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27. Kapitel

Blicke in das Leben einer Pension für Töchter höherer Stände. Wir machen die Bekanntschaft der Vorsteherin, sowie des Premierlieutenants mit der gespenstischen Stimme und erfahren etwas über Vergehungen und ihre Strafen.

Ein paar Wochen später, in welchen durchaus nichts geschehen war, was für den Lauf unserer wahren Geschichte von Wichtigkeit gewesen wäre, wenn wir nicht vielleicht sagen wollen, daß sich der Bombardier Freiberg sowohl auf dem Exerzierplatze als in der Reitbahn die erstaunlichste Mühe gab, um sich die Zufriedenheit seines unmittelbaren Vorgesetzten, des Unteroffizier Wenkheim, zu verdienen, sehen wir uns genötigt, den geneigten Leser an jenes Haus mit dem großen Garten zurückzuführen, um dort eine Bekanntschaft anzuknüpfen; aber gewiß nicht im Schmollerschen Sinne, sondern nach dem naturgemäßen Gange dieser einfachen Geschichte. An dem Gitterthore brauchen wir weder die eine noch die andere Klingel zu ziehen, um uns hierauf vor den innerhalb erscheinenden Bedienten zu legitimieren und nach Erfund zugelassen oder abgewiesen zu werden. Wir brauchen auch den bissigen Hofhund nicht zu scheuen, der sich abermals auf einer Sonnenunterlage ausruht und an dem wir unbeachtet vorübergehen; ja, wir brauchen an der Thür des Hauses nicht ein zweites Verhör mit einer alten, mürrischen Haushälterin zu bestehen, welche, ein mächtiges Schlüsselbund am Gürtel, ganz das Aussehen einer Klosterpförtnerin hat, sondern wir treten auch hier frei und frank in den angenehm erwärmten Vorplatz und steigen die mit Teppichen bedeckte Haupttreppe empor, die unmittelbar vor eine Thür führt, welche die Aufschrift trägt: »Frau Direktorin von Welmer«. Ohne anzuklopfen, ohne die Thür zu öffnen, befinden wir uns in einem behaglichen, fast elegant eingerichteten Eckgemache des großen Hauses, und zwar in dem Zimmer der Vorsteherin einer Pensionsanstalt für Töchter der vornehmen und hohen Stände. Ein breites Fenster gewährt uns nicht nur einen Ueberblick über den schönen, großen, parkartig angelegten Garten, sondern läßt uns auch ein kleines Stück der entfernt liegenden kleinen Festung sehen mit ihrem Wallgange und der gleichgültig hin und her schlendernden Schildwache.

An dem eben erwähnten Fenster steht ein großer Schreibtisch mit einem ziemlichen Aufbau für Bücher, und vor diesem Schreibtische, der mit Papieren aller Art bedeckt ist, sitzt die Vorsteherin selber, eine ziemlich große, ansehnliche Frau, mit einem hart aristokratischen Gesichte, welches alsdann nur von einem Zuge von Wohlwollen günstig erleuchtet wird, wenn die Dame lächelt; aber sie lächelt höchst selten, und in diesem Augenblicke thut sie gerade das Gegenteil, wo sie, halb gegen das Zimmer gewendet, eine Feder in der Hand, ihre Worte gegen ein gedrückt aussehendes Wesen, eine der Unterlehrerinnen, richtet. Diese steht in der Ecke des Zimmers, mit zusammengelegten Händen, welche sie hie und da ineinander reibt, besonders in solchen Augenblicken, wo sie es wagt, mit einem ergebungsvollen, demütigen Blicke in die Höhe zu schauen.

Diese Unterlehrerin hat wohlwollende, herzliche, gute Züge, auf denen man Spuren von ehemaliger großer Schönheit sieht; doch hat die rauhe Hand des Lebens davon weggewischt, was möglich war, und es ist fast nichts übrig geblieben, als der Glanz der Augen und einige Erinnerungen in der Gestalt.

