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Es war ein wunderschöner Herbsttag. Die Sonne schien so golden vom blauen Himmel herab, als wolle sie durch ihren Glanz ihren Mangel an Wärme ersetzen. Die Laubholzwaldungen leuchteten in ihren bronzefarbenen Schattierungen, je nach Art der Bäume, vom hellen Citronengelb bis zum tiefen Blutrot. Einzelne Tannen sprangen schwarz und finster aus diesem goldenen Meer auf, das mit ungeheuren Wellen von Laub über die Abhänge des Odenwaldes bis zu den Wiesen an ihrem Fuß hinabstieg. Einzelne kahle Felsen erhoben sich hier und da über diese Waldungen, und auf anderen Punkten war der Kamm der Berge mit Nadelholz wie mit einer schwarzen Linie eingefaßt, die eine scharfe Grenze zwischen dem Blau des Himmels und der schillernden Bronzefarbe des Laubholzes zog. Auf den Wiesen blühte in Menge die Herbstzeitlose und auch hier, wie bei den Bäumen, zeigte der Mangel an frischem Grün, daß das Spätjahr und nicht der Frühling die Herrschaft führe, denn statt mit üppigem Graswuchs war der ganze Boden mit diesen kleinen lilafarbenen Blumen, wie mit Urnen von Amethysten übersäet.
Auf einem Felsenvorsprung des Berges, umrauscht von wogenden Wäldern, lag Schloß Stamberg mittelalterlich hoch und herrisch, wie ein Leuchtturm auf einer Klippe im Meere. Juliane hatte es vortrefflich in Stand gehalten, hatte es nicht mit sich alt werden lassen nach Art der meisten alten Leute. Was sie auf Erden vielleicht am herzlichsten liebte, war eben Stamberg, denn es gehörte ganz und ungeteilt ihr, sie konnte damit schalten und walten und fand nie einen Widerspruch. Dafür war es denn auch gepflegt wie ein Schmuckkästchen, prächtig und nicht überladen eingerichtet, großartig und doch bequem. Das Ganze hatte einen anziehenden Charakter von romantischer Einsamkeit; die bewaldeten Hügel und Kuppen des Odenwaldes, von Wiesentälern durchbrochen, stiegen herab bis an die Bergstraße, und jenseits derselben breitete sich die weite Ebene, das Stromgebiet des Rheins aus, am westlichen Horizont begrenzt von dem bläulichen gewellten Streif der Vogesen.
Hyazinth brachte einen Teil der Vakanzen in Stamberg zu. Während der ersten Wochen war er bei Onkel Levin gewesen. Uriel hatte gewünscht, der verehrte Onkel möge dann mit Hyazinth nach Stamberg kommen; aber Levin entgegnete:
»Die Nahrung der sinkenden Flamme meines Lebens ist das heilige Meßopfer. Seitdem ich geistlich bin, war ich so glücklich, keinen Tag zu verleben, ohne es darzubringen. Es ist mir notwendiger geworden, als das tägliche Brot. Wenn Du auf Stamberg eine Kapelle haben wirst und wenn Gott es so fügt – dann komme ich und lese dort die heilige Messe. Aber bis dahin weiche ich nicht von hier.«
»Du bist hier aber so einsam, lieber Onkel,« sagte Uriel zärtlich, »daß ich mir fast eine Gewissenssache daraus mache, Dir den Hyazinth zu entführen.«
»O lieber Sohn,« sagte Levin lebhaft, »wähne das nicht! ich bin unter einem Dach mit dem lieben Gott im hochheiligen Sakrament – wie könnte ich mich einsam fühlen! – Bedenke doch die lange Gewohnheit von fast fünfzig Jahren!« setzte er hinzu, um nach seiner Weise vor jedem menschlichen Auge die Glut und Innigkeit seiner Andacht zu verschleiern.
