Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Auch Judith war an dem Abend in Hyde-Park und stärkte sich in der erfrischenden Abendluft gegen die qualmende, drückende Schwüle, die ihrer in der Oper harrte, wenn sie zum hundertsten Male als Desdemona das Publikum in einen Rausch des Entzückens versetzte. Sie fuhr in einer leichten, offenen, dunkelblauen Kalesche, die mit weißem Damast ausgeschlagen und mit zwei brausenden Apfelschimmeln bespannt war. Sie saß in ruhender Stellung ganz allein im Wagen. Neben ihr auf dem Sitz stand ein zierliches Körbchen, mit kirschrotem Atlas weich und warm gefüttert, und darin lag ein brasilianisches Äffchen, nicht länger als ihre Hand, das sie zuweilen mit großem Interesse, betrachtete. Sie trug ein ganz einfaches weißes Kleid und statt des Hutes die spanische Mantille, von schwarzem Tafft mit breiter schwarzer Spitze, die über den Hinterkopf geworfen und auf der Brust zusammengeschlagen wird. Über dem linken Ohr war, ächt andalusisch, eine prächtige dunkelrote Nelke angesteckt. Ein großer spanischer Fächer, auf dem eine ganze Hirtenwelt aus Arkadien im zierlichsten Rokoko paradierte, diente ihr zugleich als Spielwerk und als Schirm gegen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Judith war unbeschreiblich schön. Ihr marmorfarbenes Antlitz ruhte in dem schwarzen Rahmen der Mantille, wie eine zarte antike Gemme in weißen und dunkeln Onyx geschnitten. Daß ihr Mund schon nicht mehr die vollkommene Reinheit der Linien hatte, welche ihren Zügen einen so edlen Charakter gab, daß er schon einen Anflug von dem komödiantenhaften Etwas hatte, das aus der Gewohnheit hervorgeht, Leidenschaften, heftigen Empfindungen, fremdartigen Seelenzuständen den entsprechenden mimischen Ausdruck zu geben, würde höchstens ein Ernest bemerkt haben.
Wie bei der italienischen Korsofahrt bewegten sich auch hier die Wagen langsam hintereinander her, hielten auch zuweilen ganz still. Man will nicht bloß Luft schöpfen, man will auch sehen, auch gesehen werden, auch sich unterhalten mit den Reitern, die den Inhaberinnen der Wagen – denn selten sind es Inhaber, oder sie sind doch nicht allein! – ihre Huldigung bezeigen. Zur Konversation aber hatte Judith nicht die mindeste Lust. Jeden Gruß, den sie beachtete – und sie beachtete nicht jeden – erwiderte sie mit einer ganz leichten Neigung ihres schönen Kopfes, ohne eigentlich den Grüßenden anzusehen. So schnitt sie die Möglichkeit eines Gespräches ab. Man mußte die grenzenlose Unverzagtheit eines Orest besitzen, um sich durch ein so frostiges Benehmen nicht zurückschrecken zu lassen. Orest war an der Wagenreihe hinabgeritten, um sich die Damen und die Pferde in der Nähe zu betrachten. Als er sich Judiths Wagen nahte, fiel es ihm ein, sie in italienischer Sprache zu begrüßen, und es schien ihr angenehm zu sein, denn sie erwiderte ihm zwei Worte. Das war ihm gerade genug, um zu sagen:
»Welchen Zauber hat denn dieser Fächer, Signora? Sie würdigen Ihres Blickes nur seine Bilder – aber nicht das großartige Bild der schönen Welt von Europa.«
»Großartig und schöne Welt – sind zwei Worte, die nicht zusammen gehören,« sagte Judith. »Das Großartige liegt außerhalb der schönen Welt.«
»Nicht immer!« entgegnete Orest.
»Wenn Sie das ernsthaft behaupten wollen, so bin ich wirklich neugierig auf ein einziges Beispiel.«
»Die großartige Schönheit befindet sich mitten in der schönen Welt.«
»Selten!« sagte sie ablehnend.
»O Signora!« rief Orest, »Sie haben ein einziges Beispiel haben wollen und so rede ich auch nur von einer einzigen Schönheit.«
»Dies paßt vortrefflich auf meine Nanko,« entgegnete Judith. »Schade, daß sie es nicht versteht.«
»Wer ist Ihre Nanko, Signora?«
»Hier mein Äffchen,« sagte Judith, nahm es aus dem Körbchen, steckte den Ring an ihren Finger, der an einem Ende des goldenen Kettchens hing, das um Nankos Hals geschlungen war, und setzte das kleine graziöse Tier auf ihre Hand.
»Bei Gott, ein allerliebstes Tierchen!« rief Orest mit so aufrichtiger Bewunderung, als habe er wirklich Nanko's Schönheit im Sinne gehabt.
»Sehen Sie, Graf!« sagte Judith, »Nanko schweigt und meine Fächerbilder schweigen; darin besteht der Zauber, nach dem Sie fragten.«
Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, entgegnete er:
»Sie haben am allerwenigsten das Recht, dem Schweigen eine Lobrede zu halten! Ihre Kunst und Ihr Genie sind nicht stumm.«
Judith schwieg und bettete ihren Affen wieder in den roten Atlas. Orest fuhr fort:
»Wenn wir nun aber einmal der Norma und Desdemona gegenüber so stumm wären, wie Signora Giuditta es uns gegenüber ist – was würden Sie dann sagen?«
»Dann würde ich sagen, daß man sich in London nicht auf die Kunst versteht,« antwortete Judith – und da man eben auf einem Punkt angelangt war, wo die Wagen wendeten, sagte sie zu dem Bedienten: »Nach Hause!« nickte Orest einen kühlen Gruß zu – und dahin flogen die Apfelschimmel.