Noch eine dritte Person ist in dem Zimmer anwesend, und wenn wir nicht schon die Direktorin als solche erkannt hätten, so würden wir jene für die Vorsteherin des Hauses halten, so ungeniert benimmt sie sich und so ungeniert geht sie umher. Es ist dies eine lange, dürre Dame, von jenen Jahren, in denen man jede Aeußerung der Jugend bei anderen unbegreiflich findet, denn die eigene ist schon vor so langer Zeit dahingegangen, daß man sich wenigstens ihrer Freuden durchaus nicht mehr erinnern kann. »Gibt es überhaupt noch eine Jugend?« könnte sie fragen. »Hat man überhaupt noch Lust, zu singen, zu tanzen, zu lachen und zu lieben?« Lächerlich, thörichte Einbildungen! Jeder Zug im Gesichte der eben erwähnten Dame ist eine dreifache Verneinung jener eben gestellten Fragen. Bei jedem ihrer harten, weiten Schritte, welche sie durch das Gemach thut, ist es gerade so, als suche sie eine in der Einbildung hervorgesproßte Blume zusammenzutreten; nur wenn sie vor die Unterlehrerin hintritt, so thut sie das mit einem Aplomb, als trete sie auf den Nacken einer Sklavin. Sie hält ihre beiden Arme auf dem Rücken und bewegt ein langes Lineal in ihren dürren Fingern.

»Mamsell Stöckel,« sagt sie jetzt, indem sie vor der Unterlehrerin so scharf wendet, daß ihre Röcke beiseite fliegen, »kann nun einmal das Protegieren nicht lassen, und es gibt denn doch in Ihrer Stellung nichts Lächerlicheres, als zu protegieren. Habe ich recht, Mamsell?«

»O, gewiß, Fräulein von Quadde,« erwiderte die Unterlehrerin demütig, »und wenn ich je etwas gethan, was dem Protegieren nur im entferntesten ähnlich sah, so ist das gewiß unwillkürlich geschehen.«

»Aber doch geschehen,« entgegnete Fräulein von Quadde, deren Organ eine so eigentümlich dumpfe Tiefe hat, daß es fast wie das eines Bauchredners klingt. Ja, sie muß etwas von dieser Kunst besitzen, denn ihre Worte klingen oft, als kämen sie ganz wo anders hervor, meistens wie aus der Tiefe des Kellers, wobei es denn von großer Wirkung ist, daß sie in Augenblicken hohen Affekts bis auf das Hausdach zu klettern vermag, um alsdann mit dem Gekreische einer Windfahne zu endigen.

Wollen wir die vorhandenen drei Damen nach ihrer Stellung in der Töchterpension unserer militärischen Geschichte gemäß charakterisieren, so wäre Frau Direktor von Welmer der Hauptmann der Batterie, Fräulein von Quadde der alles dirigierende Premierlieutenant und Mamsell Stöckel der letzte der Unteroffiziere, obgleich sie Kenntnisse genug hat, in diesem weiblichen Corps gleichfalls Offizier zu sein.

»Aber ich wiederhole es,« sagte die Quadde aus dem Parterrestocke ihrer Stimme heraus, »wenn Sie dieses Protegieren nicht lassen, so wird die Frau Direktor ein Einsehen haben müssen und dieser Bestrebung ein für allemal ein Ziel setzen.« Jetzt war sie tief unten im Keller.

»Ja, Mamsell, Fräulein von Quadde hat recht,« sagte die Vorsteherin; »Sie protegieren alles mit einer Auswahl, die etwas Verletzendes hat, Sie protegieren die Köchin, obgleich dies eine naseweise, unausstehliche Person ist, Sie protegieren von den Stubenmädchen nur die, welche sich durch unehrerbietiges, schnippisches Betragen auszeichnen. Sie protegieren den Gärtner, der ein Trunkenbold ist und niemals in die Kirche geht!«

»Ach, Frau Direktorin,« erlaubte sich hier die Unterlehrerin schüchtern zu sagen, »was Sie Protektion des Gärtners nennen, so ist das gewiß nur, weil ich Mitleiden habe mit dessen kranker Frau und sie zuweilen besuche, um ihr ein freundliches Wort des Trostes zu sagen.«

»Sehe mir einer an,« sagte der Premierlieutenant der Erziehungsanstalt, in seinem heftigen Gange durch das Zimmer plötzlich parierend, »ist das nicht schon wieder ein gänzliches Verkennen Ihrer Stellung? Sind Sie vielleicht von der Frau Direktorin oder gar von der allerhöchsten Protektorin dieser Anstalt dazu berufen worden, den kranken Frauen versoffener Dienstleute hilfreiche Trostesworte zu sagen? Ei, Mamsell, mir scheint, Sie sind zu was ganz anderem da, aber Sie scheinen überhaupt noch nicht zu wissen, zu was Sie da sind he?« Hier schaute die Stimme des Fräuleins von Quadde verwunderungsvoll zum oberen Stockwerke hinaus. »Wüßten Sie das, so würden Sie sich des Protegierens und auch des Einmischens anderer Art enthalten!«

»Ja, Mamsell, des Einmischens anderer Art!« pflichtete die Direktorin bei.