So waren denn die Brüder auf Stamberg und beide froh eines Beisammenseins, das sie seit Jahren nicht genossen, weil Uriels Urlaubszeiten nie mit den Vakanzen des Seminars zusammengestimmt hatten. Uriel freute sich, in Hyazinth gleichsam eine neue Auflage von Onkel Levin zu sehen, dieselbe Reinheit, dieselbe Einfachheit, dieselbe Geistesstille bei intensivstem inneren Leben, dieselbe Bereitwilligkeit zu jedem Opfer, zu jeder Hingebung, dieselbe frohe Verzichtung auf alles, wodurch das Reich Gottes, weder in eigener Seele noch in fremden, gefördert wurde. Hyazinth freute sich wohl auch über Uriel – aber mit gemischter Freude. So lange Uriel eisenfest an dem Glücksprogramm hielt, welches er sich verfaßt hatte, war er da auf dem Wege zu Gott? Und wenn es im Plane Gottes lag, dies Programm nicht zur Ausführung kommen zu lassen, wie würde Uriel die Vereitelung seiner Wünsche und Hoffnungen aufnehmen? Es war beängstigend für Hyazinth, zu sehen, in wie hohem Grade Regina den Schlußstein in Uriels Glücksgebäude bildete. Das sollte nicht sein! sprach er oft mit heimlicher Trauer zu sich selbst. Dabei kommt die Hingebung in den Willen Gottes und der heilige Gleichmut offenbar zu kurz! – Der gute Hyazinth bedachte nicht, daß die Leidenschaft in ihrem eigensüchtigen Durst nach Glück eine Art von Verachtung gegen jenen geheiligten Gleichmut empfindet, welcher nur in solchen Seelen wohnen kann, deren selbstloses Glück darin besteht, den Willen Gottes zu tun. Der gute Hyazinth dachte ganz einfach, was vermutlich manche Leserin höchst prosaisch finden wird: wenn es Uriels Bestimmung sei, in den Ehestand zu treten und die Last des Familienlebens für die Windecker auf seine Schultern zu nehmen: so sei es nicht durchaus notwendig, daß gerade Regina, und nur sie, dies Leben mit ihm teile; es gebe ja noch andere liebe, fromme Mädchen in der Welt, mit denen er glücklich werden könne. Hyazinth hatte einmal bei passender Gelegenheit eine derartige Andeutung gemacht, die aber mit einer so souveränen Verachtung von Uriel aufgenommen worden war, daß Hyazinths Bekümmernis stieg. Er war jetzt im Begriff, in den nächsten Tagen nach Würzburg zurückzugehen; und zwar zum letztenmal in's Seminar, da er im nächsten Frühling die Priesterweihe empfangen sollte. An jenem schönen Tage saßen die Brüder in einem Erker von Uriels Zimmer, der die schönste Aussicht gewährte und mit kühnem Vorsprung aus der Mauer über dem still rauschenden Walde schwebte, der in der Umgebung des Schlosses zu einem herrlichen Park umgeschaffen war. Sie betrachteten Zeichnungen zu einer Kapelle, welche Uriel bauen und dazu einen alten Turm benützen wollte, der vielleicht in katholischer Zeit dazu gedient hatte, jetzt aber zu den Stallgebäuden gehörte. Uriel hatte schon andere Pläne und Zeichnungen anfertigen lassen, und Hyazinth sagte mit einiger Verwunderung:
»Aber warum zögerst Du mit Deiner Wahl? Die Kapelle könnte beinahe fertig sein, wenn Du gleich den ersten Plan ausgeführt hättest.«
»Das doch wohl nicht!« sagte Uriel etwas verlegen, und setzte nach einer Pause hinzu: »Ich werde den Plan ausführen, den Regina wählen wird. Sie müssen nun doch endlich wieder nach Windeck zurückkehren; sie sind fast vier Monate abwesend! – Regina hat einen so feinen Geschmack und sieht jetzt manche schöne Bauwerke, da kann sie mir einen guten Rat geben .... umsomehr, als ich ja doch nur für sie baue.«
Hyazinth legte das Blatt sanft auf den Tisch, nahm zärtlich Uriels Hand und sagte:
»Baue Schlösser, wenn Du willst, für Regina, aber die Stätte, wo der Altar stehen wird, auf dem das Lamm Gottes sich schlachten laßt, baue für Gott.«
»Du hast recht!« entgegnete Uriel und fuhr mit der Hand über die Stirne; »aber mir scheint ja auch, daß ich alles für Gott tue, was ich für Regina tue: so verbunden mit Gott ist sie in meinem Herzen.«
»Eigentlich steht es so mit Deinem Herzen: es vergißt Gott, es vergöttert Regina, und dann sucht es sich selbst zu täuschen, als ob diese Anbetung eines vergötterten Geschöpfes eins und dasselbe mit der Anbetung Gottes sei; nicht wahr, so ist's?«
»O Hyazinth!« rief Uriel, »dem Verstande nach wirst Du immer in diesen Sachen Recht haben. Aber ich muß mit dem heiligen Augustinus ausrufen: Gebt mir einen Liebenden und er wird mich verstehen!«
