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Es wird hier ein Unterschied gemacht zwischen Existenz- und Existentialphilosophen. Er tritt aus den folgenden Ausführungen von selbst hervor. Es ist, ganz simpel gesagt, ein Unterschied der Annäherung oder Entfernung des Denkens zum oder vom Existieren. Im Existenzphilosophen fallen sie zusammen. Ein sichtbares Merkmal: Der Existenzphilosoph hat keinen Drang, Bücher zu schreiben. Sokrates hat keine geschrieben. Kierkegaard war ein großer Schriftsteller und hat viele und dicke Bücher geschrieben. Die modernen Existentialphilosophen schreiben auch viele und dicke Bücher.
Die Existenzphilosophie hat ihren Ahnherrn in Sokrates. Er ist niemals erreicht, geschweige denn übertroffen worden. Er kann es gar nicht. Er ist in der Ordnung der Natur des menschlichen Geistes einzig, singulär. Er ist in der heidnisch-adventistischen Ordnung des menschlichen Geistes ein Typus Christi, insofern dieser Zeuge für die Wahrheit ist, wie in der Ordnung des offenbarenden göttlichen Geistes die Propheten es waren. Darin hat er nicht einen einzigen Nachfolger gehabt, während Gott in der Ordnung der Offenbarung viele Propheten sich erkoren hat, die auf mancherlei Art ums Leben kamen, indem sie erschlagen wurden, gesteinigt, geköpft, gemartert oder, wie es von Jeremias berichtet wird, lebendig zwischen Bretter gelegt und zersägt wurden. Sokrates ist auf Grund eines öffentlichen, politischen Prozesses um seiner »Wahrheit« willen zum Tode verurteilt worden und hat dafür den Tod auch erlitten. Es gibt keinen zweiten solchen Tod mehr in der Geschichte der Menschheit. Das hat ihm kein Philosoph je nachgemacht und konnte es auch nicht und kann es nicht und wird es nicht können. Es ist das Christentum dazwischen. Sokrates ist nicht für eine rein politische Idee gestorben: Das sind im Altertum und später sehr viele. Er ist freilich auch keinen apolitischen Tod gestorben, was eben ihn zum heidnisch-adventistischen Typus Christi macht. Er ist also auch nicht bloß für eine »Idee« gestorben, was Tausende und Abertausende getan haben, ob nun bei Namen gekannt oder [die meisten!] anonym. Er ist am allerwenigsten für eine wissenschaftliche Einsicht gestorben. Der alte Dilthey hat in einer Vorlesung, die mir in Erinnerung ist, es mit Recht für Nonsens erklärt, für eine wissenschaftliche, auf Einsicht beruhende Wahrheit den Märtyrertod zu erleiden. Wo so etwas geschehen sein sollte, lag ein Irrtum oder eine Verwechslung mit theologischen Wahrheiten zugrunde. Das ist traurig und oft nicht einmal tragisch. Die exzeptionelle Stellung des Sokrates ist eigentlich nie, außer von Kierkegaard, so recht beachtet worden. Vielleicht war auch früher keine Möglichkeit dazu, denn im Äon der Zeit haben die Dinge, wie auch deren Verständnis ihre Zeit, d. h. um die eigentliche geschichtliche Existenz und Tat des Sokrates einigermaßen adäquat zu verstehen, mußten über 2000 Jahre vergehen, damit in diesem Betracht das Verständnis überhaupt erst ermöglichende Umstände politischer und sozialer Art eintraten. [In anderem Betracht spricht eine vollkommene Unähnlichkeit mit.] Für die reine spekulative Philosophie gilt dieses Gesetz nicht. Sie hat sich z. B. nie um die Existenz des gewaltigsten spekulativen Genies Griechenlands, des philosophus, des Aristoteles bekümmert, wiewohl er doch auch eine führen mußte und geführt hat. Er wurde etwa von Demosthenes und seinen Anhängern für einen »Verräter« gehalten. Erst heute wird dieses überhaupt als Problem gesehen. Aristoteles wird sich dabei ja auch etwas gedacht haben, aber für seine Philosophie spielte es keine Rolle. Doch das nur nebenbei und um zu zeigen, daß zum Verstehen schon und um wieviel mehr zum »Wiederholen« einer geistigen Existenz, die in der Geschichte einmal realisiert und aktualisiert worden ist, außer der ewigen Wahrheit eine »analoge« Zeit und deren zeitliche Wahrheit erfordert ist. Das gehört zum schwierigsten Problem christlicher Existenzphilosophie, zum Problem der »Gleichzeitigkeit«, das Kierkegaard deutlich aufgeworfen hat. Die moderne Existentialphilosophie, die, manchmal ohne es zu verraten, unleugbar von Kierkegaard herkommt, ist staunenerregenderweise gegenüber diesem in der Mitte stehenden Problem mit Blindheit geschlagen – es wird mit keiner Silbe berührt –, andererseits aber auch bezeichnender- und begreiflicherweise, da sie sich vollkommen mit der »Welt« und also der »Zeit« begnügt. Ohne das Ewige aber, das Ewige in der Zeit, gibt es keine »Gleichzeitigkeit«, wenigstens nicht für die »Existenz« und die Wahrheit in der Existenz. Hier hat doch wohl » Gleichzeitigkeit« zuerst dieses zu bedeuten: gleichzeitig sein mit einer ewigen Wahrheit, nicht mit einer metaphysischen oder logischen nur, daß A = A ist oder 2 2 = 4 – das ist keine Kunst, das geschieht uns von selber –, sondern mit einer geschichtlich einmal in die Zeit eingetretenen, mit ihr verwobenen Existenz. Das Ewige ist immer da, kein Zweifel!, aber die Zeit hat Ebbe und Flut, Säen und Ernten, Leben und Tod, Dürre und Fruchtbarkeit, Leere und Fülle und zieht das Ewige in diesen Rhythmus ein. Darum hat auch das Ewige seine »Zeit«. Im Falle der »Ewigen Wahrheit« selber war es sogar die »Fülle der Zeit«.