»Dürfte ich bitten,« fragte das demütige Wesen an der Thür, »worin diese andere Art noch besteht?«

»Ei, Mamsell, wie Sie vergeßlich sind!« sagte die Quadde. »War das nicht ein Einmischen ganz unberufener Art, als Sie vor vierzehn Tagen die gerechte Strafe, die man der Waldow diktiert, dadurch abschwächten, daß Sie ihr heimlich ein Nachtessen zutrugen, und nicht genug damit, sondern daß Sie ihr auch noch während der Nacht im Arrestzimmer Gesellschaft leisteten? Thaten Sie das nicht, Mamsell?«

»Ja, ich habe das gethan!« sagte Mamsell Stöckel mit mehr Festigkeit, als man ihr zugetraut hätte.

»Und warum thaten Sie das, wenn man fragen darf?«

Die Unterlehrerin warf einen Blick an den blauen Himmel empor, als wolle sie sich wenigstens in der Einbildung eines höheren Schutzes versichern; dann drehte sie ein paarmal ihre Hände krampfhaft umeinander und sagte hierauf: »Ich that das, wenn ich offen reden darf und soll, erstens, weil ich die Strafe an sich für ungerecht hielt ...«

»Ooooh, Mamsell!«

»Weil ich,« wiederholte, wie um sich selbst Mut zu machen, die andere mit hochgerötetem Gesichte, schwer atmend, mit sichtbarer Erregung, »diese Strafe für ungerecht hielt weil ich nein, weil die Waldow, sonst ein gutes, folgsames Mädchen, die Angegriffene war, und es sie notwendig schmerzen mußte, daß manche der anderen jungen Mädchen, ja, einige der Lehrerinnen es sie hier sogar fühlen ließen, wie ihre Stellung in der Welt nach dem Tode ihres Vaters, des allmächtigsten Mannes, plötzlich so eine ganz andere geworden sei und weil, was den vorliegenden Fall anbetraf, die Hellwig ihr das auf die brutalste Art zu verstehen gab, indem sie ihr neulich beim Spaziergange durch die Vorstadt höhnisch den Rat gab, sich in einer der kleinen Hütten dort eine Wohnung für ihre Frau Mama Excellenz auszusuchen!«

»Kleinigkeiten, kindisches Geschwätz!« sagte die Direktorin, während die Quadde mit übereinandergeschlagenen Armen in der Mitte des Zimmers stehen blieb und die Unterlehrerin von oben bis unten und dann wieder von unten bis oben betrachtete.

»Gewiß, Kindereien, Nadelstiche, wenn Sie erlauben wollen, Frau Direktorin, die aber, wenn sie fortgesetzt werden, am Ende das ruhigste, folgsamste Gemüt zur Verzweiflung treiben können.«

»Sie plaidieren wohl jetzt mehr für sich selber, als für die Waldow?« fragte der Premierlieutenant mit einem so angenehmen Tone in der Stimme, als liege er in einer schönen Beletage am Fenster und schaue in eine friedliche Abendlandschaft hinaus.

»Ja, es waren Nadelstiche, die unaufhörlich erfolgten, kleine boshafte Bemerkungen beim Mittagessen, im Schlafzimmer, beim Lesen der Journale, wo nur eine Anspielung möglich war, und die endlich das Gemüt des Kindes so verbitterten, daß es zu jenem allerdings unangenehmen Auftritte kam, infolgedessen die Angegriffene bestraft wurde, während die Angreiferin vollkommen unbehelligt blieb, und darum nannte ich die Strafe ungerecht.«

»Wissen Sie auch, Mamsell,« brauste die Direktorin auf, »daß es an Empörung Ihrerseits grenzt, Ihre Vorgesetzten des ungerechten Strafens zu beschuldigen?«

»Wenn ich das vor den Untergebenen thäte, könnte es vielleicht unter Umständen so genannt werden, so aber muß es mir bei meiner Verteidigung gestattet sein.«

»Bitte, bitte,« sagte die Quadde mit einer Handbewegung gegen die Vorsteherin, »wollen wir nicht diese Verteidigung zu Ende hören? Denn da Mamsell Stöckel mit einem Erstens anfing, so wird sie auch ein Zweitens für uns in Bereitschaft haben. Bitte, nennen Sie Ihr Zweitens.«