Schau! eine perfekte Komödiantin .... aber im großen Stil! sagte Orest vergnügt zu sich selbst; der kleine genre ist auch nachgerade langweilig. Und munter sprengte er zu seiner Gesellschaft zurück. –
Einige Stunden später war er mit dem Grafen in der italienischen Oper, wo die ganze haute volée beisammen war, um Desdemona's tragisches Schicksal zu bewundern und zu beweinen. Denn auf der Bühne war Judith hinreißend, voll Leben, voll Feuer, voll Bewegung, voll tiefer Empfindung und auch im Ausdruck heftiger Leidenschaft immer edel. Ihre mächtige Stimme durchdrang mit einem goldenen Glockenton den ungeheuren Raum, herzerschütternd im tiefen, gehaltenen Ausdruck großer Schmerzen, sinnbezaubernd in den perlenden Fiorituren der Fröhlichkeit, des Glückes, der Zärtlichkeit. Die Damen zerflossen in Tränen, die Herren erschöpften sich in Beifallssturm. Seit der Pasta und der Malibran hatte man keine solche Stimme von solchem Metall und solcher Ausbildung, verbunden mit einem so hinreißenden theatralischen Genie, in der italienischen Oper gehabt. Mit Giuditta's goldener Stimme verglichen, hatten die Sontag und die Lind nur Silberstimmen, und deren anmutiges Darstellungstalent verschwand vor den Kunstschöpfungen dieser tragischen Muse.
Man erzählte, sie habe geäußert, die Desdemona mache ihr den Eindruck von Orangenblütenduft in einer italienischen Sommernacht – so viel Glut und Zartheit liege in dem Charakter. Das war genug, um einen Regen von Orangenblüten hervorzurufen, mit dem die Bühne überschüttet wurde, als Desdemona auftrat. Die krankhafte Exaltation der Zeit für Erscheinungen in der Theaterwelt hatte sich auch der kühlen, baumwollspinnenden Söhne Albions bemeistert – wenn auch nicht bis zu dem Grad von Wahnwitz gesteigert, der sich auf dem Kontinent an manchen Orten kund gab. Der Gegenstand dieser Bewunderungsexplosion blieb auch auf der Bühne stets in ruhiger Haltung – und das gefiel nur umso mehr. Die Schicksalswendung, welche Judith getroffen hatte, war nicht geeignet, um ihr Welt und Menschen in einem lieblichen Lichte darzustellen. Der gänzliche Umsturz seiner glänzenden Verhältnisse hatte Judiths Vater geistig entkräftet. Er fühlte sich außer Stande, noch einmal – und zwar bei sechzig Jahren – das Riesenwerk des Reichwerdenwollens von vorn wieder anzufangen. Madame Miranes, die ihr Leben lang, nichts anderes getan, als Geld ausgegeben hatte, war eine Ausnahme unter den Töchtern ihres Volkes, verstand nichts von Geschäften, von Einschränkung ihres Luxus, von einem Leben nach ganz niedrigem Maßstab der Finanzen, und anstatt ihrem Mann seine traurige Lage tragen zu helfen, erschwerte sie ihm die Last. Judith stand zwischen dem kraftlosen Vater und der verzweiflungsvollen Mutter, ganz bereit, ihn zu unterstützen und sie zu trösten, denn der Verlust des Vermögens und der damit verknüpften gesellschaftlichen Stellung berührte sie nicht tief. Sie war noch jung genug, um zu wähnen, daß man auch ohne das zur Geltung gelangen könne, und es war ihr ungemein schmerzlich, daß sich die Klagen ihrer Eltern hauptsächlich um das Unglück drehten, welches die Aussichten der Tochter betroffen habe. Die Familie ging nach Bordeaux, Vaterstadt der Madame Miranes, wo ihre Brüder, zwei wohlhabende Männer, lebten. Mit der Bereitwilligkeit, Verwandten fortzuhelfen und zu dienen, welche sich nicht immer in christlichen Familien findet, boten beide Schwäger dem Herrn Miranes die Mittel, um einem befreundeten Hause in Lissabon sich anzuschließen. Dies war nun freilich eine ganz beschränkte und untergeordnete Lage im Vergleich zu der früheren; allein Madame Miranes war herzlich froh, der Heimat zu entrinnen, wo sie unaufhörlich an den entschwundenen Glanz ihrer Vergangenheit erinnert wurde; und Herr Miranes fühlte nur zu gut, daß ihm nicht mehr die energische Tätigkeit früherer Jahre zu Gebote stehe, um nicht mit dem beschränkten Spielräume zufrieden zu sein. Allein das Glück war ihm nicht mehr hold. Die Geschäfte dieses Hauses nahmen keine günstige Wendung, Herr Miranes kränkelte mehr und mehr, Madame Miranes langweilte sich mehr und mehr; Judith litt für ihre Eltern. Für sich selbst wäre sie recht glücklich gewesen! Sie bewohnten ein kleines Landhaus in den Citronenhainen von Cintra, das in seiner poetisch bezaubernden Wildheit vier Stunden landeinwärts von Lissabon an die schroffen Felsenausläufe der Gebirge von Estremadura sich lehnt. Judith erkletterte diese Felsen, durchstreifte diese Bergabhänge voll Kastanienwälder, diese Ebene voll Citronenhaine, wo sich so wenig Spuren von Kultur und Civilisation finden, und die Natur noch so ungestört einen ursprünglichen Stempel von wilder Schönheit und melancholischer Poesie trägt. Aber gerade das, was ihr gefiel, verabscheute ihre Mutter. Madame Miranes begehrte von der schönen Natur nichts weiter, als einen macadamisterten Weg um spazieren zu fahren – und den gab es nicht zwischen Cintra und Lissabon, vielleicht nicht in ganz Portugal. Was lag ihr an malerischen Bergpartien, die man zu Fuß oder zu Esel mühselig aufsuchen muß! Auch ihr Landhaus war weit entfernt von der Eleganz ihrer Frankfurter Villa, war fast ärmlich eingerichtet. Die pyrenäische Halbinsel hat das Glück, mit dem erdrückenden Komfort des Lebens noch nicht behaftet zu sein, der wie ein Alp auf Mitteleuropa lastet und es entnervt. Wo die materielle Bedürftigkeit eine so ungeheure Bagage mit sich schleppt, da müssen höhere Bedürfnisse vorkommen. Das soll nicht heißen, als würde diese auf der pyrenäischen Halbinsel besonders gepflegt; daß es nicht geschieht, hängt mit anderen Gründen zusammen, namentlich mit dem einen, daß die halbe und oberflächliche Bildung gewisser Klassen verkehrten Fortschrittsideen die Oberhand gibt, und dadurch eine Revolutionsphase nach der anderen herbeiführt. Unter manchem Druck, der von England ausgeht, schmachtet die pyrenäische Halbinsel; allein die Bürde des englischen Komfortes belastet sie noch nicht – und ach! wie sehr seufzte Madame Miranes gerade danach! – Judith wurde angesteckt von der Niedergeschlagenheit ihrer Eltern. Sie hing an ihnen mit zärtlicher Ehrfurcht, und der Wunsch, ihrem späteren Alter den Glanz der äußeren Verhältnisse zurückzugeben, wurde immer lebendiger in ihr. Sie wußte nur durchaus nicht, was sie dazu tun könne.