»Wie Du schlau bist!« entgegnete Hyazinth mit sanftem Lächeln; »jetzt berufst Du Dich sogar auf den großen heiligen Augustinus, der allerdings jenen Ausruf gemacht hat. Aber ebensowenig wie ein anderer bekannter Ausruf: »Liebe! und dann tue, was Du willst!« sich auf die Liebe zum Geschöpf bezieht, sondern auf die Liebe zu Gott – ebensowenig wird er mit Dir über die Anwendung einverstanden sein, die Du von seinen Worten machen willst. Nein, lieber Uriel, alle Heiligen kämpfen mit aller Kraft, welche sie aus der Gnade schöpften, gegen die parasytische Pflanze leidenschaftlicher Zuneigung, die allmählig das Herz dermaßen überwuchert, daß für die heilige Liebe kein Platz darin bleibt.«
»Sobald ich meines Glückes sicher sein werde,« entgegnete Uriel, »sollst Du mit mir zufrieden sein, Hyazinth! dann werde ich anfangen, Gott zu lieben! Freude und Dankbarkeit werden das mit sich bringen. Aber jetzt, in dieser jahrelangen Spannung, Erwartung, Ungewißheit und Sehnsucht – jetzt bin ich wie ein Jäger auf dem Anstand, der für die ganze übrige Welt taub und blind ist.«
Hyazinth legte mit einer tiefschmerzlichen Bewegung die Hände zusammen und rief: »O ewige Liebe, so wirst du behandelt von deinen Geschöpfen! Wenn du ihren Willen tust, sind sie geneigt, dir zu danken; bis du ihn erfüllt hast, denken sie nicht an dich, und wenn du ihn nicht erfüllst – – ja, was dann, Uriel?«
»Das weiß ich nicht,« erwiderte Uriel. »Zürne mir nicht, es ist nun einmal so! Alle Hoffnungen meiner Zukunft sind mit Regina verwebt, und mir muß durch sie unsägliches Glück oder unsägliches Leid zuteil werden. Sie ist kein Wesen, das man lieben – und dann vergessen könnte! Von Kindheit auf habe ich mich daran gewöhnt, unser Leben als ein gemeinsames – unsere Existenz als eine unauflöslich verbundene zu betrachten. Mit dieser stillen ungestörten Gewohnheit ist später die Liebe mir ins Herz gedrungen und ist umso heftiger geworden, als zugleich auch heftige Störungen eintraten. Kein Mensch auf Erden läßt sich gleichgültig sein teuerstes Kleinod entreißen. Je höher er dessen Wert schätzt, desto lebhafter wird er sich gegen den Verlust sträuben und sein Anrecht behaupten.«
»Hier ist aber nicht die Rede von einem Schatz, den Räuber und Diebe zu stehlen trachten,« sagte Hyazinth, »sondern von einen willensfreien Wesen, das mit demselben Rechte wie Du Anspruch macht an Glück, – und zwar an ein solches, welches dem Deinen entgegen steht. Das weißt Du! seit vollen vier Jahren siehst Du, daß Regina bei ihrem heiligen Entschlusse bleibt, und dennoch kannst Du es nicht über Dich gewinnen, zu dem Deinen zu kommen. Ist das nicht feig?«
»Ich bin nicht feig!« rief Uriel aufgeregt; »aber ich liebe sie und so lange es liebefähige Herzen auf Erden gibt, werden sie Dir sagen, daß es möglich sei, keine Furcht vor Not und Tod, vor Armut und Elend zu haben und zu gleicher Zeit den Verlust eines geliebten Herzens bitterer als alle Todesschmerzen zu fürchten. Einem solchen Todesschmerz aber – das begreifst Du doch? – wirft man sich nicht freiwillig in die Arme. Man wartet, bis er kommt.«
»Und läßt sich das Herz zerbröckeln, anstatt es mit kräftigem Schnitt von seinen Fesseln zu befreien und die Wunde zu heilen!« sagte Hyazinth. »Willst Du denn wirklich noch sechs Jahre hier auf Stamberg einsam sitzen und warten, bis die zehn Jahre um sind und Regina ihre Freiheit errungen hat und in's Kloster geht? Ach, Uriel, verschwende doch nicht Dein Leben, Deine Kräfte, Deine Gaben, Deine Jugend an einen Traum von Glück. Gib Deine Ansprüche an Regina auf! ... umso leichter läßt der Vater sie ziehen und ihre schöne Seele kommt dann in Ruhe.«
»Liebst Du Regina so sehr, daß Du sie keinem andern gönnst?« fragte Uriel scharf.
»So sehr, daß ich sie nur Gott gönne – ja!« antwortete Hyazinth; »aber daß mich dazu keine persönlichen oder irdischen Wünsche bestimmen, brauche ich Dir nicht zu versichern. Ich denke nur an Euer beiderseitiges wahres Glück.«
»Ich glaub' es! ich danke Dir!« rief Uriel herzlich; »aber, Hyazinth .... ich liebe sie! Für sie und mit ihr will ich dies Stamberg zu einem Paradiese umschaffen, wo alles zu finden sein soll, was hienieden gut ist und glücklich macht; ohne sie ..«
»Nun? ohne sie?« fragte Hyazinth gespannt, da Uriel stockte. »Du hast also doch bereits an diese Möglichkeit gedacht?«
»Ohne sie ... fällt der Vorhang!« versetzte Uriel. –
Er ahnte nicht, wie nahe die geliebte Regina ihm sei!! Als Graf Windeck auf dem Heimwege in Frankfurt ankam, erklärte er plötzlich zu Regina's größtem Schrecken:
»Jetzt überraschen wir Uriel! darauf hab' ich mich schon lange heimlich gefreut. Wir müssen doch sehen, wie der gute Junge auf seinem Bergschloß einsam wie ein verzauberter Prinz sitzt.«
»O herrlich!« rief jubelnd Corona.