Sokrates ist der Ahnherr jeglicher Existenzphilosophie und ist als solcher entdeckt und an seinen Platz in der Ordnung existentieller Wahrheit von Kierkegaard gestellt worden. Warum ist gerade Kierkegaard dieses vergönnt gewesen? Es waren Momente und Elemente subjektiver und objektiver Gleichzeitigkeit im vorher erwähnten Sinne. Es war in Kierkegaards Geiste eine metaphysische Verwandtschaft [neben fast entgegengesetzten Verschiedenheiten] mit dem Geiste des Sokrates in der nicht erlernbaren ironischen Veranlagung und der hohen humanen Kunst des lauteren Fragens; in der sublimen Leidenschaft ohne Leidenschaften, die die Masse abstößt und den Einzelnen objektiviert, damit er in der Wahrheit zur Wahrheit gelange. Doch das ist nur die eine Seite, das ist nur sozusagen die subjektive Gleichzeitigkeit. Sie mag im Laufe der Jahrtausende öfter vorhanden gewesen sein, ohne daß daraus ein volles Verstehen der sokratischen Existenz zustande gekommen wäre, ja überhaupt hätte zustande kommen können; hinzukommen mußte eine objektive Gleichzeitigkeit [neben fast entgegengesetzten Verschiedenheiten!] politischer und sozialer Bedingungen und Ergebnisse, die es jener spezifisch sokratischen Anlage überhaupt erst möglich machte, sich zu betätigen, zu wirken, sich im Guten zu bewähren, ihr Ethos zu zeigen. Das war für Kierkegaard so. Es war ein Augenblick. Dieser ist z. B. heute nicht mehr und wäre auch für Kierkegaard heute nicht mehr, selbst in einem kleinen Lande, in einer »Stadt« nicht mehr, wiewohl auch dieses: ein kleines Land, eine »Stadt«, wie Kierkegaard sehr wohl wußte, eine notwendige Bedingung gewesen war. Das »Verstehen« allein schon, geschweige denn das »Wiederholen« einer geistigen Existenz setzt eine oder mehrere die »Zeit« transzendierende Gleichzeitigkeiten voraus, die vom Willen des Menschen und seiner Macht zunächst nicht abhängen, sondern gegeben sind, »vorgesehen« sind. Daß Sokrates eine heidnisch-adventistische natürliche Analogie, die einzige zu christlicher Existenz vor Christus überhaupt sein konnte, also zu christlicher Wahrheit, insofern sie existentielles Zeugnis für die Wahrheit ist, was sie nicht sein kann ohne gleichzeitiges Bekennen im Wort, also intellektuelles »Verstehen«, hat zur Voraussetzung die qualitativ gegebene »Masse« [so klein sie quantitativ im Verhältnis zu anderen Zeiten sein mag] und das Verhalten zu ihr. Dieses aber ist: die Masse zwar anzulocken, aber gefühlsmäßig wie intellektuell in einer absoluten, souveränen Unabhängigkeit von ihr zu sein, zu leben, zu wirken, gesund zu bleiben in dieser furchtbarsten Ansteckungsgefahr, welche die Masse ist. Hätte Sokrates der Masse, welche sein Richter war, indem sie in seinen Richtern war, die dadurch der Wahrheit verlustig gingen, geschmeichelt, anstatt sie ironisch abzustoßen, er wäre frei abgegangen in die Nacht eines vergessenen Lebens, und wäre nicht den Tod gestorben, aus dem sein Stern aufging. Ethisch gesprochen war ihm das möglich. Hier ist die natürliche einmalige Analogie, denn es wäre Christus unmöglich gewesen, den freiwilligen Opfertod zu sterben ohne die Mithilfe der Masse, indem er nämlich in absoluter Form sie und ihren Geisteszustand ablehnte. Dadurch brachte er sie gegen sich auf und es fertig, daß sie ihn preisgab zugunsten eines ihresgleichen, Geführten mehr als Führenden, fast physisch mit ihr noch verbunden durch gemeinsame, unterpersönliche Gefühle. Nie ist zwischen Barrabas und der Masse der psychische Nabelstrang zerschnitten worden wie zwischen Sokrates und der Masse und, noch völlig abgesehen von Seinem göttlichen Ursprung, zwischen Christus und der »Masse«. Hätte die Masse, willfahrend dem geheimen Wunsche des Pilatus, der ja auch diesen geheimen natürlichen Zusammenhang nicht verstand, Christus freigegeben anstatt Barrabas, der ja auch kein gemeiner Mörder war, sondern ein mißglückter Aufrührer der Masse und deren Produkt, das Urteil der Hohenpriester und Pharisäer wäre vereitelt und nicht vollstreckt worden. Die sokratische »Existenz« ist ein Gipfelpunkt der menschlichen Natur, eine Tiefe und Höhe und natürliche Vollendung der natürlichen Person, des »Humanen« schlechthin also. Sie ist vorausgesetzt von der christlichen »Existenz«. Und eines ihrer Merkmale, ja vielleicht ihr einziges oder doch ihr entscheidendes, ist ihre Souveränität gegenüber der Lüge, ihre Souveränität in der Wahrheit, nicht befleckt von Haß und Verachtung oder immer wieder sich davon befreiend – das odi profanum vulgus als Menschenhaß ist nicht sokratisch, geschweige denn christlich –, ihre Souveränität auch nicht gegebenenfalls cäsarisch realisierend durch abstrakte Macht und Gewalt, die ja wiederum weltlich fußen auf Haß und Verachtung der Menschen, sondern durch anfechtungs- und versuchungsreiche Hinnahme der Wahrheit und des daraus folgenden Todes des »Gerechten«, eines Todes in der einsamen Verantwortung und Bewußtheit der geistigen Person, welche der Sitz ist der existentiellen Wahrheit. Durch die Existenz des Sokrates im Leben und im Sterben kam Plato zur Idee des Gerechten. Das abendländische Heidentum hat seine Spitze im Gerechten, nicht im Helden, denn im existentiell Gerechten ist der Held mit einbeschlossen, nicht umgekehrt. Auch Ajax ist ein Held. Die Sage des Herakles weist darauf hin. In der geschichtlichen Existenz des Sokrates aber wird es offenbar. Seine letzten Worte vor dem Tode sind beredt. Sie träufeln aus seiner »Existenz«, kostbare Quintessenz eines jahrelangen spekulativen und kontemplativen Denkens und Sprechens. Denn nicht schafft die »Existenz« als Gipfel und Fülle des menschlichen Seins einen Riß zwischen Handeln und Denken, zwischen Aktion und Kontemplation, zwischen Praxis und Theorie, sondern sie ist im Gegenteil das innige Ineinanderwachsen beider, so daß nicht anders gehandelt werden kann, als gedacht und gesprochen wird, nicht anders gedacht und gesprochen werden kann, als gehandelt wird. Sie verkehrt aber auch nicht die Ordnung, als sei die Tat vor dem Wort, denn ewig ist das Wort vor der Tat. Das zeigt sich in dem Augenblick, wo die Existenz nicht mehr »echt« ist. Das Kriterium der »Echtheit« liegt nun im Spekulativen und Theoretischen, in der Kontemplation des realen Seins durch das und in dem Medium der Idee. Die Wahrheit ist primär im Geiste und im besondern in dessen Lichtkern, dem Intellekt. Das gilt auch für die Existenzphilosophie und die Existentialphilosophie.