Ein Verwandter des Herrn Miranes berührte Lissabon auf seiner Reise von Cadix nach Mexiko. Er sah Judith und bewarb sich auf der Stelle um sie. Er besaß ein kolossales Vermögen und die Eltern zweifelten keinen Augenblick an Judiths bereitwilliger Zustimmung. Aber Judith sagte nein! sie habe keine Neigung, sich zu verheiraten und wünsche bei ihnen zu bleiben. Umsonst wurden ihr alle Vorzüge dieser brillanten Heirat vorgestellt, umsonst der Luxus ausgemalt, der in Mexiko sie erwarte, umsonst die Pflicht ihr eindringlich gemacht, auf ihre Eltern Rücksicht zu nehmen, die plötzlich aus der Armut befreit, an ihrem Reichtum teilnehmen und mit ihr nach Mexiko gehen würden: Judith blieb bei ihrer Weigerung. Der Vater kam allein und flehte sie an, aus Rücksichten für ihre Mutter diese Verbindung einzugehen; und die Mutter kam allein und beschwor sie um dieselbe Rücksicht für den Vater. Judith weinte – aber sie sagte nein. Eine Flut von Vorwürfen des Undankes, der Kälte, des Eigensinnes, des Mangels an kindlicher Liebe bestürmte sie. Judith fiel ihren Eltern zu Füßen und bat um Verzeihung – aber ihr nein nahm sie nicht zurück. Der Bewerber reiste höchst beleidigt ab und die Eltern waren geradezu in Verzweiflung, daß ihre Tochter nichts für sie tun wolle, nachdem sie alles für die Tochter getan hatten. Judith verfiel in tiefe Traurigkeit. Welche Zukunft stand ihr bevor? Die Eltern unglücklich und mißvergnügt über sie; und sie – um dieser drückenden Lage zu entrinnen – vielleicht veranlaßt, den nächsten Bewerber zu erhören, dessen Vortrefflichkeit in Reichtum bestehe. Sie hatte nie eine Neigung für einen Mann gehabt; darum begriff sie nicht, weshalb sie heiraten solle – und sie war fest entschlossen, es nicht zu tun, bis – ja bis – sie wußte selbst nicht, ob dieses: bis sie einen Mann liebe, je eintreten werde; denn sie wollte lieben, um glücklich zu werden, aber Ernest hatte ja einmal gesagt, daß kein Mensch einen anderen je ganz glücklich machen könne, und ihre Schwester war durch die Liebe unglücklich geworden; das vergaß sie nicht.
Madame Miranes fand einen Trost darin, Leidensgefährten zu haben. Eines Tages erzählte sie ihrer Tochter, daß die berühmte Sängerin Sontag, welche seit einer Reihe von Jahren von der Bühne abgetreten war und mit ihrem Manne in der elegantesten Sphäre der Hauptstädte Europa's lebte, wieder dem Theater sich zuwende und eine Kunstreise nach England und Amerika beabsichtige, um das zusammengeschmolzene Vermögen ihrer Kinder zu vergrößern. Madame Miranes fügte hinzu:
»Hätte ich ein solches Talent, würd' ich es auch so machen.«
Wie ein Blitz flog es durch Judith's Sinn: Vielleicht hab' ich es' – aber sie äußerte nichts, weil sie ihres Talentes nicht gewiß war und keine vergebliche Hoffnung in ihrer Mutter wecken wollte. In Lissabon war ein vortreffliches Konservatorium der Musik, wie man solche Anstalten nennt, in denen, musikalische Talente sowohl für Opern- als Kirchen- und Kammermusik ausgebildet werden. Die große Sängerin aus dem Anfange des neunzehnten Jahrhunderts, die Catalani, welche zugleich Primadonna und Direktrice der italienischen Oper zu Lissabon gewesen war, hatte auch auf das Konservatorium einen großen bildenden Einfluß gehabt, so daß es nach ihrer Tradition die musikalische Pflanzschule fortsetzte. Judith wendete sich an den Direktor der Anstalt, anfangs nur, um sich seinen Unterricht zu erbitten. Er war, als ein guter Kenner, dermaßen entzückt von Judith's Stimme und Schule, daß er ihr erklärte, sie brauche die Ausbildung im Konservatorium und seinen Unterricht eigentlich nicht mehr; wolle sie sich aber der Bühne widmen, auf der sie ohne Zweifel das glänzendste Phänomen der Zeit werden würde, so müsse sie sich für diesen Beruf unter seiner Leitung eine gewisse Übung und Gewandtheit aneignen, die ihr nicht schwer fallen könne. Dies war gerade alles, was Judith wünschte! Da sie zu Ende des Sommers das Landhaus in Cintra mit dem Aufenthalte in Lissabon vertauschte, so wurde es ihr ganz leicht, ihre Studien im Konservatorium zu machen, ohne daß ihre Eltern eine Ahnung von ihrer eigentlichen Absicht hatten; sie glaubten nur, daß Judith in der Kunst und in ihrem Talent Zerstreuung suche für ihr einförmiges häusliches Leben. Der Direktor nahm mit Freude und Stolz wahr, daß Judith's theatralisches Talent hinter ihrem musikalischen nicht zurückstehe, ja daß beide recht eigentlich zusammen gehörten, wie der Duft und die Rose, daß ihr Spiel durch ihre Stimme getragen werde und zugleich ihre genialische Kunstfertigkeit plastisch mache. Er nannte sie die goldene Nachtigal von Cintra; ihren Namen und ihre Verhältnisse kannte er nicht. Gegen den Winter fragte er sie, ob sie geneigt sei, für diese Saison ein Engagement an der italienischen Oper zu Lissabon anzunehmen. Judith entgegnete mit ihrer gewohnten Ruhe, wenn es glänzend sei, wolle sie es tun; sie betrete diese Laufbahn, um ihren Eltern ein sorgenfreies Alter zu bereiten, und da sie ihres Erfolges gewiß sei, müsse ihr pekuniärer