhen machen? Zwei Schuhe und eine Schnalle! Ich wette, man findet in ganz Koblenz keine dazu passende.

Der Marquis nahm ihr den Gegenstand ihres Mißvergnügens aus der Hand, riß die Schnalle mit einem kräftigen Ruck ab und schleuderte sie aus dem Fenster über die Dächer der Nachbarhäuser.

So, Madame, ich denke, nun ist der Schade geheilt. Sind Sie nun zufrieden?

Die Wittib mochte einsehen, daß tadelnde Ausstellungen an den Geschenken den Spender verstimmen mußten, und da ihr daran lag, ihn bei guter Laune zu erhalten, so beschloß sie dem Gespräch eine Wendung zu geben, von der sie sich eine versöhnende Wirkung versprach.

Wenn ich mirs so durch den Kopf gehn lasse, begann sie, dann muß ich sagen: Es ist recht schön von Ihnen, daß Sie Ihren guten, armen König einmal besuchen wollen. Er muß sich doch in dem langweiligen Turm recht einsam fühlen. Nie einen Menschen zu sehen bekommen, gegen den man sich mal ordentlich aussprechen kann, das muß schrecklich sein. Ich hielts nicht aus. Und dabei soll der Turm nicht einmal ein Fenster nach der Gasse zu haben. Bloß nach dem Hofe. Da kann draußen alles mögliche passieren, und der arme König merkt keine Bohne davon. Und daß sie ihn so scharf bewachen, und daß immer einer mit dem blanken Säbel vor ihm hergeht, wenn er mittags im Hofe ein wenig promeniert, das ist doch auch nicht recht. Und zu essen werden sie ihm gewiß auch nicht allzuviel geben.

Da sie während dieser Rede den Berg der ihr geschenkten Habseligkeiten unterwühlt hatte, neigte sich der Käfig mit dem Kakadu zur Seite und drohte hinunterzustürzen. Die Wittib fing ihn jedoch noch rechtzeitig auf und stellte ihn auf den Fußboden. Marigny, der eifrig mit der Durchsicht seiner Papiere beschäftigt war, hatte von diesem Vorgange nichts bemerkt und glaubte daher, die Alte rede noch von dem Gefangnen im Temple, als sie jetzt die Frage stellte:

Nicht wahr, zum Frühstück bekommt er einen Zwieback, in süßen Tee eingeweicht, und mittags ein Stückchen Apfel?

Davon weiß ich nichts, sagte der Marquis, aber wenn er wirklich nicht mehr erhält als das, wird er bald genug verhungert sein.

O Herr Marquis, was denken Sie von mir! Ich werde ihn doch nicht verhungern lassen! Hanf kann er fressen, so viel er will, und wenn Sie glauben, daß er von Welschkorn nicht zu fett wird, so soll er das auch haben.

Madame, entgegnete der Edelmann, der jetzt verstand, daß der Vogel gemeint war, füttern Sie ihn meinetwegen mit Zwiebäcken und Äpfeln, so oft Sie wollen, aber erweisen Sie mir jetzt die Gefälligkeit, mich allein zu lassen. Ich habe zu tun und möchte nicht länger gestört werden. Nehmen Sie die Sachen mit, oder bringen Sie sie draußen auf den Vorsaal, aber sorgen Sie dafür, daß ich Luft und Ruhe bekomme.

Nun machte sich die Wittib wirklich daran, ihren Raub in Sicherheit zu bringen. Sie raffte mit beiden Armen soviel zusammen, wie sie zu tragen vermochte, und stieg damit die Treppe hinab. Viermal mußte sie wiederkehren, ehe alles beseitigt war. Dann holte sie noch den Käfig mit dem Kakadu und kündete dem Marquis an, daß sie ihn nun nicht weiter belästigen werde.

Als Marigny das leere Laken auf dem Fußboden sah, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus und zog aus dem Alkoven, wo sein Bett stand, ein eisernes Kästchen hervor, das er nicht ohne großen Kraftaufwand auf den Tisch hob und mit einem kunstvoll gearbeiteten Schlüssel öffnete. Er entnahm dieser Kassette eine Anzahl kleiner Lederkapseln, deren jede ein auserlesenes Schmuckstück enthielt. Da kamen herrliche Steine zum Vorschein: Rubine und Smaragde, Türkise und Topase, Hyazinthe und Opale, wie man sie in bunter Vereinigung zu Ludwigs des Vierzehnten Zeiten getragen hatte, und die größtenteils noch in den alten Fassungen saßen. Aber auch an Diamanten fehlte es nicht. Vierundzwanzig der schönsten waren zu einem Halsgeschmeide vereinigt, die mittlern fast so groß wie kleine Haselnüsse, die übrigen wie Erbsen, und wenn auch das Feuer der Steine in der altmodischen Kastenfassung nicht voll zur Geltung kam, so sah man doch auf den ersten Blick, daß diese Juwelen durchweg vom ersten Wasser waren.