»Er ist nicht einsam,« wendete Regina schüchtern ein; »nach den letzten Briefen ist Hyazinth noch bei ihm.«
»Desto besser! dann sehen wir sie beide!« sagte der Graf entschieden. –
So ging es denn am andern Morgen gen Stamberg. Nach einigen Stunden verließen sie die Eisenbahn und fuhren bergwärts in's Tal hinein und langsam steigend, in weiten bequemen Windungen zum Schloß hinauf. Die Brüder hatten ihr Gespräch abgebrochen und saßen schweigend im Erker. Jeder hing seinen Gedanken nach. Beider Blick ruhte auf der schönen Landschaft – und keiner nahm sie wahr! Uriels schwärmerisches dunkles Auge glitt über Wälder und Hügel, über Täler und Ströme in eine Zukunft hinein, aus der Regina's edle und holde Gestalt beseelend und beherrschend aufstrahlte; und Hyazinth's klares, stilles Auge flog über alle Gebilde und Erscheinungen der Erde zu demjenigen auf, der das Wesen dieser Schattengestalten ist und ihnen ihre vergängliche Schönheit, den matten Abglanz seiner unvergänglichen und wechsellosen gibt. Das große Erkerfenster war weit geöffnet und rahmte ein Stück des leuchtenden blauen Himmels ein, aus dem der Sonnenstrahl, wie ein goldener Strom, in's Gemach quoll. Ein Nachzügler des Sommers, ein verspäteter Schmetterling, gaukelte durch die warme Luft und suchte umsonst nach den entblätterten Rosen. Eine Schwarzdrossel, verspätet auf ihrem Wanderzug, schlug zuweilen ein paar süße Töne an, Erinnerungsklänge an ihren vergessenen Liebesfrühling. Ein rötliches Blatt, müde von Regen, Wind und Sonnenglut, löste sich leise vom Zweig und rieselte zur Ruhe herab auf das weiche Moos, das die mächtigen Wurzeln der Eiche bedeckte, in deren Wipfel es im Frühling gesäuselt hatte. Eine bezaubernde Stille herrschte in der ganzen Natur, eine Stille, welche das unruhige Menschenherz bald als etwas Ersehntes beschwichtigt, bald als etwas Fremdartiges bedrückt.
»Ohne sie .... fällt der Vorhang über alles, was erdenschön ist: das steht fest!« sagte Uriel halblaut zu sich selbst, als das Ergebnis seines Nachsinnens.
»Und gerade dann geht die übernatürliche Schönheit auf,« erwiderte Hyazinth und blickte mild in das schwärmerische Auge seines Bruders. »Du führtest vorhin Worte des heiligen Augustinus an; vergiß nicht, daß er auch gesagt hat: »Keine »irdische Schönheit und keine irdische Freude »konnte mich je glücklich machen. Müde machte »sie mich, aber nie ruhig. Ein glückseliges Leben »ist die Freude an der Wahrheit – ist die Freude »an dir, o mein Gott, und in dir, denn du bist die »ewige Wahrheit.«
»Augustinus hat auch keine Regina geliebt,« erwiderte Uriel.
»Er hat, wie Du, ein Geschöpf geliebt,« sagte Hyazinth, »und Adeodat's Mutter hatte das in ihrer Seele, was aus großen Sündern große Heilige macht: sie begriff das Opfer. Als sie sah, daß sie ein Hindernis für Augustins vorteilhafte Verehelichung sei, trennte sie sich von ihm, ging nach Afrika zurück und verzehrte ihr Leben in Buße und Tränen. Gewiß hat er sie sehr geliebt; aber er gesteht, daß sein Herz erst dann Ruhe fand, als es in Gott ruhte.«
Uriel schwieg und sank in seine Träumerei zurück. Da trat rasch ein Diener in's Zimmer und meldete, daß ein bepackter Wagen den Schloßberg hinauf fahre; und er glaube den Kammerdiener des Windecker Grafen zu erkennen. Der Ausdruck einer so unaussprechlichen Freude ergoß sich über Ariels schönes Antlitz, daß Hyazinth mit einem Seufzer erkannte, des heiligen Augustinus Anathema gegen irdische Freude und Schönheit habe wenig Eindruck auf Uriel gemacht. Er folgte dem Bruder, der mit zwei Sätzen die Treppe hinabflog und im Hof dem Wagen entgegensah, der möglicherweise die Königin seiner Seele unter sein Dach führte. Als der Wagen durch das Schloßtor in den Hof fuhr, und Uriel in dem Kammerdiener erkannte, daß wirklich Regina komme, schloß er einen Moment die Augen, um sich zu sammeln und nicht ganz fassungslos seine Gäste zu bewillkommnen. Da hörte er auch schon die Stimme des Grafen, der ihm fröhlich zurief:
»Schau, da sind wir, mein Junge! wir müssen sehen, wie's dem Grafen von Stamberg geht! das ist uns viel wichtiger als der Kristallpalast und alle sonstigen Herrlichkeiten Großbritanniens. Sind wir Dir auch willkommen?«
Uriel sah so strahlend glücklich aus, daß er keine Antwort zu geben brauchte – und es auch wirklich nicht tat.