»O, gewiß, Fräulein von Quadde, ich werde es Ihnen nicht vorenthalten! Zweitens nahm ich mich der armen Waldow an jenem Abende an und blieb bei ihr in ihrem dunklen Arrestzimmer, weil sie mich flehentlich, fußfällig darum bat. Das arme Geschöpf kam vom Sterbebette ihres Vaters, aus dem düstern Trauerhause, und ihre erregte Seele war erfüllt mit Phantasien und Bildern schrecklicher, unheimlicher Art. Ich bin überzeugt, Frau Direktorin,« fuhr sie nach einer Pause mit festerer Stimme fort, nachdem sie vorher einen tiefen Atemzug gethan, »die Waldow hätte in der Nacht, wenn sie allein geblieben wäre, entweder eine fürchterliche Scene gemacht, oder wir hätten sie am anderen Morgen aus dem Arrestzimmer ins Krankenzimmer bringen können.«

»Das ist alles möglich,« entgegnete Frau von Welmer, »aber in dem Falle wäre es Ihre Schuldigkeit gewesen, eine Ihrer Vorgesetzten von diesem Zustande zu benachrichtigen.«

Hierauf gab die Unterlehrerin in einem so leisen Tone zur Antwort, daß es nur die dicht vor ihr stehende Quadde vernehmen konnte: »Habe ich das vielleicht nicht gethan?« Worauf diese geräuschvoll zu der Vorsteherin des Hauses ging und ihr sagte:

»Wie ich Ihnen vorhin schon bemerkt, das entschuldigt sich und hat immer recht gehabt, und wird uns am Ende noch begreiflich machen, daß wir selbst im Unrechte sind; es ist mit diesen Leuten nichts anzufangen, und statt freundliche Worte an sie zu verschwenden, thut man am besten, kategorisch zu befehlen, bis man alles anders machen kann, was doch auch über kurz oder lang kommen wird.«

»Ja, Positives, Positives!« sagte die Vorsteherin, indem sie einen beschriebenen Bogen Papier vor sich nahm und dann, nachdem sie darin etwas gesucht und gefunden, fortfuhr: »Richtig, das war's! Wie können Sie auf dem Ihnen anvertrauten Schlafsaale dulden, daß die jungen Mädchen, nachdem die Zeit ihres Zubettegehens da ist und sie ausgezogen sind, unter allerlei lächerlichen Vermummungen groteske Tänze und dergleichen aufführen? Wollen Sie denn nie lernen, was das Reglement des Hauses, wie es ausdrücklich von der hohen Protektorin bestimmt wurde, vorschreibt? Kennen Sie vielleicht dieses Reglement nicht?«

»Oder finden Sie dasselbe vielleicht auch ungerecht?« fragte der Premierlieutenant.

»Ich kenne es und finde es auch nicht ungerecht, bestehe auch mit besten Kräften darauf, daß es gehalten wird, konnte aber in besagtem Falle die harmlose, ebenso plötzlich ausbrechende, als rasch wieder aufhörende Lustigkeit der jungen Mädchen nicht verhindern, aber kaum hatte ich ihnen einige ernste Worte gesagt, so lagen sie auch alle in ihren Betten und thaten, als wenn sie fest schliefen.«

»'s ist doch eigentümlich,« sagte die Quadde höhnisch, wobei sich ihre Stimme hoch im Hause zu befinden schien, »daß dergleichen Skandale immer in Ihrer Abteilung vorkommen; so die Geschichte von gestern abend mit Miß Price!«

»Was war denn das wieder?« fragte die Vorsteherin in bekümmertem Tone.

»Auch wieder wegen dieser Waldow, nicht wahr, Mamsell Stöckel? Wobei natürlicherweise Ihre Lieblinge wieder vollkommen im Rechte sind!«

»O meine Lieblinge ich habe keine, Fräulein von Quadde. Aber allerdings betraf dieser wieder die ewigen Sticheleien, die man an der Waldow ausläßt und für welche Miß Price, wie so oft, Partei nahm.«

»O, das nennen Sie mit dem harmlosen Worte Parteinehmen, wenn diese junge, wilde Person auf die Welten losfuhr und sie zu erdrosseln drohte?«

»Leider, leider, nachdem aber die Price fünf bis sechsmal gebeten, endlich Ruhe zu halten, und nachdem auch ich strengstens darum ersucht. Doch wollte die Welten nicht aufhören, ja, sie mischte absichtlich Miß Price in ihre Neckereien, indem sie meinte, es sei am besten, wenn diese und die Waldow die Pension junger, vornehmer Mädchen verließen und sich auf die Bänkelsängern verlegten. Beide wurden gerechterweise bestraft.«