Gewinn demselben entsprechen. Das fand der Direktor ganz in der Ordnung. Er übernahm die Unterhandlungen mit dem Impressario der Oper, d. h. mit demjenigen, der nach italienischem Gebrauch Unternehmer der Oper ist und Sänger und Sängerinnen für eine Winterzeit engagiert. Judith wurde die Primadonna. Als das Geschäft vollkommen abgetan war – und das war nicht ganz leicht, weil der Impressario die Forderungen dieser unbekannten Nachtigal von Cintra übermäßig hoch fand – teilte Judith den Eltern ihren Entschluß und ihre Aussichten mit und fügte hinzu, sie hoffe dadurch zu beweisen, daß es ihr nicht an kindlicher Liebe und Dankbarkeit fehle, denn für sich selbst begehre sie weder Reichtum noch künstlerische Berühmtheit. Herr Miranes war gerührt und Madame Miranes entzückt, doppelt entzückt, als Judith sagte, sie sei durch eine Äußerung ihrer Mutter zur Klarheit gekommen über das, was sie zu tun habe, und danke derselben im voraus ihre Erfolge. Da der Impressario sich nun einmal zu dem ungeheueren Wagstück entschlossen hatte, eine gänzlich unbekannte Primadonna dem Publikum vorzuführen: so tat er sein Möglichstes, um ihr einen fabelhaften Ruf von Schönheit und Genie voraus zu schicken. Den Effekt, den sie machen würde, konnte er selbst nicht ermessen, denn Judith sang in der Probe nur mit halber Stimme und spielte mit kaum halber Aktion; allein daß sie nicht Fiasko machen werde – und folglich auch nicht seine Kasse! – das stellte sich denn doch beruhigend für den geübten Beurteiler heraus. Als Desdemona trat Judith zum ersten Mal auf und so, daß der Impressario sich eingestand, sie habe ganz Recht, ihre Forderungen hoch zu spannen, und dieser Winter werde wohl der erste und letzte für Lissabon sein, da eine solche Sängerin unstreitig bald einen europäischen Ruf genießen und auf den großen Bühnen von Neapel, Mailand, Paris und London glänzen werde.
Judith lebte nun das Leben, welches die gefeierten Heldinnen der Bühne zu leben pflegen, bewundert, vergöttert, angestaunt, beneidet, von Kabalen und Intriguen, von Huldigung und Anbetung umringt – das glänzendste und flüchtigste inhaltlose Schein- und Schaumdasein, welches ein menschliches Wesen leben kann; zugleich auch das gefährlichste, weil es alle bösen Neigungen des Menschenherzens weckt und aufstachelt. Der Glanzpunkt einer solchen Existenz besteht darin – zu gefallen! Es heißt zwar nicht so! es heißt: durch genialische Darstellung bezaubern, durch künstlerische Vollendung entzücken. Aber darauf kann man mit Hamlet erwidern: »Worte! Worte!« Die Tatsache ist: man muß gefallen – und zwar den Augen und den Ohren der Menschen – und zwar in solcher Weise, daß sie ganz Auge und ganz Ohr und gleichsam der Sphäre der menschlichen Vernunft entrückt werden. Die vier- bis fünftausend Personen, welche ein Opernsaal faßt, müssen durch Ohrenkitzel und Augenverblendung in Wonnetaumel versinken und in einen enthusiastischen Rausch auffahren, die in allerhand Extravaganzen übergehen: das ist der höchste Triumph, den man in dieser Existenz feiern kann. Auch Judith errang ihn und mußte ihn erringen wollen. Ohne ihn – hätte sie ja ihre Laufbahn verfehlt. Sie mußte es zu einem Gegenstand ihres ernsten Studiums machen, durch einen Blick, einen Ton, eine Stellung die elektrische Kette, des Beifalls in Bewegung zu bringen. Sie mußte die Falte ihres Gewandes, die Haltung ihres Kopfes, den Aufschlag ihrer Augen, ihr Lächeln, ihren Gang, alles und jedes, Großes und Kleines, auf den Effekt berechnen, den sie hervorzurufen hatte, und mußte es dahin zu bringen suchen, daß der Eindruck von Berechnung hinter dem der einfachsten Natürlichkeit verschwinde, wozu allerdings ein großes Talent gehört. Aber weil sie es hatte, so fand sie auch Vergnügen daran es zu üben. Höchst lästig war ihr hingegen die Huldigung, die man ihr außerhalb der Bühne darbrachte. Sie wollte durchaus ihre Person in Schatten und nur ihre Kunst in's Licht stellen. Allein bei ihrer Kunst macht die Person selbst einen wesentlichen Teil und Gegenstand derselben aus: wie der Bildhauer seinen Marmorblock, muß der Schauspieler seine Person behandeln und bearbeiten, und da Judith diesen Teil ihrer Kunst auch außerhalb der Bühne beibehielt, so mußte sie es sich gefallen lassen, auch außerhalb derselben Huldigungen entgegen zu nehmen, die oftmals ihr stolzes Herz tief verletzten. Niemand glaubte an die kalte Gleichgültigkeit ihrer Erscheinung im gewöhnlichen Leben; einige hielten es für Koketterie, andere für Maske, noch andere fanden den Schlüssel – in einer unglücklichen Leidenschaft, die ja durchaus bei jeder Erscheinung, welche der Alltagswelt nicht klar ist, eine Hauptrolle spielen muß. Von den Verhältnissen, welche sie auf die Bühne geführt hatten, sprach sie nie. Nur gelegentlich äußerte sie einst, daß sie eine spanische Jüdin sei. Sie lebte bei ihren Eltern, erschien nie öffentlich ohne ihre Mutter, und ihr Vater trieb sein Geschäft nur nach Lust und Laune, um nicht in die Langeweile der Untätigkeit zu versinken.