Existentialphilosophie ist entstanden als Reaktion gegen die deutsche idealistische Philosophie. Sie ist zunächst einmal einfach ein Auf-den- Leib-Rücken gegenüber einem bloßen Auf-den- Gedanken-Rücken oder auf den Begriff-Rücken der idealistischen Philosophie.
Am Beginn der Existentialphilosophie steht Sören Kierkegaard, wie der Ahn der Existenzphilosophie Sokrates ist. Er ist an der Grenze der beiden Philosophien, was man von seinen Nachfolgern bis jetzt wohl kaum sagen kann; ich meine, daß sie auch etwas von der Existenzphilosophie nach der Weise des Sokrates haben; bis jetzt, sage ich: es kann ja anders werden. Sie sind mehr oder weniger reine Existentialphilosophen. Das ist kein Vorwurf, denn das meiste vermag die Geburt; und ist »gegeben«. Es ist nur die Feststellung einer Tatsache im eifersüchtigen Hinblick auf die hierarchische Ordnung. Wir sind Hierarchisten. In dieser Ordnung steht der Existenzphilosoph über dem Existentialphilosophen, analog wie der »Lebemeister« über dem Lehrmeister nach der Sprechweise Eckeharts. Auch Kierkegaard hat etwas von einem Existenzphilosophen allein durch die Verbindung mit dem christlichen Glauben und dessen übernatürlicher Wahrheit. Es gibt keine Wiederholung des Sokrates als »Zeugen der Wahrheit«, es gibt nur eine Wiederholung des »Sokratischen Geistes«. Das Eigentümliche »existentieller Wahrheit« ist die bewußte Bereitschaft, den Tod zu erleiden für eine Lehre, für die Wahrheit dieser Lehre natürlich, und im äußersten Falle das Erleiden eben des Todes dafür freiwillig und bewußt, sei es in einem lange vorweggenommenen Akt oder Pakt, sei es im letzten Augenblick. Daß Kierkegaard bereit war, sein Leben für seine Wahrheit einzusetzen, darüber ist kein Wort zu verlieren. Lange, fast eintönige Erwägungen füllen die vielen Bände seiner Tagebücher und finden eine gedrungene Form in seinem tiefen Traktat »Darf ein Mensch für die Wahrheit sich totschlagen lassen?«. Die Antwort ist erstaunlich und unerwartet: Er darf es nicht. Und warum nicht? Nicht aus Liebe für sein eigenes Leben und dessen Recht, sondern aus Liebe für seine Mitbrüder, die er nicht in so tiefe Schuld stürzen darf: der Besitz der »Wahrheit« ist eine so maßlose Überlegenheit, daß es ein Verstoß gegen das Gesetz der Liebe wäre, sie zu gebrauchen, um andere, die sie nicht haben, in eine Todsünde zu stürzen. Kierkegaard hielt etwas auf diesen Traktat – mit Recht –, und er wurde etwas gereizt, als ein ungenierter Kandidat der Theologie ihn rezensierte und ahnungslos über die Tiefen dieser These hinwegschwamm. Christus durfte für die »Wahrheit« sich totschlagen lassen, weil Er nicht nur Mensch war, sondern Gottmensch, und sein Tod der Tod der Erlösung war auch für die, die ihn totschlugen. Kierkegaard ist dieses Problem im letzten Jahre seines Lebens direkt auf den Leib gerückt, als er den Kampf gegen die dänische Staatskirche führte. Zwar hätte ihn der dänische Staat und König, die liberal waren, niemals zum Tode verurteilt [Thomas Morus wurde von einem Könige zum Märtyrer gemacht, der auch Theologe war, und zwar kein liberaler], aber ins Gefängnis hätten sie ihn doch werfen können: für einen Menschen seiner Konstitution ohne Zweifel schon ein Martyrium, das bald zum Tode geführt hätte. Es bestand auch die Möglichkeit, daß eine fanatisierte Menge ihm ein Leid antun würde, und diese beiden Möglichkeiten hat er genau ins Auge gefaßt. Dennoch hätte er keinen Augenblick gezaudert, das Martyrium auf sich zu nehmen, und zwar für die Wahrheit. Er hätte keinen Augenblick gezögert, die andern – schuldig werden zu lassen eines Totschlags um der Wahrheit willen. Und um was für einer Wahrheit willen? Doch zunächst scheinbar um einer rein menschlichen willen, nämlich daß die dänische Staatskirche in entscheidenden Punkten im Widerspruch zu den Evangelien stand. Aber freilich, um für eine solche Wahrheit Märtyrer zu sein, muß einer in sehr inniger Beziehung zu dem Evangelium stehen, so daß er eben, recht besehen, doch – auf einem Außenposten – für »die Wahrheit« Märtyrer wird, die allein, in der Wahrheit, Märtyrer – Zeugen der Wahrheit – zeugt und hat. Die These Kierkegaards ist tief, ja sie reicht bis in die Mysterien echter christlicher Mystik, aber sie hat nicht die Fülle der unbefleckten katholischen Lehre, sie trägt auf der Stirn das Mal des Mangels und der Unklarheit. Konsequent würde aus dieser These folgen, daß auch der christliche Märtyrer nicht das Recht habe, für die Wahrheit sich totschlagen zu lassen, denn er ist nur ein Mensch. Ohne Zweifel, er ist nicht Gott, aber er ist Märtyrer und Zeuge der Wahrheit ja nur durch und in Christus, teilhabend also durch Glauben und Hoffnung und Liebe – Werke der Gnade – an der Substanz des Corpus Christi. Der christliche Märtyrer läßt nicht sein Leben aus Stolz auf den Besitz der Wahrheit, vielleicht mit einem Gefühl des Hasses, der Rache und der Verachtung mitten in der physischen Ohnmacht [solches geschieht in den Bezirken des Humanen, und solche Macht des »Geistes« wurmt den Mächtigen und reizt ihn bis aufs Blut], sondern aus Liebe zu Gott und zum Nächsten, denn die Liebe zum dreieinigen Gott ist niemals ohne die Liebe zum Nächsten. Derjenige, in welchem der Christ zum Märtyrer wird, ist kein anderer als Christus, der am Kreuze sprach: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Und der erste Märtyrer, nach dem göttlichen, machte es nach und fluchte nicht denen, die ihn steinigten. Das ist ein untrügliches Kennzeichen, und es ist von erschütternder Eindeutigkeit. Da ist kein zweifelndes Schwanken und kein Dunkel der Dialektik. Da ist alles Licht, undurchdringlicher für die Augen der »Welt« als die finsterste Nacht. Darum darf ein solcher Mensch für die Wahrheit sich totschlagen lassen.