»Die Price ist ein Kobold der schlimmsten Art,« sagte Fräulein von Quadde, indem sie abermals im Zimmer auf und ab ging. »Wenn von einem Gemüte das Sprichwort gilt, stille Wasser sind unergründlich, so von diesem, und dabei gibt sie aus ihrer Ruhe heraus die schärfsten und verletzendsten Antworten, ohne alle sichtbare Leidenschaft, und ich bin überzeugt, wie sie gestern auf die Welten losgefahren ist, that sie das mit unverändertem, ja lächelndem Gesichte. Ist's nicht so, Mamsell?«

»Ich konnte das nicht bemerken, da nur die Nachtlampe brannte, doch drückte die Stimme der Price tiefe Erregung aus.«

»Natürlicherweise sagen Sie nur Gutes von ihr.«

»Und wenn ich auf der Folter läge, ich könnte im allgemeinen nichts Schlimmes über sie sagen; sie ist gewöhnlich still und bescheiden, sie lernt wie keine, sie hat ein vortreffliches Herz, und was ihre zuweilen schroff hervortretende, allerdings wilde Leidenschaftlichkeit anbelangt, so wissen Sie besser wie ich, daß es nur Folge ihrer arg vernachlässigten Erziehung ist.«

»Ich glaube, bei ihr ist alles Verstellung,« sagte die Quadde; »denn trotz ihrer arg vernachlässigten Erziehung, worauf man so vieles schiebt, und trotz ihrer wilden Natürlichkeit wirft sie mit boshaften Witzen um sich, die einen scharfen Verstand und tiefe Ueberzeugung beurkunden. War sie es doch, die das Wort erfunden hat,« fuhr sie achselzuckend fort, »ich habe nicht darüber reden wollen, um nicht ihre ewige Anklägerin zu machen meine Stimme, welche allerdings großer Modulationen fähig ist, sei ein umherwandelndes Gespenst und erschrecke am meisten, wenn man ihr auf dem Dachboden begegne.«

Die Vorsteherin zuckte mit den Achseln und las dann von ihrem Zettel den Namen der Gräfin Haller. »Was ist's mit dieser?«

»O,« meinte Fräulein von Quadde mit einem Tone, der so lieblich klang, als dränge er durch die Zweige einer Geißblattlaube, »sie wird wegen des Lobes dort vorgemerkt sein das gute Geschöpf!«

»Diesmal nicht,« erwiderte Frau von Welmer lächelnd; »nein, ich erinnere mich, der hochwürdige Herr Kaplan hat sie strengstens bei mir verklagt, weil sie in der Stunde des Religionsunterrichts in einem anderen Buche gelesen. Sehen Sie, hier ist das Buch ich habe es nicht einmal betrachtet.«

»Bitte, lassen Sie sehen,« sagte Fräulein von Quadde rasch und nahm das Buch aus den Händen der Vorsteherin, ehe diese noch den Deckel aufschlagen konnte. »Ach, es ist an sich etwas ganz Unschuldiges Vergißmeinnicht. Almanach für Frauen und Jungfrauen allerdings recht unpassend für die Religionsstunde! Sie werden mir erlauben, der Gräfin Haller darüber eine Rüge zu erteilen.« Damit steckte sie, ohne Erlaubnis abzuwarten, das Buch, auf dessen erster Seite der Name der Besitzerin, »Bertha von Quadde«, geschrieben stand, in die Tasche ihres Kleides. »Es ist jetzt elf Uhr,« fuhr sie gegen die Unterlehrerin gewendet fort, »die jungen Damen werden frühstücken und dann ihren Morgenspaziergang im Garten machen, Mamsell Erbe und Sie werden dieselben begleiten; es versteht sich von selbst, daß die Price und die Waldow zur Strafe auf ihrem Zimmer bleiben.«

»Die erstere wollten wir ja einen Augenblick sehen,« meinte Frau von Welmer mit einem fragenden Blick auf ihren Premierlieutenant, und als diese ihre Zustimmung gegeben hatte, verließ die Unterlehrerin das Zimmer, um wenige Minuten nachher die Gerufene eintreten zu lassen, worauf sie sich selber wieder zurückzog.

Miß Price war eine junge Dame von über fünfzehn Jahren, doch hätte man sie ihrer ausgebildeten Gestalt nach für wenigstens sechzehn bis siebzehn Jahre halten können. Sie trug das gewöhnliche Kleid der Pensionärinnen der Anstalt, ein Gewand von hellgrauem, feinem Wollenstoffe, das, fest an ihrer schlanken Taille, sowie am Oberkörper anliegend, ihre schönen, eleganten Formen zeigte. Ihr Gesicht verband mit dem hellen, durchsichtigen Teint, der gewöhnlich den Engländerinnen eigen ist, eine hohe, breite Stirn, geistvolle, sehr bestimmt blickende Augen, eine seine, gerade Nase und einen zierlich geschnittenen Mund. Kurz, dieses Gesicht war von einer edlen, vornehmen Schönheit. Ihr Haar war hellblond, aschfarbig, von seltener Fülle und hing ihr tief auf die Schultern und den Nacken herab, obgleich es kunstlos zweimal um ihren Kopf, dort nur von einem einfachen weißen Kamme gehalten, herumgelegt war.