Als der Winter und mit ihm Judith's Engagement in Lissabon zu Ende war, ging sie nach Amerika. Europa hatte noch nicht wieder das gehörige Gleichgewicht gewonnen, um sich für die Nachtigal von Cintra zu fanatisieren; es lag noch in den letzten Krämpfen der momentan gebändigten Revolution. Nach England hätte Judith freilich gehen können; aber sie wußte, daß sie dort als eine Berühmtheit auftreten mußte, wenn sie gefeiert werben wollte. Diese Berühmtheit gab ihr das an der äußersten Grenze von Europa gelegene Lissabon nicht und deshalb wählte sie Amerika, das geld- und städtereiche, als den entsprechenden Schauplatz für ihre künstlerischen Großtaten. Sie gelangen ihr über alle Erwartung. Judith trat als Opern- und Konzertsängerin auf; wo keine Bühne war – oder keine, die ihr zusagte – war doch gewiß ein Saal zu finden, und das Konzert bildete sie allein. Manche hörten sie sogar am liebsten im Konzert, weil man sie dort in ihrer eigenen Persönlichkeit, anstatt in einer Rolle sah; und dies Sehen gehörte wesentlich zum Hören! Wenn sie so da stand, immer weiß und einfach gekleidet; immer in ruhiger edler Haltung, immer mit ihrem melancholischen Ausdruck auf dem unvergleichlich schönen Antlitz, sah sie aus wie die tragische Muse selbst, während die Norma, Desdemona, Lucia ec. nur Schöpfungen dieser Muse waren. Sie konnte auch singen was sie wollte: ihre Stimme, ihr Vortrag machten aus dem Singen der Skala bald eine Bravourarie und bald ein zauberhaftes Liebeslied. Eine alte Arie aus einer vergessenen Oper von Zingarelli, die Romeo und Julia heißt und die heutzutage kein Mensch kennt, war in Judith's Hand gekommen, gefiel ihr ungemein wegen der seelenvollen, melodischen Musik des einst berühmten und jetzt verschollenen alten Meisters, und wurde von ihr in jedem Konzert vorgetragen. Wenn sie Romeo's Nachruf an die geliebte Julia anhub: »Ombra adorata, aspetta« – so war es nicht anders, als ob eine in tausend und tausend Herzen versteckte, verschlossene, schlummernde Sehnsucht nach dem Schatten der Liebe in Judith's Klage ihren Ausdruck gefunden habe; und Amerika, das Land der Praxis und der Realität, seufzte: »Ombra adorata!« Solche Macht hat nun einmal das Genie in dieser Richtung. Ihr Vater starb in Amerika. Sie hatte kaum Zeit ihn zu beweinen. Die Bühne ist auch ein Despot. Aber Judith's Trauer erhöhte den Zauber ihrer Stimme und ihres Spiels.
Als nach zwei Jahren ihrer Kunstreise in Amerika der Kristallpalast die halbe Welt nach London zog, flog denn auch die Nachtigal von Cintra über den atlantischen Ocean nach Europa zurück und nach England, wo sie den Enthusiasmus wiederfand, dessen sie in Amerika herzlich überdrüssig war. Aber sie mußte ihn hinnehmen; das gehörte zur Handwerksseite ihrer Kunst, und obwohl er ihr nicht eigentlich Freude machte, begehrte sie ihn doch, wenn und wo sie auftrat: er verhalf ihr zu einer Art von Betäubung gegen die innere Leere, die sie immer Peinlicher, immer quälender in sich empfand. Wohl waren unter den Millionen Worten, die sie umschwirrten, auch Worte von Liebe gewesen. Ob sie ihnen geglaubt hatte? ob sie gewähnt hatte, die Welt des Scheins, die sie umgab, könne eine Blüte des Herzens erzeugen und hervorlocken? ob sie, um der Langenweile zu entrinnen, einem Traum von Liebe sich hingab? Es ist nicht immer möglich, allen labyrinthischen Fäden zu folgen, die sich in einem und demselben Herzen durchkreuzen. Aber gewiß war Eines: hatte Judith einen solchen Versuch gemacht, so war er nicht schwer in die Schale ihres Glücks gefallen. Hätte sie Zeit gehabt, über sich selbst nachzudenken: so würde sie sich noch tausend Mal elender gefühlt haben, als es jetzt der Fall war. Doch sie kam nicht dazu! sie trieb mit vollen Segeln auf dem hohen Meer der Welt und mußte immer Menschen sehen, sprechen, hören, die sich einerseits zu der gefeierten Künstlerin drängten, und die andererseits ihr nötig waren und ihr künstlerische Verbindungen in allen Weltgegenden anknüpfen halfen. Dazu ihre Darstellungen, ihre Studien, ihre Reisen, um in den großen Städten Englands Konzerte zu geben – dies ganze angreifende und aufregende Treiben ließ keinen klaren und entschiedenen Gedanken über ihren inneren Zustand in ihr aufkommen. Sie verfiel nur zuweilen in einen gründlichen Gegensatz zu ihrem Leben, in ein gewisses träumerisches Hinbrüten, das aus dem Schlaf der höheren Seelenkräfte hervorging – wie damals, als sie in Hyde-Park lieber mit dem Affen spielte, als mit Orest sprach. Warum fuhr sie aber überhaupt nach Hyde-Park und auf dem großen Wege, wo jedermann sie bemerken mußte und wo von Erholung und Erfrischung keine Rede sein konnte? – Weil alle Welt da fuhr und weil sie zur Welt gehörte und gehören wollte! – In ähnlichen Widersprüchen bewegen sich tausend und aber tausend Leben in der Welt. Man fühlt die Schwere ihres Jochs und weiß nichts mit sich selbst anzufangen, wenn man es nicht trägt. –