»Du hast wohl die Sprache verloren in Deiner Einsamkeit – armer verzauberter Prinz Uriel!« sagte Corona schalkhaft.
»Die kleine Fee Corona wird mir die Sprache schon wiedergeben,« antwortete Uriel, dem es am leichtesten wurde, scherzend zu sprechen, weil das Überwallen des Herzens dadurch in Schranken gehalten wurde.
»Grüß Dich Gott, lieber Uriel,« sagte Regina mit der ihr eigentümlichen Innigkeit in Blick und Ton, indem sie ihm die Hand bot.
Wie war sie so schön! wie stand ihr die Halbtrauer so gut und der einfache Reiseanzug von hellgrauer Seide! und der kleine weiße Taffthut mit dem Halbschleier von schwarzer Spitze! – Corona und die Baronin Isabelle waren genau ebenso gekleidet. Davon bemerkte Uriel so wenig, daß er es gar nicht geglaubt haben würde! Er war verloren in Regina's Anblick. Ihm war zu Sinn, als nehme sie Besitz von Stamberg, als könne er sie nimmermehr wieder ziehen lassen, als habe sie sich jetzt in die Gefangenschaft seiner Liebe begeben, als sei nun alle Ungewißheit vorüber und selige Erfüllung nahe, als müsse er in diesen Tagen die Siegesfahne auf den höchsten Zinnen seiner Wünsche aufpflanzen. Wie bei Gewitter Feuerflämmchen aus den Kelchen gewisser elektrischer Blumen aufsteigen, brach in Uriels Herzen die tiefe Glut der Leidenschaft zu lichter Flamme aus. Der Graf, dem Glut der Leidenschaft lebenslang ein unentdecktes Land geblieben war, ahnte nicht, welchen Sturm er über Uriel herauf beschwor und hoffte nur Regina etwas mit der Vorstellung vertraut zu machen, bald als Herrin und Hausfrau auf Stamberg einzuziehen. Sie benahm sich ja so vernünftig und so weltvertraut, als sei sie ganz bereit, auf ihre kindlich schwärmerischen Grillen zu verzichten. Man mußte ihr nur den Übergang zu den Realitäten des Lebens erleichtern, und das konnte möglicherweise durch diesen Besuch geschehen. Regina fühlte die Absicht ihres Vaters und den Eindruck auf Uriel und beschloß, sich eben hier und eben jetzt mit solcher Entschiedenheit auszusprechen, daß beide über ihre unveränderte Gesinnung klar würden. Uriel's Wunsch kam ihr entgegen; die spannende Ungewißheit wurde ihm unaushaltbar. –
Hyazinth ging jeden Morgen in grauer Dämmerung des Oktobers eine starke Stunde, um dem heiligen Meßopfer beizuwohnen, und Regina bat ihn, sie mitzunehmen.
»Wenn Du fort bist und wir noch länger hier bleiben, bin ich wieder auf den Sonntag beschränkt – wie ich es auf der ganzen langen Reise war.« setzte sie hinzu.
»Fürchtest Du nicht die kühle Frühe?« fragte er.
»O Hyazinth!« rief sie, »unser Gott und Heiland senkt sich vom Himmel auf den Altar – und mir sollte der Weg zu weit sein von Stamberg zum Altar?«
»Ich fragte auch nur! ich glaubte es nicht,« entgegnete Hyazinth einfach.
Am anderen Morgen, als das ganze Schloß noch in Morgenträumen lag, gingen sie still von dannen.
»So!« sagte Regina froh, »jetzt wollen wir denken, wir zögen mit den heiligen drei Königen nach Bethlehem zum Jesukindchen! Gold und Weihrauch haben wir Armen nicht darzubringen; aber desto mehr Myrrhen, die schönen heiligen Myrrhen der Abtötung.«
»Oder wir gehen mit den Jüngern und den heiligen Frauen zum Grabe des Herrn, trauernd um die Sünde, die ihn dort in seinem Blut gebettet hat,« sagte Hyacinth.