Jeder andre würde sich wenigstens einige Minuten am Farbenspiele solcher kostbaren Nichtigkeiten geweidet haben. Marigny begnügte sich damit, jede Kapsel zu öffnen, sich vom Vorhandensein des Inhalts zu überzeugen und jedes einzelne Stück mit dem Verzeichnis zu vergleichen, das zu unterst in der Kassette gelegen hatte. Er zählte gerade die Opale eines Armbands, als sehr energisch an seine Tür geklopft wurde. So schnell er vermochte, warf er sämtliche Kapseln in ihren Behälter, klappte den Deckel zu und breitete seinen Rock darüber, um unberufnen Augen den Anblick des Schatzes zu entziehn. Dann rief er, gereizt wie er war, mit donnernder Stimme: Herein!

Und wer erschien? Madame Haßlacher.

Sie trug etwas auf der weit vorgestreckten flachen Hand und hielt es dem alten Herrn unter die Nase.

Wissen Sie auch, was das ist, Herr Marquis? fragte sie. Sehen Sie sich das einmal genau an! Das ist die andre Schnalle! Die stak in der linken Tasche der tabakbraunen Sammetweste. Eine Schuhschnalle in der Westentasche! Was soll man dazu sagen! Hätten Sie vorhin die eine nicht weggeworfen, so wären jetzt alle beide da. Aber was soll ich nun mit dieser anfangen, wenn mir die andre dazu fehlt? Sie brauchten doch auch nicht gleich so hitzig zu werden.

Madame, wenn Sie die Absicht haben, mir Vorwürfe zu machen, so muß ich Sie schon bitten, das auf morgen zu versparen. Jetzt bin ich beschäftigt.

Vorwürfe? O liebster Herr Marquis, wie käme ich, eine einfache Bürgersfrau, dazu, einem vornehmen Kavalier, der mir keinen Kreuzer schuldig geblieben ist, Vorwürfe zu machen?

Was wollen Sie denn von mir?

Ach sehen Sie, Herr Marquis, Sie werden sich doch gewiß gemerkt haben, wohin das Ding, als Sies zum Fenster hinauswarfen, geflogen ist, und da wollte ich recht schön gebeten haben, ob Sie nicht mal nachsehen wollten, wo es liegt.

Ich soll also über die Dächer klettern? fragte Marigny mit ingrimmigem Lachen.

O nein, das kann ich gar nicht verlangen! Aber Sie könnten sich vielleicht drüben im Hofe einmal danach umsehen. Wissen Sie, ich möcht es selbst nicht gern tun, weil ich mit der Meiselbachin, die dort hinten wohnt, vor Jahr und Tag Streit gehabt habe. Die dumme Person behauptete nämlich, es wäre ihr mit einem faulen Apfel ein Geraniumstöckchen von der Fensterbank geworfen worden, und sie wüßte ganz genau, daß der Apfel aus meinem Mansardenfenster gekommen sei. Sehen Sie, seitdem bin ich nicht wieder drüben gewesen. Es ist ja möglich, daß die Sache ihre Richtigkeit hat, aber deshalb braucht sie es mir doch nicht so vor den Kopf zu sagen. Beweisen hat sie mir nie was können. Und wenn ich jetzt hinüber in ihren Hof ginge, dann könnte sie sich einbilden, ich wollte bei ihr schnüffeln oder wieder mit ihr anbändeln. Das fällt mir aber nicht im Traume ein. Wenn Sie aber nun gingen, dann wäre das was andres, und zudem reisen Sie ja bald weg, und wenn Sie erst fort sind, dann kräht kein Hahn mehr nach Ihnen.

Madame, sagte der Marquis, auf den nicht einmal diese letzte schmeichelhafte und tröstliche Versicherung Eindruck zu machen schien, sind Sie auch ganz gewiß, daß die beiden Schnallen zusammengehören?

Darauf will ich jeden Eid leisten! rief die Wittib, überzeugt, es sei ihrer Beredsamkeit gelungen, den alten Herrn gefügig zu machen.

Gut, so werde ich dafür sorgen, daß sie wieder zusammenkommen. Geben Sie einmal her!

Und ehe die Wittib begriff, was Marigny mit diesen Worten meinte, hatte er ihr das neusilberne Kleinod aus der Hand genommen, das Fenster aufgerissen und zum Wurfe ausgeholt. Umsonst stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus, umsonst versuchte sie dem Marquis in den Arm zu fallen – man vernahm schon in der Ferne den Aufschlag eines metallnen Gegenstandes und gleich darauf ein wahrhaft teuflisches Hohngelächter, das in die Worte ausklang:

So, Madame, jetzt können Sie beruhigt sein. Sie haben die Schuhe, und Ihre Freundin hat die Schnallen. Versuchen Sie, mit ihr handelseinig zu werden!

Damit schob der Marquis die Alte, die sich von ihrer Überraschung noch nicht erholt hatte, auf den Vorsaal hinaus und riegelte hinter ihr ab, fest entschlossen, sich durch keine Macht der Erde mehr in seiner Beschäftigung stören zu lassen.