Einige Damen aus der großen Gesellschaft bewerkstelligten ein Konzert für eine Wohltätigkeits-Anstalt, welche sie patronisierten und brachten es dahin, daß sich Judith darin hören ließ; nun waren sie einer guten Einnahme gewiß! man riß sich um die Eintrittskarten, und der ohnehin nicht große Saal von Hanovre house, wo solche Konzerte stattzufinden pflegen, war überfüllt. Hier hörten auch Regina und Corona das berühmte »Ombra adorata.« Corona mit ihrem jungen, frischen, unabgestumpften Gefühl war so hingerissen, daß sie in Tränen zerschmolz und später zu Orest sagte, sie beneide ihn um das Glück, ein so herrliches Wesen persönlich zu kennen.«
»Ja, sie ist außerordentlich interessant,« entgegnete Orest.
»Und welch ein Gemüt muß sie haben, um so himmlisch zu singen!« rief Corona.
»O Du Kind!« erwiderte er; »das ist bei ihr Sache der Kunst – und Du verstehst das nicht zu trennen, weil Du nie in's Theater kommst. Du würdest vermutlich jeden guten Schauspieler, der einen edlen Helden darstellt, ohne Weiteres für einen höchst edlen Menschen halten, während er vielleicht ein erbärmlicher Wicht ist.«
»Das würd' ich schwer glauben,« sagte sie.
»O beneidenswerte Unschuld!« rief Orest in seiner spaßhaften Weise. »Über dies kindliche Vertrauen sind wir hinaus!« –
Er machte öfter seinen Besuch bei Judith. Immer war sie so umringt, daß der einzelne es nie zu einem Gespräch mit ihr brachte. Es herrschte immer das allgemeine Wortgeklingel, das man Konversation nennt. Umsomehr freute sich Orest, daß er sie endlich einmal allein mit ihrer Mutter – und überdas in ungewöhnlich heiterer Stimmung fand.
»Wünschen Sie mir Glück, Graf Orest, ich freue mich!« rief sie ihm entgegen. Ich gehe endlich in die Heimat der Musik und darf die Nebelatmosphäre verlassen, die der Stimme so nachteilig ist. Ich gehe nach Mailand, zur Skala.«
»Da wünsche ich zuerst mir Glück,« entgegnete Orest fröhlich, »denn ich lebe in Mailand. Ist denn aber die Freude bei Ihnen etwas so Seltenes, daß Sie sich dazu beglückwünschen lassen?« »Ich dächte nicht, daß die Freude für irgend einen Menschen, Kinder vielleicht ausgenommen, etwas Alltägliches sein könnte,« erwiderte sie. »Ach! Freude! Ist das nicht ein Stückchen Frühling in der Seele? so etwas wie Morgenrot und Maientau und Rosenduft und Finkenschlag? so etwas, wovon sie ganz hell, frisch und leicht wird? – Das begegnet meiner Seele höchst selten, und wenn ich über die Freude nachdenke: so wird es mir mehr und mehr klar, daß mein Engagement an der Skala zu Mailand mir im Grunde so wenig Freude macht, wie irgend etwas anderes in der Welt.«
»Aber wer grübelt denn auch über die Freude nach!« rief Orest. »Man muß sie genießen – basta!«
»Aber um sie genießen zu können,« sagte Judith, »muß man sie doch erst empfinden.«
»Nicht wahr, meine Tochter ist eine große Törin?« sagte Madame Miranes zu Orest. »Sie besitzt doch gewiß alles, was glücklich macht, und ist dennoch immer ganz schwermütig.«
»Besitzen!« rief Judith lebhaft; »was hab' ich denn, wenn ich alles besitze? Ballast, der das Schiff flott erhält! Nein, mein Lieblingslied ist Ombra adorata.«
»Ob dieser Schatten einer untergegangenen Sonne nachsinkt – oder ob er der Schatten ist, den der Sonnenaufgang zerstreut: das wüßt' ich gern,« sagte Orest.
»Das glaub' ich!« antwortete Judith; »aber man muß nicht so neugierig sein, Graf Orest.«
»Man muß auch nicht mit der Adoration der Schatten kokettieren, Signora Giuditta.«
»Wenn es überhaupt etwas Wahres in meinem Leben gibt, so ist es dies!« rief Judith.
»Was?« fragte Orest.
»Gerade das, was Sie Koketterie zu nennen belieben: etwas Wesenloses, etwas Ungekanntes dem Sichtbaren und Handgreiflichen vorzuziehen.«
»Da haben Sie sehr Unrecht, Signora!« sagte Orest; »als eine kleine Koketterie könnte man es sich eher gefallen lassen; aber daß das wirklich Ihr Ernst ist – das ist unverzeihlich.«
»Wie häufig mache ich meiner Tochter diesen Vorwurf!« rief Madame Miranes.