»Sie können sich wohl denken, warum ich Sie rufen ließ, Miß Price,« sagte die Vorsteherin höchstselbst, während sich der Premierlieutenant hinter ihren Stuhl zurückgezogen hatte.

»Jawohl, Madame, ich kann mir das allenfalls denken.«

»Kommen aber leider nicht mit einer Miene zu mir, welche Ihr Bedauern über den Vorfall ahnen läßt, oder fühlen Sie vielleicht kein Bedauern darüber?«

»O doch, Madame! Es thut mir leid, daß ich mich vom Zorne so weit fortreißen ließ, und wünsche sehnlich, daß ich mich begnügt hätte, mit gleichen Waffen zu kämpfen!«

»Mit welchen Waffen, wenn ich fragen darf?«

»Mit bösen, verletzenden Worten, die oft weher thun, als jede andere Waffe.«

»Die aber nicht gegen Sie gerichtet waren.«

»Ich kann das allerdings nicht beweisen, und doch fühlte ich, daß die Baronin Welten Worte sagte, welche die Absicht hatten, mich tief zu kränken.«

»Welche Worte denn?«

»Ich habe sie vergessen, und auch wenn sie mir erinnerlich wären, würde ich sie doch hier nicht wiederholen; man hat mir eine gerechte Strafe diktiert, und damit wird wohl diese Sache vorderhand zu Ende sein.«

Das junge Mädchen sprach mit wohlklingender, ruhiger, leidenschaftsloser Stimme, und auch der Blick ihrer großen Augen schien nichts anderes auszudrücken, abgerechnet einen tiefen Ernst, etwas Düsteres, welches aber diesen Blicken gewöhnlich war und deshalb auch von den beiden Damen nicht weiter beachtet wurde.

»Sie wissen wohl, Miß Price,« sagte die Vorsteherin nach einer Pause, »daß ich Sie gern habe und Ihren guten Eigenschaften alle Gerechtigkeit widerfahren lasse, aber dieses Wohlwollen, das ich Ihnen beweise, ja, welches Ihnen mit wenig Ausnahmen alle im Hause förmlich entgegentragen und aufdrängen, muß nicht zu einem schroffen Benehmen verleiten, wie Sie es leider an sich haben und das Sie, wie mir scheint, sich schwer abgewöhnen können. Ja, Miß, damit erwirbt man im Leben keine Freunde, überwindet auch nicht die Schwierigkeiten, die sich uns entgegensetzen. Gewiß, Sie müssen sich Ihr schroffes Wesen abgewöhnen, sonst genügen Ihnen für Ihr späteres Fortkommen auch nicht einmal die mächtigen Protektionen, deren Sie sich zu erfreuen haben.«

Die Lippen der jungen Dame kräuselten sich leicht, unmerklich, ob schmerzlich, ob verächtlich, man konnte das nicht genau unterscheiden, vielleicht beides; wenigstens verdüsterte sich ihr Auge noch mehr, als sie hierauf sagte: »Ich habe noch nie auf die mächtigen Protektionen meine Zukunft gebaut, Protektionen, die zu verdienen ich gewiß nicht wert genug bin. Was aber mein schroffes Wesen, wie Sie es nannten, anbelangt, so fühle ich es wohl, daß ich allerdings nicht bin wie andere, heitere, ich möchte fast sagen, gerade dadurch glückliche Mädchen. Ich werde mir aber Mühe geben,« setzte sie nach einer Pause hinzu, während welcher ihre Brust von einem leichten Seufzer gehoben wurde, »freundlicher, nachgiebiger zu sein glücklicher, wenn das möglich ist,« setzte sie leise flüsternd hinzu.

»Thun Sie das, mein liebes Kind,« erwiderte d»e Direktorin in wohlwollendem Tone. »man meint es so gut mit Ihnen, man will ja nur Ihr Bestes! Gestern noch hatte ich die Ehre, Ihre Excellenz die Frau Obersthofmeisterin Gräfin Baring zu sehen. Sie erkundigte sich so liebreich nach Ihnen und trug mir freundliche Grüße auf, auch von seiten der Gräfin Seefeld, von der sie Briefe hat.«

»Ich danke Ihnen, Madame! Es freut mich sehr, wenn ich höre, daß sich die Frau Gräfin Seefeld, der ich so vielen Dank schuldig bin, meiner erinnert!« Als sie das sagte, klang ihre Stimme etwas bewegt, doch blickte ihr Auge ruhig, ja kalt, wie vorher.