»Und mit den zwei Jüngern können wir gen Emaus wandern,« nahm Regina das Wort; »o möchten wir dem Herrn begegnen und möchten wir mit liebentbranntem Herzen zu ihm sagen: Bleibe bei uns, denn es will Abend werden! – – der Abend, Hyazinth, der eine gottentfremdete Finsternis ist, die jeden bedroht, der nicht mit Gott und seiner Gnade wandelt.«
»Und all' diese süßen und göttlichen Mysterien, von der Menschwerdung, vom bittern Leiden und Sterben, von der Auferstehung, vom geheimnisvollen und wesenhaften Verbleiben bei den Seinen – feiern wir in heiliger Messe!« rief Hyazinth, »und ich Glückseliger werde nun bald, trotz all' meiner Unwürdigkeit, die himmlische Vollmacht erhalten, diese überirdische Feier zu begehen und mich ausschließlich dem Dienste des göttlichen Heilandes zu widmen. O Regina, welch' ein Beruf für den staubgeborenen Menschen! kein Engel hat einen höheren! Dem Wort des Geschöpfes gehorcht der Schöpfer und zum mystischen Kalvarienberg des Altars kommt das Lamm Gottes. Ecce! venit! ruft staunend der Prophet Malachias. »Siehe, Er kommt.«
»Wie freue ich mich zu Deiner Primiz im nächsten Frühling, Hyazinth! zuerst für Dich und dann für mich! denn da muß mir Deine Bitte die Zelle des Karmels öffnen.«
»Und wenn Du dann heimisch bist auf dem stillen Karmel, als die Taube in Felsenklüften des Hohen Liedes, dann zähle wiederum ich auf Dein Gebet, Regina; denn alsdann bist Du geborgen vor dem Nebelanhauch der Welt und ich muß in ihr leben, ohne mich von ihr berühren zu lassen.« –
In solchen Gedanken waren ihre Seelen zu Hause und in traulichem Gespräch oder in sinnender Stille wanderten sie unbedrückt durch die Schwere eines erdwärts gesenkten Sinnes, wie selige Geister zu ihrem Ziel. Regina empfing die heiligen Sakramente und so wurde es so spät, daß die Stunde des gemeinschaftlichen Frühstücks vorüber war, als sie mit Hyazinth zurückkehrte. Uriel kam ihnen schon am äußern Schloßtore entgegen und sagte bittend:
»O Regina, ich hätte Dich ja so gern zur Messe fahren lassen! Jetzt ist der Papa ungehalten über Deine Promenade in Nacht und Nebel – wie er sagt.«
»Sei ruhig, lieber Uriel, er wäre es auch über die frühe Fahrt gewesen; Du kennst ihn ja!« versetzte Regina lächelnd. »Ich aber wollte es mir heute nicht nehmen lassen, den Tag der heiligen Therese zu feiern und vor dem heiligsten Sakrament mein Gelübde zu erneuern – Solo Dios basta.«
Uriel wurde leichenblaß. Regina sagte:
»Komm' ein wenig in den Park« – und schlug aus dem Hof den Weg dahin ein, während sie Hyazinth zuwinkte, ins Schloß zu gehen, was dieser sehr gern tat und heimlich seinem Gotte dankte, daß er kein solches Gespräch zu führen und zu hören habe, wie jetzt Regina. Sie ging schweigend durch eine Kastanienallee zu einem freien, sonnigen Platz auf einem Hügelvorsprung, wo unter einer herrlichen alten Eiche Gartenstühle um einen Tisch standen; ein allgemeiner Lieblingsplatz wegen seiner schönen Aussicht. Da setzte sie sich nieder und Uriel setzte sich schweigend zu ihr.
»Lieber Uriel,« hub sie mit fast zitternder Stimme an, »es tut mir unaussprechlich leid, daß ich hier bin; aber Du weißt, daß der Vater seinen Gang geht.«
»Ich weiß, daß Du mir keinerlei Freude gönnst,« entgegnete er finster.
»Du irrst, lieber Uriel! Stände es in meiner Macht, Dir Glück und Freude zu bereiten, es sollte Dir nicht fehlen.«
»Wozu die leeren Versicherungen, da Du ja sehr gut weißt, daß es in Deiner Macht steht, und nur in ihr, mich glücklich zu machen.«
»Du vergißt, daß ich gebunden bin.«
»Das Band ist zu lösen!«
»Daß mein Herz gebunden ist und bleibt, Uriel, wenn mein Gelübde auch tausend Mal gelöst würde.«
Er machte eine ungeduldige Bewegung und rief:
»Genug und übergenug! ich warte!«
»Und was ist Deine Absicht dabei?«
»Du sollst nicht glücklich sein ohne mich, so lange ich es hindern kann!« rief er heftig.