Die Existentialphilosophie setzt die spekulative Philosophie voraus. Da ist ein ruhender Pol, da sind Sterne, nach denen man sich richten kann. Die Existentialphilosophen nach Kierkegaard lassen darüber bedenkliche Zweifel bestehen, ob die Metaphysik der philosophia perennis noch wesenhafte Gültigkeit habe oder nicht bloß wesenlose abstrakte Spielerei sei. Ein System von Begriffen nur, deren, fast hätte ich gesagt, das Leben, aber ich verbessere mich: das Existieren spottet, denn die Existentialphilosophen wehren sich natürlich dagegen, mit den gewöhnlichen Lebensphilosophen, den Anhängern einer biologischen Weltanschauung, in einen Topf geworfen zu werden. Mit Recht. Aber eine verdächtige Ähnlichkeit ist zuweilen doch da. Dennoch wäre es Unrecht, sie mit den Biologisten gleichzusetzen. Sie liegen eher in der verlängerten Linie, in der verbreiterten Ebene der praktischen Philosophie. Die Frage an sie ist, ob sie der theoretischen Philosophie den Primat zuerkennen oder nicht. Es besteht, wie gesagt, große Gefahr, daß sie das nicht tun und so den soliden Boden verlassen. Die Frage ist, ob sie das vielleicht in der Zeit erste auch für das im Wesen erste halten und dabei bleiben. Die Frage ist, ob sie das nach dem Satze der Identität und des Widerspruches wichtigste metaphysische Prinzip der philosophia perennis, die Unterscheidung von Akt und Potenz, von Sein und Werden und den Primat des Seins über das Werden schlicht anerkennen oder vermeinen, sich daran nicht kehren zu müssen, darüber hinaus zu sein meinen. Die Frage ist, ob sie die Beziehungen von Verstand und Wille implizit in Ordnung haben und halten oder nicht. Wie aber kann darüber entschieden werden, es sei denn durch Rückgang auf die »Lehre« der spekulativen und theoretischen Philosophie. Die Existenz des Weisen, des existentiellen Philosophen ist ein Gipfel und eine Freude. Wenn er aber eine Torheit sagt, richtet ihn schon das simple Wissen eines, der kein Weiser ist. Die Liebesgemeinschaft einer Familie oder eines Volkes ist eine Vollkommenheit, über der nichts ist und die die zugrunde liegenden Rechtsverhältnisse zudeckt. Befleckt sie aber nur die leiseste Trübung, so treten kühl und sehr sachlich die Rechts-, ja die Gesetzesbestimmungen auf den Plan. Der christliche Lebemeister ist die Forderung der Heiligkeit, sagt er aber etwas Falsches oder zuweilen nur Mißdeutbares, so kommt der »Lehrmeister« oder die Kirche selber als höchster Lehrer [sie redet wie einer, der Macht hat] und richtet ihn. Die Existentialphilosophie ist unterworfen der Wahrheit der spekulativen Philosophie, in dem Sinne, daß sie, reduziert auf ihre Lehre, die immer von ihr abgezogen, abstrahiert werden kann, den evidenten Prinzipien und den notwendigen Folgerungen der spekulativen Philosophie nicht widersprechen darf. Jedes »Existieren«, soweit es vom Menschen, der als Geist angelegt ist, ausgesagt wird, hat als sein immanentes Kriterium die Wahrhaftigkeit, als sein transzendentes aber die »Wahrheit«. Der Schamlose ist in gewisser Weise »wahrhaftiger« als der Heuchler, in welchem in verzerrter Weise hinwiederum mehr »Wahrheit« sein kann.
Die Existentialphilosophie ist nicht identisch mit der »Lebensphilosophie«, insofern diese eine schlechte Möglichkeit der spekulativen Philosophie ist. Kierkegaard, der Vater der Existentialphilosophie, war nichts weniger als ein Lebensphilosoph oder gar Anhänger einer biologischen Weltanschauung. Dafür hatte er sogar nur Verachtung. Indes, das ist richtig: sobald der Geist als »Substanz« und autonomes Leben verlassen wird, nähert sich die Existentialphilosophie der üblichen Lebensphilosophie dieser Tage, sosehr sie sich auch durch eine unnatürliche und gemachte Sprache von ihr unterscheiden mag. An sich ist eine Existentialphilosophie denkbar auf der Grundlage einer Metaphysik der Materie, wie des Lebens, wie des Geistes. In allen drei Sphären ist Seiendes und also Existierendes. Existenz kommt auch dem Steine zu, ja dem Artefakt, und ihr Dasein unterscheidet sich von ihrem Sosein und ist nicht dieses. Kein Seiendes ist ohne Wesen und ohne Existenz. Nur das Nichts existiert nicht, weset aber auch nicht. Dächte man sich einen Stein fähig, zu philosophieren, er könnte es über sein Wesen, aber auch über sein Existieren und dessen Möglichkeiten. Was kann ihm alles passieren? – aber nichts doch ohne den Grund und außerhalb seines Wesens.
Die Existentialphilosophie ist im gemeinen Menschenverstände genau so enthalten und im Rohen vorgezeichnet wie die philosophia perennis, die theoretisch und Wesensphilosophie hauptsächlich ist. Die Aufnahme des Existierens in das philosophische Denken ist die bewußte, wenn möglich wissenschaftliche Aufnahme der Zeit und des Todes. Das aber tut schon der gemeine Verstand. Im besonderen aber sprechen die großen Musiker und Dichter vor und mit, die Mythiker und die Mythologen. Ein Existentialphilosoph, der sie sich entgehen ließe, bei ihnen nicht Hilfe holte, hätte seine Sache überhaupt noch nicht erfaßt. Der Ahn der modernen Existentialphilosophie konnte hier nicht fehlgreifen; am Anfang kann Wesentliches nicht fehlen. Kierkegaard war selber auf einem Grenzgebiete Dichter, es wissend und es sagend. Aber während bei den Dichtern vieles dunkel und im Flusse und unentschieden sein kann und darf, der Philosoph muß einigermaßen klar und entschieden sein, selbst darüber [wie der Skeptiker], daß er nichts entscheiden will oder kann. Das unterscheidet ihn unter allen Umständen vom Dichter. Der Philosoph hat eine »These«, der Dichter wohl auch, aber im und hinter dem unabtrennbaren Symbol seiner Bilder und seiner Worte. Die These des Philosophen aber, des Existentialphilosophen, steht im Lichte des Intellekts, wohl oder übel, auch wenn er es scheut, was vorkommen mag, oder ein stolzer Verächter des »Intellekts« ist, was sozusagen Mode ist. Die Meister, die vollkommen unverständlich werden, müssen sich gefallen lassen, von der Sprache der »Schule« geprüft und gerichtet und möglicherweise unterrichtet zu werden. In der Schule wird buchstabiert, auch wenn das Wort zuerst ist. Wo keine Schule ist, wachsen keine Lehrer. Die »Wahrheit« des Lernenden ist noch nicht die des »Lehrenden«, aber beide können einander nicht widersprechen.