»Glauben Sie mir,« fuhr die Vorsteherin fort, »daß ich Ihrer gegen die Frau Obersthofmeisterin mit bestem Lobe erwähnte, und kann ich auch nicht anders, als Ihrem Betragen im allgemeinen, sowie den Fortschritten, die Sie machen, nur das Beste nachrühmen, und, wie schon früher gesagt, wäre ich ganz mit Ihnen zufrieden, wenn Sie in Ihrem Benehmen etwas wärmer, herzlicher, teilnahmsvoller, sowohl gegen Ihre als besonders gegen Ihre Lehrerinnen sein wollten. Geben Sie sich Mühe darin, und Sie werden sehen, es geht schon! Wollen Sie es versuchen?«

»O ja, Madame!«

»Wollen Sie nicht damit anfangen, der Baronin Welten ein freundliches Wort zu sagen? Wenn dieselbe auch mit unangenehmen Worten gegen Sie begann, so waren Sie doch die Angreiferin auf eine Art, die eigentlich unerhört ist.«

»Hätte die Baronin Welten mich allein mit ihren Worten verletzt,« sagte das junge Mädchen in ruhigem, festem Tone ihrer Stimme, »so würde ich durchaus keinen Anstand nehmen, sie um Verzeihung zu bitten; ich aber trat nur für die arme Waldow ein, die von der Welten aufs tiefste beleidigt wurde, und solange sich jene nicht zuerst gegen die Waldow entschuldigt, würde ich mich kaum dazu entschließen können, ihr ein freundliches Wort zu sagen.«

»Das gäbe eine ganze Kette von Entschuldigungen,« sagte jetzt Fräulein von Quadde tief aus dem Keller heraus, »und wer wollte herausfinden, welche von diesen jungen Damen gerechterweise damit anzufangen hätte?«

»Nun, die arme Waldow wenigstens nicht,« sprach Miß Price in einem etwas lebhafteren Tone, wobei sie ihre Augen einen Moment auf dem Gesichte der ersten Lehrerin ruhen ließ.

Diese zuckte mit den Achseln und wandte sich offenbar gelangweilt gegen das Fenster, worauf denn die Vorsteherin mit einer Handbewegung und einem kurzen Kopfnicken die Miß Price verabschiedete.

Als sich die Thür hinter ihr geschlossen, wandte sich Fräulein von Quadde lebhaft um und sagte, ihr nachschauend: »Das ist ein ganz eigentümliches Geschöpf, es wäre in der That besser gewesen, wenn man sie nicht bei uns aufgenommen hätte; ich weiß nicht, auf mich macht dieses unausstehliche schroffe Wesen, machen diese düsteren Augen einen ganz unheimlichen Eindruck. Vielleicht, daß ich ihr unrecht thue, aber ich kann mich nun einmal des Gedankens nicht erwehren, daß, wenn diese junge Person Ursache zu haben glaubte, irgend jemand zu hassen, ihr es nicht darauf ankäme, sich mit irgend einer Waffe Recht zu verschaffen.«

»Ach, gehen Sie doch, meine liebe Quadde, Sie haben nun einmal eine Antipathie gegen das Mädchen, und ich weiß ja wohl, nicht ganz mit Unrecht! Es ist eben mit ihr, wie mir auch die Gräfin Seefeld damals sagte: Sie verlebte damals eine traurige, freudlose Jugend, sie wurde zuweilen mit Härte behandelt, vielleicht ungerechterweise mit Härte, sie wuchs empor unter Mangel und Entbehrungen.«

»Und beweist sich für diesen glänzenden Umschwung ihres Schicksals dankbar,« sagte die Quadde in ironischem Tone, »daß sie mit dem Hochmute einer schlecht erzogenen Prinzessin auf alles neben sich hinabschaut!«

»Sie nennen ihr stilles, abgeschlossenes Wesen Hochmut; ich möchte es viel lieber mit dem Ausdrucke Mißtrauen bezeichnen, Mißtrauen gegen einen gesellschaftlichen Kreis, von dem sie sich früher ausgestoßen fühlte.«