»Ist das edel gedacht, Uriel? O verleumde Dich nicht! Nein, Deine Absicht ist nur, Deine Hoffnung auf eine unmögliche Erfüllung zu nähren. Du hoffst mich treulos zu sehen, damit ich Dir Treue versprechen könne. Schlechte Bürgschaft für Dein Glück! Möchtest Du eine Frau, die zehn Jahre geschwankt hätte in ihrer Wahl zwischen Dir und einem anderen Mann? – schwerlich! Um wieviel weniger, wenn sie schwankte zwischen Gott und einem Menschen! Welch' eine armselige Charakter- und Herzensschwäche würde das verraten! Laß mich also ganz sein, was ich sein kann und sei auch Du es ganz. Dadurch, daß Du und nicht Orest, wie wir alle glaubten, Stamberg geerbt hast, sind Deine Verhältnisse ja ganz verändert. Du wirst hier leben, findest hier den Kreis Deiner Wirksamkeit Dir zugewiesen und Haus und Herd bereit. Nun, so nimm sie in Besitz, aber ganz und vollständig! Mache Dir den häuslichen Herd lieblich und traut, schmücke Dein Haus mit Deinen eigenen Tugenden und denen einer lieben frommen Frau, erfülle Deine schöne, segensreiche Bestimmung und laß mich die meine erfüllen – dann wirst Du mehr und mehr Deinen Frieden finden, weil Du Dein Leben ordnest nach dem Willen Gottes, anstatt es zu verschwenden an leere Leidenschaft. Einsam darfst Du nicht bleiben! Du würdest Dein Herz hängen an Hunde und Pferde, an Bauten und Parkanlagen, vielleicht an den Mammon – was weiß ich! die Einsamkeit mitten in weltlichen Verhältnissen ist Vereinzelung und tut weh, weil das Herz durch sie abstirbt oder verknöchert. Ach, Uriel, Du kannst ja ein so schönes Leben haben! wolle nur!«
Während sie sprach, schwand der finstere Ausdruck von Uriel's Zügen, und er sagte in ihren Anblick verloren:
»Ja, Regina, es ist alles ganz richtig, was Du sagst, und ich könnte ein schönes Leben haben, aber nur durch Dich und nur mit Dir! und ich begreife nicht, wie Du so fest auf dem Wege Deiner Liebe wandeln – aber zugleich mir raten kannst, den meinen zu verlassen.«
»Weil das ein Unterschied ist wie Himmel und Erde – den Schöpfer zu lieben .... oder ein Geschöpf! Die Welt wimmelt von Reginen, aber der Geliebte meiner Seele ist nur einer. Du kannst ohne mich eine tausend Mal bessere Wahl treffen, ich würde durch jede andere Wahl ein elendes Loos ziehen.«
»Meine Liebe läßt sich nicht beliebig auf irgend ein Individuum – gleichviel welches! – des weiblichen Geschlechtes übertragen, Regina. Bei einer so ernsten, so heiligen, so verantwortungsschweren Verbindung wie die Ehe, die unwiderruflich über das Lebensglück von zwei Menschen entscheidet, genügt das allgemeine Wohlwollen und die christliche Nächstenliebe nicht. Da muß zugleich tiefe Übereinstimmung über die höchsten Angelegenheiten – und ausgleichender Gegensatz in den Charakteren herrschen. Da muß das Etwas sein – die Sympathie, die Neigung, der unerklärliche und unleugbare Zug des Herzens, den man Liebe nennt, der ein Wesen ausscheidet aus tausenden, ja aus allen übrigen – und der durch dies eine Wesen alle Hoffnungen, alle Wünsche, alle Träume, alle Sehnsucht zugleich geweckt und erfüllt sieht. Sage mir nicht, daß man sich irren kann, daß man getäuscht wird, daß man statt Glück – Elend findet: oder sage es, denn ich leugne es nicht, und das Alles beruht auf unserer Schwäche, unserer Unvollkommenheit, unserem Mangel an Selbstbeherrschung. Aber dennoch, so lange Menschenherzen hienieden schlagen, wird die Liebe, die ausschließliche Neigung zu einem Wesen, heimatberechtigt in ihnen sein – und mögen sie dieselbe kennen durch Schmerzen und Opfer oder durch Wonnen und Trost – sie finden eine unausfüllbare Kluft zwischen dem einen geliebten Geschöpf und den Millionen nicht geliebten. Ich weiß, man schließt Ehen ohne eine solche exklusive Neigung, und diese Ehen fallen ganz gut aus. Ach, warum nicht? Die Menschennatur ist schmiegsam in jeder Beziehung, siedelt sich auch in einem Kamtschatka an und hat Freude an ihrer Ansiedelung, weil es eben die ihre ist. So kann sich auch das Herz in einem Kamtschatka zurechtfinden, wenn es nie im blauen duftenden Süden selig war, oder wenn Pflicht oder was weiß ich für Rücksichten es an den Nordpol in's Exil schicken. Aber, Regina, dann ist man eben glücklich durch mancherlei, was nicht Liebe ist und wodurch nicht jeder glücklich werden mag und kann. Das liebende Herz empört sich gegen die Zumutung, seine Neigung auf einen anderen Gegenstand übertragen zu sollen. Das meine ist Dir anvermählt und bleibt es für Zeit und Ewigkeit.«
»Nein, Uriel!« rief Regina erbleichend, »das darf nicht sein! das wäre Torheit, Sünde vielleicht.«
»Hast Du allein das Recht, Gelübde abzulegen, die anderen als Torheit erscheinen?« fragte er.