Es gibt gewisse erste Prinzipien, nach denen das spekulative Denken der Existentialphilosophie schließlich doch fragen muß. Diese können nicht so tun, als sei die ungeheure Arbeit umsonst vertan, die zur Klarstellung der Beziehungen von Akt und Potenz, Sein und Werden, von Wille und Verstand geführt hat. Sie können auch nicht darüber hinwegsehen und -gehen und ohne Konsequenz lassen die Unterscheidung von Körper, Seele und Geist in der Einheit des Menschen, von Stein, Pflanze, Tier und Mensch in der Einheit des erschaffenen Seins, von erschaffenem und unerschaffenem Sein im Mysterium der Einheit überhaupt. Sie müssen sich prüfen lassen, wie sie zu diesen fundamentalen Dingen und Wahrheiten stehen, auch wenn sie recht haben, etwas Neues zu sein, und auf das Recht pochen, Neues zu schaffen. Die Idee der Philosophie ist als »Werk« noch lange nicht vollendet, und die Existentialphilosophie ist eine Weiterführung dieses großen Werkes der Menschheit, aber – unterworfen dem Kriterium der Wahrheit. Es ist nicht wahr, daß es nichts Neues unter der Sonne gebe; täglich gibt es das, und zwar durch die Tätigkeit und Arbeit des Menschen, aber auf dem Grunde des vom Schöpfer gegebenen Seins. Es mag noch manche Existentialphilosophien geben, je nach dem verschiedenen Existieren der Menschen, und also noch manche Wahrheiten, aber immer auf dem Grunde der gegebenen Wahrheiten, deren zugrunde liegendes, entsprechendes Sein der Macht des Menschen entzogen ist und die der Gegenstand der philosophia perennis, der ewigen Philosophie, sind. Freilich, wenn ein Ingenieur an das Wesen des ihm Gegebenen, Eisen oder Holz oder Wasser, und an die Gesetze der Mechanik sich nicht hält: ihre Rache wird ihn rascher treffen, als einen Existentialphilosophen die Rache der gegebenen metaphysischen Wahrheiten, die er mißachtet. Aber auch sie wissen zu strafen. Wie rasch verdorren solche Wahrheiten der Zeit und schmecken morgen schon fade, wie ungenießbar werden sie, wenn in ihnen nicht der Saft der ewigen, der »gegebenen« Wahrheiten mitquillt. In der Einheit und im Einverstehen sein mit dem gegebenen Sein und dessen gegebener Wahrheit, ist das offene Geheimnis des rechten Lebens und Philosophierens und also auch des rechten Arbeitens und Schaffens. Die zeitlichen Werke des Menschen sind nicht ewig. Das wäre ein Widerspruch, aber sie »dauern« in der Zeit, nach dem erfüllten zeitlichen Maße jener Einheit und jenes Einverstehens.
Die Existentialphilosophie ist eine Weise der praktischen Philosophie, die die theoretische und spekulative voraussetzt. Sie ist weniger die Stellung neuer Probleme, als eine neue Stellung der alten. Diese neue Stellung ist charakterisiert durch eine Art von Eifersucht auf die Einheit des Seins, alles Seins, auf die alle oder viele Wesen umfassende Einheit des Daseins im Menschen, seiner Existenz. Sie vergißt darum so leicht – hierin ähnlich der Lebensphilosophie – das dem Geiste des Menschen so notwendige Prinzip des distinguo, oder übersieht, daß es zwei entgegengesetzte Arten von »Unterscheiden« gibt: ein Unterscheiden, um zu trennen [das sie mit Recht zurückweist], und ein Unterscheiden, um zu einen [das sie beklagenswerterweise so oft nicht sieht und nicht beachtet]. Die erste, die kardinale Unterscheidung um der Einung willen ist die zwischen erschaffenem und unerschaffenem Sein. Wird sie unterlassen oder als qualité négligeable behandelt, so ist entweder eine metaphysische Blindheit überhaupt daran schuldig – und dann ist nichts zu machen, einen Blinden ist das Sehen nicht zu lehren –, oder es fehlt die Denkkraft, im existentialen Philosophieren zu bewahren und zu gebrauchen, was im theoretischen einmal, wenn auch nur für einen Augenblick, eingesehen worden ist. Im ersten Falle fehlt es an der Intuition überhaupt, im zweiten am Übergang von ihr zum fortschreitenden Denken in das konkrete und vor allem komplette »Existieren«. Das Dasein Gottes kann in der natürlichen Theologie, also in der Metaphysik der ewigen Philosophie, bewiesen werden. Wie stellt sich dazu die Existentialphilosophie dieser Tage? Es ist nicht zu verkennen, und es ist interessant, daß sie eine Methode der Husserlschen Phänomenologie, aus der und in Reaktion zu der sie doch aufgetreten ist, durchaus beibehalten hat: die Methode der Einklammerung. Während jene Phänomenologie die »Existenz« überhaupt einklammert, um zur reinen »Wahrheit« zu gelangen, öffnet die Existentialphilosophie weit ihre Arme der Existenz alles zeitlichen, also alles erschaffenen Seins, aber – sie klammert die Existenz des Unerschaffenen Seins, sie klammert die Existenz Gottes ein: Und zwar schon als natürliche Theologie, als Metaphysik. Es ist von der Offenbarung noch gar nicht die Rede. Durch diese an sich gar nicht notwendige, nur historisch erklärbare Tatsache erweist sich die heutige deutsche Existentialphilosophie als das legitime Kind des Antiintellektualismus und Irrationalismus der deutschen spekulativen Philosophie. Diese Einklammerung ist nicht durch das zeitliche Sein selber geboten, ist nicht eine Selbstoffenbarung des zeitlichen Seins, eine unmittelbare Erkenntnis, sondern ist die Tat erblich belasteter Geister, belastet nämlich mit dem Erbe einer falschen, abgefallenen Philosophie.