»Wozu wäre sie denn da, diese ganze reiche herrliche Welt der Sichtbarkeit, mit ihren mannigfaltigen Erscheinungen, wenn man sich nicht ihrer freuen, nicht sie bewundern und lieben, nicht sich behaglich in ihr fühlen wollte!« rief Orest. »Das müssen Sie noch lernen; sonst haben Sie ganz vergeblich gelebt, denn wenn Sie immerfort von Schatten singen und sägen, führen Sie ein Schattendasein – und das ist grauenhaft. Das haben Sie sich gewiß in Amerika angewöhnt, in dem Lande der Rechenexempel – nicht wahr? Die Art von Realität war zu trocken, um Sie nicht in den Gegensatz hinein zu treiben. Ja, ja, das begreift sich! – aber in Mailand wird das ganz anders werden, und wenn Sie auch etwas für Ihre schwärmerische Neigung tun wollen, so beziehen Sie im Frühling eine Villa am Komersee.«
»Das klingt ja, als ob Sie sagten: Und wenn Sie etwas für ihre Gesundheit tun wollen, so brauchen Sie im Sommer eine Brunnenkur,« sagte Judith belustigt. »Ich werde mir Ihr Rezept überlegen.«
»Nur nicht zu lange und nicht zu viel,« bat Orest.
»Was sind Sie für ein oberflächlicher Mensch, Graf Orest!« entgegnete Judith. »Für den Augenblick und von Schaum leben – das ist die Philosophie Ihrer Existenz.«
»Und ist die nicht charmant?«
»Für einen Schmetterling – ja! für einen Menschen – nein!«
»Nun möcht' ich doch aber auch nach der Philosophie Ihres Daseins zu fragen mir erlauben.«
»O ich habe keine.«
»Wohlan, Signora, so werden Sie erst meine Schülerin und dann wollen wir sehen, ob Ihnen meine Schmetterlingsphilosophie, die Sie jetzt so sehr verachten, nicht ungemein zusagt.«
»Es wäre möglich, daß ich sie mir aneignete; aber es wäre unmöglich, daß sie mir genügte.«
»Versuchen Sie nur erst, sie sich anzueignen und das Weitere findet sich.«
»Wenn es sich aber nun nicht findet? wenn das Dasein leer bleibt, hohl, öde? wenn all' die Versuche erst recht deutlich herausstellen, daß man mit ihnen nicht zum Glück gelangt? wenn man von der vergeblichen Anstrengung doppelt müde und traurig wird – was dann, Graf Orest?«
»Nun, dann ist der Moment gekommen, um wieder zu singen: Ombra adorata!« rief Orest mit lustigem Zorn. »Nein, Signora, vor Ihren Wenn und Aber streich' ich die Segel und streck' ich die Waffen. Ich bekenne mich überwunden und bin Ihr Gefangener.«
»Ich dachte, das wären Sie längst, Graf Orest,« entgegnete Judith mit stillem Lächeln.
»O schöne Circe!« rief er entzückt.
»Mäßigen Sie Ihr Entzücken,« entgegnete sie kühl, »und vergessen Sie nicht, daß Schauspielerei mein Handwerk ist.«
»Circe erst recht!« erwiderte Orest. – Es kamen Besuche und er ging hinweg, heimlich frohlockend über die Aussicht, Judith in Mailand zu sehen und nicht einen Augenblick bezweifelnd, daß es ihm gelingen werde, ihr Herz zu erobern. Etwas lange wird's dauern und etwas schwer wird's halten – das sehe ich schon, sprach er zu sich selbst; aber das schadet nichts, sie ist der Ausdauer wert. All' die leichten Eroberungen verlieren auch eben so leicht ihren Reiz und ihren Beistand, und lösen sich auf in nichts, man weiß kaum wie. Aber diese Judith mit all' ihrer abwehrenden Kälte versteht zu fesseln! – – Vier Wochen hatte er sie gesehen und bewundert; das nannte der gute Orest gefesselt sein! Für jetzt hatte er nicht mehr das Glück, sich ungestört mit ihr zu unterhalten; er traf immer Leute bei ihr, die ihn zuweilen so unmutig machten, daß er sie gern zum Fenster hinausgeworfen hätte; und bald darauf ging Judith nach Liverpool, um dort eines jener ungeheuern Musikfeste verherrlichen zu helfen, das die Engländer so sehr lieben und wobei Hunderte von Musikern und von Sängern während vier bis fünf Tagen täglich ungefähr zehn Stunden singen und musizieren. Vormittags werden Oratorien und Symphonien ausgeführt, Abends kleinere Musikstücke. Alle musikalischen Kräfte, die in Großbritannien einheimisch sind, und alle großen Künstler aus der Fremde, welche sich zur Season in London aufhalten, müssen in der Regel dabei mitwirken. Der Zuhörer – wenigstens der, welcher nicht die gewisse kühle Unempfindlichkeit eines englischen Ohres für Musik hat – wird dermaßen betäubt von diesem Tonmeer ohne Zusammenhang und ohne Einheitspunkt, daß er zuletzt ein gewisses harmonisches Ohrenbrausen bekommt und nicht mehr im Stande ist, eine Melodie klar aufzunehmen. Dem Engländer aber tut das nichts: er harrt doch vier bis fünf Tage auf dem Posten aus und labt sich an einem Kunstgenuß, der eine Abstumpfung der Gehörwerkzeuge bewirkt. –