Er öffnete die Kassette aufs neue, überzählte noch einmal die Lederkapseln und ordnete sie dann so, daß ihm noch genügend Raum zur Verfügung blieb, um einige andre Gegenstände dazuzupacken. Unter diesen war auch ein Buch, ein stattlicher, in weißes Pergament gebundner Quartband. Marigny hatte alles übrige mit einem beinahe geschäftsmäßigen Gleichmut in den Kasten versenkt, aber von dem Buche schien er sich nicht trennen zu können. Seine Hand streichelte beinahe zärtlich die schöne, elfenbeinglatte Schale, und seine Finger zitterten, als er die zierlichen silbernen Schließen öffnete. Und als er nun in dem Buche zu blättern begann und die mit einer kleinen, gleichmäßigen Handschrift dicht bedeckten Seiten überflog, traten ihm die hellen Tränen in die Augen. Plötzlich erregte eine Stelle des Textes seine Aufmerksamkeit. Er überlas sie noch einmal, erhob sich, holte Tinte und Feder, malte zwei Kreuzchen auf das Blatt, eins in die Mitte des Geschriebnen, das andre an den Rand der Seite und schrieb neben das letzte: Man kann statt des Burgunders auch Sherry nehmen. Aber dann nur ein halbes Glas!

Und ohne erst das Trocknen der Tinte abzuwarten, klappte er das Buch zu und legte es in den eisernen Kasten. In der ganzen Art, wie er das tat, lag etwas von der beinahe harten und rauhen Entschlossenheit eines Mannes, der unter das Konto seines Lebens den Schlußstrich zieht und gesonnen ist, mit allem zu brechen, was seinem Dasein bisher Wert und Reiz verlieh. Wer nach der Märtyrerkrone greift, der muß den Blumenkranz irdischer Freuden fahren lassen. Ach, und wie sehnte sich der Edelmann nach der Märtyrerkrone!

Er entnahm der Schieblade des Tisches einen Papierbogen in Folio und bedeckte ihn mit seiner kleinen damenhaften Schrift. Dann faltete er ihn zusammen und legte ihn zu oberst in die Kassette, die er darauf sorgfältig verschloß. Den Schlüssel wickelte er in Papier, das er versiegelte, mit einer Adresse versah und mit einer seidnen Schnur an dem Bügel des Deckels befestigte. Nun holte er eine kleine Holzkiste herbei, stellte die Kassette hinein, vernagelte sie und umschnürte sie mit einem Stricke, dessen Enden er ebenfalls mit Siegeln versah. Nachdem auch das erledigt war, setzte er sich noch einmal an den Tisch und schrieb ein Billett folgenden Wortlautes:

 

Mein Herr,

Die Pflicht ruft mich nach Paris. Da ich niemand kenne, der meines uneingeschränkten Vertrauens würdiger sein dürfte, als Sie, so bitte ich Sie um die Gefälligkeit, beifolgende Kiste bis zu meiner Rückkehr, über deren Zeitpunkt ich freilich zur Stunde nichts angeben kann, bei sich aufzubewahren. Im Falle Sie Nachricht von meinem Ableben erhalten sollten, haben Sie wohl die Gewogenheit, die Kiste zu öffnen und die darin eingeschlossene Kassette an die auf dem Deckel näher bezeichnete Adresse weiter zu befördern. Ich weiß, daß Sie einem alten Manne, der Sie höher achtete, als Sie ahnen, die Erfüllung dieses Wunsches nicht abschlagen werden, und bitte Sie meiner Dankbarkeit versichert zu sein.

Koblenz, am 18. Januar 1793.

Jean-Baptiste Claude Marquis von Marigny,
Kammerherr Sr. Allerchristlichsten Majestät des Königs von Frankreich.

 

Diesen Brief schickte er zusammen mit der Kiste am nächsten Morgen durch denselben Lohndiener, der früher schon so oft in seinem Auftrage nach der Weisergasse gegangen war, an Henri von Villeroi. Der Vorsicht halber folgte er dem Boten in einiger Entfernung, um die Gewißheit zu haben, daß die Sendung auch wirklich in das rechte Haus gelangte.

Als der Bote mit leeren Händen wieder auf die Gasse trat, atmete Marigny erleichtert auf, befahl ihm, sein Reisegepäck auf die Post zu bringen, und kehrte noch einmal in den »Englischen Gruß« zurück, um von Madame Haßlacher, die Neigung zeigte, sich in Tränen aufzulösen, Abschied zu nehmen.

Eine Stunde später rasselte der Postwagen mit dem seltsamen Passagier, der geradeswegs dem Märtyrertode entgegenfuhr, über das holprige Pflaster der Moselbrücke. Wer den alten Herrn gesehen hätte, wie er, in mächtige Pelze gehüllt, ganz behaglich auf dem breiten Lederpolster saß und mit einem Korbe liebäugelte, aus dem Flaschengeklapper ertönte und der feine, würzige Duft einer Wildbretpastete emporstieg, der würde freilich nicht daran geglaubt haben, daß diesem würdigen Haupt eine Gloriole vorherbestimmt sein könnte!

.


 << zurück weiter >>