Die Errungenschaft der deutschen Existentialphilosophie ist die erlebte Erkenntnis von der Existenz des Todes, nicht von der Existenz Gottes. Dadurch wird sie notwendig zu einer Philosophie des Todes. Denn in der »Zeit« und in dem Sein, welches der Zeit entspricht, sie nicht transzendiert [und zwar nicht bloß als »Begriff«, sondern als Sein], ist der Tod stärker als das Leben. Ehre sei dem Denker, der dieses sieht und verrät, Ehre sei ihm vor allen Lebensphilosophen und Biologisten, die den »Einzelnen« um die geistige Erfahrung des Todes betrügen und ihm die Fähigkeit rauben, einer letzten Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Denn sie preisen ein »Leben«, das auch ohne die wahre Erkenntnis Gottes und ohne die Erkenntnis des wahren Gottes ist: sie preisen den geistigen Tod unter der Maske des Lebens. Die deutsche Existentialphilosophie ist die legitime Erbin des Antiintellektualismus der deutschen Spekulation. Sie ist davon durchdrungen und läßt es ihre Schüler fast leiblich spüren durch ihre Sprache und den Druck ihres schwingenlosen Stils, daß der Tod menschlich gewisser ist als die Existenz Gottes. Sie setzt voraus, daß der Intellekt es nur mit begrifflichem Sein zu tun hat, nicht mit realem, sie hält den Satz vom Widerspruch nur für einen logischen Satz und nicht für einen ontologischen; darum kennt sie keine Gottesbeweise als philosophisch verpflichtend an. Sie wird es hochmütig für einen kindlichen Einwand gegen ihre dunkle Erkenntnis halten, für einen verächtlichen Versuch, das Dickicht oder den Stacheldraht ihrer Gedanken und ihrer Sprache zu durchbrechen, wenn man auf die Tatsache aufmerksam machen wollte, daß es zweifellos Zeiten und Menschen gegeben hat, für welche die Existenz Gottes sehr viel gewisser war als der Tod, oder gar auf die präsente Tatsache, daß es sehr lange dauert, bis ein denkendes, noch nicht philosophisch verdorbenes Kind zur Gewißheit und Gegebenheit des Todes gelangt, während es z. B. sehr rasch begreift, daß diese Welt eine Ursache haben muß, also: daß Gott existiert. Wird es von Menschen erzogen, die die recta ratio noch haben, also nicht von falschen und schwerpunktlosen Mystikern, die aus den pantheistischen Erlebnissen ihrer ungegorenen 20er Jahre anstatt eines autobiologischen Romans ein philosophisches System machen, dann erfaßt es sehr schnell den Unterschied metaphysischer [intellektueller] und empirischer Beweise, nämlich etwa, daß diese Welt eine Ursache haben muß [der große Napoleon blieb bei dieser Kindergewißheit, dieser Gewißheit des gemeinen Menschenverstandes, auch in seinem Alter, was ihn auch befähigte, die Größe Christi von der seinesgleichen zu unterscheiden], während der Tod diese Notwendigkeit durchaus nicht hat. Es bedeutet für den reinen Intellekt und für die recta ratio letztlich eine Absurdität, zu sagen, daß Gott nicht ist, während es durchaus keine bedeutet, zu sagen, daß der Mensch leben könnte, ohne zu sterben. Die heutige Existentialphilosophie ist ein Produkt des Antiintellektualismus der letzten Jahrhunderte. Sie ist aber auch eine Vollstreckerin des philosophischen und bourgeoisen Atheismus.
Der Atheismus ist freilich nicht bloß ein historisches, sondern ein wesentliches Problem des menschlichen Geistes. Es wäre eine Ungerechtigkeit gegenüber der Existentialphilosophie und diente nicht der Wahrheit, dieses zu übersehen. Warum wirkt ein Atheist, also einer, der das Dasein Gottes leugnet, nicht so unmöglich wie einer, der den Tod leugnet? Der Tod ist für den sinnlich-seelischen Menschen offenbar, Gott, der Geist ist, ist für den schwachen Geist des Menschen im Zwielicht. Zwar ist Gott in Seiner Deität, in seinem Trinitarischen Sein auch für die stärksten erschaffenen reinen Geister, für die Engel, »verborgen«, ehe Er Sich Selber offenbart, aber Seine Existenz ist es nicht. Es ist für einen reinen Geist, für einen Engel, so absurd, die Existenz Gottes zu leugnen, wie für einen menschlichen Geist, die Tatsache des Todes zu leugnen. So ist die erste Ursache, warum ein Atheist uns nicht so unmöglich dünkt wie einer, der eine mathematische Einsicht oder das Faktum des Todes leugnet, die natürliche Schwäche des menschlichen Intellekts als des Lichtkerns des Geistes überhaupt, das Faktum also, daß der menschliche Intellekt eine Einheit ist mit der Leibseele des Menschen und seinen leiblich-seelischen Sinnen. Gott aber ist Geist. Der Intellekt des Menschen war ja auch von sich aus zu schwach, um von selber aktuell auf den Gedanken zu kommen, sein zu wollen wie Gott; der menschliche Intellekt mußte erst sozusagen »intellektualisiert« werden, »raffiniert« werden durch die Verführung des gefallenen Engels. Er, ein ungleich stärkerer Intellekt, konnte von selber auf einen solchen Gedanken kommen. Damit ist übrigens die Stufenleiter des abgefallenen Intellekts gegeben, soweit es um ihn selber geht und nur um ihn, also abgesehen von der im konkreten Falle entscheidenden und notwendigen Mithilfe des Willens. Denn das ist klar: Wenn da gilt, daß der, der glaubt, glauben will, so gilt auch, daß der, der nicht glaubt, nicht glauben will. Der Pantheismus, gründend auf einem unmittelbaren leib-seelischen Einfühlen, den Leib und die Seele, den Menschen und die Natur vergöttlichend, wenig bemüht vom Intellekt und auch selber ihn wenig bemühend, ist intellektuell die niederste Stufe einer Anschauung von Gott und Welt. Kein reiner Geist, kein Engel ist dieser Oberflächlichkeit fähig. Er ist, als er fiel, auf der Stelle infolge der Stärke seines Intellekts – tiefer gefallen. Der Pantheismus ist also ein nur dem menschlichen Intellekt, als dem von Natur schwächsten, möglicher Irrtum, aber er ist noch nicht das, was sozusagen noch nach dem Falle dem menschlichen Intellekt adäquat ist. Das ist der Atheismus, als die Folge eines Denkens, daß es hier nur