Während Judith's Abwesenheit verließ auch Graf Damian London und ging mit seinen Damen nach Schottland; Orest's Urlaub war aber zu Ende und er mußte sich, statt gen Norden zu den Seen des Hochlandes – gen Süden zu den lombardischen Seen begeben, welche letztere übrigens unvergleichlich schöner sind, da sich an ihren Ufern die großen Kontraste des Hochgebirges und der südlichen Vegetation begegnen, tiefer Ernst und graziöse Anmut sich verbinden und eine Fülle wilder und weicher Formen von dem Schmelz eines überreichen Farbenspiels umflossen werden. Diese großen Gegensätze in Formen und Farben fehlen dem schottischen Hochlande, überhaupt der Naturschönheit des Nordens; es hat nur eine Farbe: grün – und dadurch bekommt es einen ganz eigentümlichen Charakter von Schwermut, der aus dieser stillen, kühlen, einförmigen, wechsellosen Färbung hervorgeht. Es gibt kaum etwas Melancholischeres, als ein Sommerabend im schottischen Hochland, an einem dieser stillen Seen, mit grünbewaldeten hügeligen Ufern, wenn der Abendwind durch die Wälder rauscht und die unbelebte Fläche des See's ein wenig kräuselt und die eintönige Melodie eines Liedes herüberweht, das ein »Bagpiper« auf seinem Dudelsack bläst und das einst das Schlachtlied von Clan M'Donald oder von Clan M'Kenzie war. Graf Windeck behauptete, einen der größten Liebesbeweise für seine Töchter habe er ihnen durch diese romantische Reise zu den Seen des schottischen Hochlandes gegeben; denn man laufe Gefahr, auf derselben einen Anfall von Spleen zu bekommen. Wenn kein Walter Scott gekommen wäre, würde sich nie ein Mensch um diese triste Naturschönheit bekümmert haben, die ihm den Eindruck eines grünen Leichentuches mache. Regina empfand in diesem nebelreichen und sonnenarmen Lande doppelt schmerzlich, daß auch die warme Liebessonne der katholischen Kirche hier hatte untergehen müssen. Als sie statt des Kruzifixes, das die Katholiken gewöhnt sind inmitten ihrer Gottesäcker zu sehen, um zwischen der Grabestrauer und den Todesschmerzen auf die selige Auferstehungshoffnung in und mit Christus hingewiesen zu werden – als sie auf dem Gottesacker zu Glasgow dafür die kolossale Statue, hoch thronend und weit sichtbar, des Apostels des reinen Evangeliums für Schottland erblickte, sagte sie zu Corona:
»Sieh, wie die Irrlehre sich unabsichtlich als solche stempelt! John Knox hat Christus verdrängt! Über unsere Gräber schwingt sich der gekreuzigte Gottessohn aus seinem Grabe mit der Siegesfahne der Auferstehung empor und im Glauben an Ihn finden wir das ewige Leben. Diese Armen aber müssen zuerst an John Knox und dann an das glauben, was er ihnen von Christus übrig gelassen hat, müssen mit einer verstümmelten Lehre und mit verkümmerten Gnaden sich Zufrieden geben – und müssen sich endlich im Grabe zu seinen Füßen betten. O, auf dem Karmel! wie will ich da beten für die armen irrenden Brüder. Die heilige Therese stiftete ihre betenden und büßenden Klöster der unbeschuhten Karmeliten für Männer und Frauen, gerade zu der Zeit, als hier ein John Knox und in anderen Ländern Brüder seines Geistes gegen die heilige Kirche wüteten und die weltliche Macht auf ihre Seite rissen, so daß die guten Katholiken verfolgt, unterdrückt, martyrisiert und ausgerottet – die lauen aber angesteckt, wankelmütig und eingeschüchtert wurden, und die Irrlehre in der Welt die Oberhand zu gewinnen schien – wie denn hier im Lande eine Maria Stuart unterlag und eine Elisabeth triumphierte. Und sieh! plötzlich trat ein ungeheurer Umschwung ein: der Strom der verderblichen Lehre wurde nicht bloß eingedämmt, sondern zurückgedrängt und der wiedergewonnene Boden aufs neue und kräftiger als zuvor von der heiligen Kirche angebaut und bestellt. Diese Gnadenkräfte hat nur das Gebet vom Himmel herabgezogen, und wo konnte mehr gebetet werden, als in den Klöstern, deren Ordensgenossenschaften damals entweder neu sich bildeten oder neue Zweige trieben, indem sie in ursprünglicher Strenge hergestellt wurden. O Corona, wenn dereinst die schwere Erdenbinde von unseren Augen fallen wird, welche wundervolle Dinge werden wir schauen! .... und eine Schönheit erster Ordnung wird es sein, das fromme beharrliche Gebet um Rettung der Seelen wahrzunehmen – dies Gebet, das gleichsam ein Perlennetz und eine goldene Angel nach den armen Fischlein auswirft, welche in den bitteren Wassern der Glaubenstrübung schwimmen; dies Gebet, das die heilige Therese mit ihren Söhnen und Töchtern vom Karmel so gut verstand.«
»Wenn ich Dich so sprechen höre, Regina, möcht' ich auch gern in's Kloster,« sagte Corona; »aber ich habe nicht den Mut dazu.«
»Bitte Gott darum,« entgegnete Regina, »und er wird Dir Mut geben.«
»Aber ich habe auch nicht einmal den Mut, den lieben Gott recht aufrichtig um einen solchen Heldensinn zu bitten,« erwiderte Corona zaghaft.
»Nun, dann wird das Kloster wohl nicht Deine Bestimmung sein!« sagte Regina lachend.
»Hoffst Du es denn wirklich bei dem Papa durchzusetzen, daß er Dich gehen läßt?« fragte Corona.
»Wenn ich nicht zuvor sterbe – gewiß! Gott wird es schon so fügen! Er gibt den Dingen plötzlich eine Wendung, die kein Mensch ihnen geben – ja, nicht einmal ahnen konnte, und das Ziel, das wir tausend Meilen fern von uns wähnten – liegt nahe vor uns.«
Und wenn es vor uns liegt und uns unerreichbar ist, trifft es sich zuweilen, daß wir inzwischen anders geworden sind und – statt vorwärts zu gehen, umkehren möchten! von so wandelbarer Gebrechlichkeit ist der Mensch.