»Vielleicht mit Recht,« sagte die Quadde halblaut und mit einem Tone, der wie tief aus einem Burgverließ heraufklang. »Wer ist sie denn eigentlich. Eine Frage, die ich allerdings nur in Ihrer Gegenwart laut werden lassen möchte, eine Frage, die ich zweifelnd thue und mit welcher ich meine Aeußerung von vorhin motivieren würde, warum wir sie eigentlich aufgenommen, da weder die Gräfin Seefeld, noch die Obersthofmeisterin, im Grunde eine und dieselbe Quelle, die erste und notwendigste Bedingung zur Aufnahme erfüllen wollten oder konnten, nämlich gültige Familienpapiere über dieses junge Mädchen vorzulegen.«

»Sie vergessen, liebe Quadde,« versetzte die Vorsteherin mit sanfter Stimme, »daß Ihre Hoheit, die Frau Herzogin, unsere allergnädigste Protektorin, unsere Bedenken dadurch abschnitt, daß sie sich für die Aufnahme der jungen Person aussprach, und darauf hin muß ich sie schon halten, als ob es etwas ganz Absonderliches wäre.«

»Und dieses Absonderliche wäre im besten Falle vielleicht gerade das Natürliche.«

»Möglich; dafür sprechen auch ihre hohen Protektionen, und daß sie vom Blute einer guten, ja, vornehmen Familie ist, darüber kann niemand im Zweifel sein, der Menschenkenntnis besitzt, und dieses im Aeußeren so tadellos schöne Mädchen mit ihrem aristokratischen Anstande betrachtet.«

»Blaues Blut allerdings,« erwiderte die Quadde, »aber mit anderem gemischt, das häufig in ihren Extravaganzen zu Tage tritt. Diese junge Person fürchtet sich nämlich vor gar nichts; ebensogut wie sie ohne die geringste Emotion die Nacht in einer Kirche oder auf einem Friedhofe zubringen würde, betrachtet sie mit Entzücken die erschütterndsten Ausbrüche eines schweren Gewitters und greift bei anderen Gelegenheiten augenblicklich und keck und sicher zu, wo sich Männer besinnen würden. Erinnern Sie sich noch, wie bei einer Ausfahrt im vorigen Sommer die Pferde mit dem schweren Gesellschaftswagen den Berg hinabrasten, als der Kutscher im Begriffe war, den Hemmschuh einzulegen?«

»Ich denke mit Schaudern daran!«

»Wie sie sich damals rasch der Zügel bemächtigte und die Tiere mit einer Kraft und Gewandtheit bändigte, welche alles in Erstaunen setzte? Doch will ich das alles noch nicht einmal zu den Schattenseiten ihres eigentümlichen Wesens zählen, wie den Angriff auf die gute Welten von gestern oder wie ihren übermütigen Eigensinn vor ein paar Tagen, als sie beim Spaziergange trotz des Zurufens der Lehrerinnen so dicht an der Straße blieb, daß sie von der vorüberrasselnden Batterie und den toll galoppierenden Pferden mit Sand und Schmutz bespritzt wurde. Hätte sie einen Bruder oder sonst einen Verwandten zufällig unter den Offizieren entdeckt, sie hätte ihm nicht mit mehr Interesse nachschauen können.«

»Ich will nicht hoffen, nein, ich bin davon überzeugt, liebe Quadde, daß dieses Nachschauen keinem jener Reiter galt der Himmel soll uns in Gnaden vor so etwas bewahren! Ah, Sie gehen zu weit, viel zu weit, und sind darin ungerecht gegen die junge Person! Was das anbelangt, meine Liebe, müßte man auf andere ein schärferes Auge haben, so auf Ihren Liebling, die Gräfin Haller; diese ist gefallsüchtig bis zur Möglichkeit und treibt ihre kleinen Koketterien, wo sich nur eine Gelegenheit dazu darbietet! Betrachten Sie nur ihren Anzug und wie sie es nie versäumt, an ihrem Haar irgend etwas Auffallendes anzubringen, so zwar, daß Ihre Hoheit unsere allergnädigste Protektorin das neulich sogar bemerkte!«

»'s ist eben ein junges, hübsches Mädchen von lebhaftem Temperament.«

»Ja, ja, die während des Religionsunterrichts in anderen Büchern liest; wir wollen ihr das diesmal nicht so hingehen lassen und kann sie, statt nachher im Garten spazieren zu gehen, den beiden anderen auf dem Arbeitszimmer Gesellschaft leisten. Sagen Sie ihr das.«

Da die Vorsteherin hierbei mit dem Kopfe nickte und sich gegen ihren Schreibtisch wandte, so endigte hierauf die Unterredung der beiden Damen, und Fräulein von Quadde verließ das Gemach mit einem zweifach unangenehmen Gefühle. {bild}


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