um ein Entweder- Oder gehen kann Vgl. Newman, Philosophie des Glaubens (Grammar of Assent), Anhang. Über die Alternative für den Intellekt zwischen Atheismus und Katholizismus.. Der Pantheismus ist ein Sowohl-Als auch, in diesem letzten Felde eine Unmöglichkeit, für jeden rein menschlichen starken Intellekt eine nicht sehr achtungswürdige Mediokrität. Entweder-Oder; entweder ist Gott, und dann ist kein Aufhalten mehr, wenn der Wille gehorcht und bei der Stange bleibt, dann ist Er der Herr über diese Welt und das letzte Ziel, dann ist Er der Richter über gut und böse, dann ist Er, was das Gewissen über Ihn sagt, dann ist Er der, als den Er sich offenbart: Ich bin, der Ich bin, dann ist kein Aufhalten mehr, wenn der Wille auch noch der Gnade gehorcht –: oder Gott ist nicht, dann ist kein Aufhalten mehr in der Absurdiologie, d. h. er ist eine Erfindung des Menschen, die einmal, vielleicht notwendig, gemacht wurde, nun nicht mehr zureicht, von selber abstirbt, in etwas ganz anderem aufgeht. Was soll der Schmetterling denken von der Larve, die er eben abgestreift hat; was anderes, als: sie ist tot. Gott ist tot, nun, da »der Mensch« lebt und Ihn abgestreift hat, eine leere Hülse, die im nächsten Augenblick nichts ist. Der Atheismus ist die äußerste und letzte Konsequenz des abgefallenen menschlichen Intellekts. Er ist im ganzen der Weltgeschichte relativ selten, er ist durchaus eine historische Erscheinung. Er ist als kollektive Macht, als Massenerscheinung, mit einer weithin wirkenden Literatur im Abendland sehr spät erschienen; er ist das einzig eindeutige Kennzeichen des bürgerlichen Zeitalters, in dessen Liquidation wir heute stehen. Der in die Breite, in die »Wissenschaft« gegangene Atheismus ist eine Erscheinung des bürgerlichen Zeitalters, die einzige, die ihm ein Gesicht gibt, freilich, was für eines! Es ist ein bezeichnendes Faktum, daß die bürgerliche »Wissenschaft« nicht nur natürlich »die Offenbarung« als die allerintimste Privatsache des Menschen ansieht [sogar die »Sakristei« wird ein zu öffentlicher Platz für sie, bald wird es auch das »stille Kämmerlein« sein], sondern daß sie auch keine Metaphysik, also keine natürliche Theologie kennt. Das ist eine der Konsequenzen, denen nicht zu entrinnen ist, wenn einmal das Prinzip in Macht gesetzt ist. Ist Gott nicht, dann gibt es nicht nur keine Offenbarung, sondern auch keine Metaphysik mehr. Die bürgerliche Philosophie hat am Ende keine natürliche Theologie mehr. Wozu auch? Diese hat es mit der Ersten Ursache zu tun. Diese ist aber nicht, denn Gott ist nicht. Ich erinnere mich noch aus meiner Jugend, daß berühmte Werke damals berühmtester Philosophen [ où sont les neiges d'antan?] zuweilen mit einem Anhang von ein oder eineinhalb Seiten endeten, der auch mit »Metaphysik« sich beschäftigte, aber ich erinnere mich an keine Silbe dessen, was darin stand, ich erinnere mich nur an meine Verblüffung über diesen kindischen Unfug. Wie anders aber wirkte der Satz Nietzsches: Gott ist tot. Es lebe um so lebendiger der Mensch; die Metaphysik ist tot, treiben wir Physik! – Der Atheismus wäre eine mögliche Haltung des abgefallenen menschlichen Intellekts, wenn er auf sich selber ruhen könnte. Aber eben das kann er nicht. Seine Autarkie ist, wie die Erfahrung immer von neuem lehrt, eine Illusion. Der Mensch als Seelenleib ist wahrlich nicht autark, er lebt in Kommunikation mit dem Universum bis zu den fernsten Sternen und ihren Kräften, und der Mensch als Geist, der von seiner Natur aus »transzendent«, kraft seiner Fähigkeit, sich loszulösen, eben das Prinzip der Einheit ist, sollte eingeschlossen werden können?! Der menschliche Geist als der schwächste kann nicht leben aus sich. Er ist unterworfen der Einwirkung des stärkeren Geistes, also absolut dem Geiste Gottes, und bedingt dem Geiste des Engels. Er merkt sehr schwer und nur unter außerordentlichen Umständen die Einwirkung des von Anfang der Schöpfung an treuen Engels, denn dieser ist gleichsam transparent und durchlässig dem Lichte und der Kraft Gottes, aber um so leichter kann er fühlen und wissen und leider auch wollen die Einwirkung des abgefallenen Engels, der nicht als Mittelursache des Guten, sondern als Erstursache, als prima causa des Bösen auf ihn wirken kann. Weil dem so ist, ist die letzte mögliche Stufe des abgefallenen Intellekts auch für den Menschen nicht der Atheismus, sondern die Lehre, daß er selber ist wie Gott, ja sogar, daß er selber Gott ist. Daß das einzelne Individuum es sei, ist selbst für den kindischesten oder geschwächtesten Intellekt zu viel der Zumutung, wiewohl es auch geschieht, aber nicht lange, und verhältnismäßig rasch zum Untergang führt. Die Vergöttlichung der »Menschheit« ist leichter. Die Vagheit und Unübersichtlichkeit dieses Begriffs ist ein Nebel, der das natürliche Licht des Intellekts zudeckt und die Rhetorik der Worte erlaubt. Aber auch sie ist nicht die letzte Gefahr, weil mit ihr konkret nicht Ernst gemacht werden kann oder noch nicht! Die »Menschheit« ist keine faktisch organisierte Einheit auf dieser Erde; wäre sie das oder würde sie das einmal, dann freilich würde sie für den abgefallenen Intellekt Gott schlechthin sein [und das scheint für den Antichrist die Fülle der Zeit zu sein], so aber ist sie entweder nur ein allgemeiner Begriff mit der ihm eigenen Blässe und Blutleere, oder: eine Idee Gottes Selber; Er aber ist ja – verdrängt. Der »Menschheit« insgesamt fehlt wohl nicht zum diesseitigen Gott eine Wesensfülle, ein Reichtum der Möglichkeiten, aber es fehlt ihr ein notwendiges göttliches Attribut, nämlich: die Macht oder gar die Allmacht. Der Heide jedoch hatte schon einen Gott, dem dieses Attribut zukam: den Staat. Die Essenz der »Heiden« ist nicht der Atheismus – er ist die Ausnahme einzelner oder einer ephemeren »gebildeten« Klasse, der neuzeitlichen Bourgeoisie, und der Heide, der echte, bekämpft ja selber den Atheismus in dem Augenblick, wo er seinen eigenen Gott miteinbezieht. Die Essenz des Heidentums ist noch weniger der Polytheismus, den es seiner Staatsreligion unterordnet: diese Götter, und mögen es ihrer noch so viele sein, sind Privatsache. Wäre Sokrates' Lehre und Lehren nur so etwas Privates gewesen, wie sogar viele Mysterienreligionen – er hätte den Giftbecher nicht trinken müssen. Wäre vollends Christus nur einer unter den vielen Göttern gewesen, die in das Römische Imperium schon vorher eingezogen waren, kein römischer Hahn geschweige denn Kaiser hätte nach ihm gekräht – so aber war Er Gott Selber. Der Heide jedoch hatte schon seinen Gott. Es kann aber nicht viele Götter in Wahrheit nebeneinander geben, nicht einmal zwei. Das war der Konflikt, dessen eigentlichen Sinn die Gegner oft selber nicht verstanden. Wir sehen heute klarer. Wir wissen, daß es das eigentliche, oft verhüllte Wesen des »Heiden« ist, bei aller Verehrung und Anbetung zahlloser »Götter« und Heroen im Ernste doch sich selber anzubeten. Das ist das letzte Glied in der Entwicklung des »Heiden«. Es ist nicht der Atheismus, welcher eine Episode des »philosophischen« Intellekts innerhalb des Heidentums ist. Das Heidentum ist nicht atheistisch, sondern das Wesen der Heiden im großen und ganzen ist, wie die Heilige Schrift es sagt: an falsche Götter zu glauben, sich selber Götter zu machen. Das aber können sie nur, weil sie im tiefsten Grunde sich selber anbeten in der Form irgendeines Kollektivs. Weder der Polytheismus noch der Atheismus ist das Wesen des Heidentums, sondern der Mensch als Gott. Das konnte lange verdeckt sein, bis es zutage trat in der »Fülle der Zeiten«. Denn auch hier gibt es eine Entwicklung und gibt es Stufen. Es ist ein großes Verdienst Erik Petersons, die reale Dreiteilung der Menschheit in Juden, Heiden und Christen in das Licht der Betrachtung gestellt zu haben. Nach so vielen mehr oder weniger geistreichen Einteilungen, die subjektiv willkürliche Geister gemacht haben und die doch nur Spielereien sind, ist es eine Wohltat, die echte gegebene Gliederung, die der Mensch einfach zu sehen und hinzunehmen hat, wieder vorgestellt und dargestellt zu bekommen. Es ist die echte Tat des erkennenden menschlichen Geistes, nicht zu konstruieren, sondern das Gegebene, auch das geschichtlich Gegebene sich geben zu lassen und es den Mitgeistern unverfälscht in Begriff und Sprache weiterzugeben. Wie es naturalistisch letztlich nur drei Rassen gibt: die weiße, die gelbe und die schwarze, so gibt es religiös nur die drei Unterscheidungen: Juden und Heiden und Christen. Alle Menschen dieser Erde, alle Rassen und Völker teilen sich auf in diese drei. Kein wirklicher existierender Mensch ist außerhalb dieser drei. Die Fülle des Judentums, als Judentum, ist die Offenbarung des Einen Universalen Gottes in Seinem Namen schon: Ich bin, der Ich bin, und die Verheißung des Messias: Wahrheit und Erlösung. Die Fülle des Heidentums, als Heidentum, ist der Primat der Macht in Form eines allmächtigen Kollektivs. Die Fülle des Christentums ist die Gnade der Offenbarung Gottes in Seinem Sohne und Seinem Geiste Selber; der Primat der Wahrheit und der Liebe als Regulatoren aller »Macht«; die Identität der Ersten Wahrheit und Liebe mit der Allmacht Gottes.
Wer zugibt, mit Vorsicht und vielen Unterscheidungen, daß es eine christliche Philosophie gibt, muß auch zugeben, daß es eine christliche Existentialphilosophie gibt. Wie soll man die Pensées Pascals auch nennen oder manche Werke Kierkegaards, wenn nicht Beiträge zu einer christlichen Existentialphilosophie? Theologie sind sie nicht, natürliche Philosophie auch nicht, philosophischer Art aber sind sie sicherlich. Ihr neues Prinzip ist der Glaube, insofern er auf den Intellekt wirkt – credo ut intelligam; der natürliche philosophische Geist des Menschen ist ergriffen, der Intellekt in seiner Fülle und Ganzheit. Es braucht nicht der einzelne christliche Existentialphilosoph die objektive Ordnung einzuhalten. Weder Pascal noch Kierkegaard taten das. Sie machten Sprünge. Sie sind weit entfernt von der philosophia perennis. Das hindert nicht, daß es eine objektive Ordnung gibt und daß ihre Darlegung ein echtes philosophisches Anliegen ist, würdig der Jünger des hl. Thomas und der Liebhaber der philosophia perennis. Wie aber könnte dann das Leitmotiv anders lauten als: »Die Gnade setzt die Natur voraus«, das Prinzip der Einheit des totalen Seins? Und im gegebenen Falle wie anders, als: die christliche Existentialphilosophie setzt die natürliche voraus, denn der Sinn des fruchtbaren Prinzips ist, daß jeweils ein konkretes Sein ohne jede Auslassung in seiner Spitze und äußersten Schneide vorausgesetzt ist. Könnte nun in der objektiven Ordnung die moderne Existentialphilosophie als eine solche Voraussetzung der Natur gelten, sie, die die Existenz Gottes ausläßt? Da ist kein Weg und keine Vernunft. Damit etwas über die Vernunft gehe, muß nicht nur dieses Etwas, sondern auch die Vernunft da sein, sonst stürzen wir in die Bodenlosigkeit einer falschen Mystik. Die natürliche Existentialphilosophie könnte trotz aller Wundmale der Zeit das ewigkeitsgeklärte und verklärte Antlitz der philosophia perennis tragen, so aber zeigt sie uns nur ein zeitverzerrtes, agonisierendes Gesicht der objektiven Verzweiflung. » Jesus sera en agonie jusqu'à la fin du monde« ist ein Hauptsatz der christlichen Existentialphilosophie Pascals; die Quintessenz der modernen ephemeren Existentialphilosophie [sie ist aber mehr unnatürlich als »natürlich«] wäre: l'homme est éternellement en agonie. Es ist ein Unterschied wie zwischen Leben und Tod, zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Zwischen hier und dort ist ein Abgrund, den niemand und nichts ausfüllt.