»Ja!« sagte sie fest; »denn meine Torheit ist die des Kreuzes und mein Wille ist kein Eigensinn, sondern ist eingesenkt in die zärtlichste und schönste Absicht Gottes mit seinen Menschen – während der Deine dem göttlichen Willen widerspricht.«
»Wenn ich es nur fassen könnte, daß es wirklich unmöglich ist, Gott und einen Menschen zu lieben!« brach Uriel aus. »O glaube mir, Du würdest hier einen viel größeren Wirkungskreis für Deine Liebe zu Gott finden, als im Kloster! Wünschest Du ein Krankenhaus, eine Schule, irgend ein Asyl für menschliches Elend – Du sollst es haben! ja, unter Deinem Dach haben. Sieh', wie groß das Schloß ist! Sieh', die Stallgebäude werden verlegt und deren Flügel, der an die Kapelle stößt, wird ausgebaut nach Deinem Wunsche und Deiner Angabe für Christus in den Armen. Sage nur ein Wort! sage nur – Ja! und es geschieht.«
»Ich glaub' es, Uriel,« entgegnete Regina und sah ihn mit unaussprechlicher Freundlichkeit an. »Aber wenn Du es unmöglich findest, mit Deiner Liebe im Herzen eine Frau zu heiraten, welche Du nicht liebst, wie soll ich es denn möglich machen, einem ungeliebten Mann mein Jawort zu geben, während mein Herz in den stillen Flammen einer Liebe steht, die, wie Naphthaquellen, unsichtbar und unauslöschlich brennt. Gewiß, es stünde schlimm um die Welt, wenn man nicht Gott und einen Menschen zugleich lieben könnte! allein ich bin in meiner Meinung gerade so exklusiv, wie Du in der Deinen. Ich überlasse es anderen, jene schwierige Aufgabe zu lösen, ohne daß Gott dabei zu kurz komme – und halte mich einfach an der meinen: Solo Dios basta. Wir stehen, wie mir scheint, auf einem Wendepunkt Deines Lebens, wohin die Hand Gottes Dich geführt hat, damit Du klarer als bisher den Weg überschauen könnest, welchen Du zu wandeln hast. Deshalb hab' ich es für meine Pflicht gehalten, Dich mit aller Entschiedenheit daran zu erinnern, daß mein Entschluß jetzt so fest ist, wie er vor vier Jahren war und wie er, mit Gottes Gnade, in sechs Jahren sein wird. Auf diese Weise nehme ich keinen Teil an der Peinlichkeit, welche unser Zusammenleben vielleicht für Dich hat.«
Sie wollte aufstehen. Heftig ergriff Uriel ihre Hand und rief:
»Bleibe noch! ist hier ein Wendepunkt in meinem Leben, so kann ich unmöglich zugeben, daß er schon jetzt erreicht – daß ich schon jetzt verdammt sei, auf der Nachtseite des Erdenglückes zu gehen. Du mußt mich hören.«
»Und was hast Du noch zu sagen?« fragte sie.
Uriel sah sie an und sagte langsam:
»Ich liebe Dich.«
Sanft und traurig wendete Regina ihre Augen von ihm ab und ließ sie auf der lieblich beleuchteten Landschaft ruhen. Auch Uriel schwieg und blickte auf das zarte Profil ihres Angesichtes, das sich von dem blauen Himmel abschnitt und auf das Ganze ihrer edlen Erscheinung, die im Goldglanz der Morgensonne schwamm, wie ein Heiligenbild in der Glorie.
»Ich liebe Dich!« fuhr er fort; »und nach Deinem Beispiel richte ich mein Leben für meine Liebe ein. Alle Äußerlichkeiten haben nur insofern Wert für mich, als ich sie in Zusammenhang mit Dir bringen kann. Kann ich das nicht, so fallen sie von mir ab, wie Dinge, die mich nichts angehen, denn mein Herz kennt sie nicht. Ich liebe Dich! nun wohlan, Regina, gehe Deinen Weg – ich gehe den meinen.«
»Zu Gott, Uriel?« fragte sie mit gepreßter Stimme.
»Was Du so nennst – schwerlich!«
Um ihre eigene Bangigkeit zu unterdrücken, sagte sie im scherzenden Tone:
»Denke an Göthe's Prometheus: Ich sollte das Leben hassen, in Wüsten fliehen, weil nicht alle Blütenträume reiften?«
»Mit der Göthemanie ist's aus, Regina! die taugt nur für junge und für alte Kinder, die aus dem Leben nichts zu machen verstehen, als eine Schaubühne, auf der sie Komödie spielen sehen, oder selbst Komödie spielen. Für eine solche Manie ist mein Herz nicht mehr kindisch genug und noch nicht altersschwach genug.«
»Desto besser, Uriel! Dadurch bist Du der ewigen Wahrheit um einen Schritt näher. Jeder zertrümmerte Götze ist eine Huldigung für Gott. Wie Du jetzt Deine Göthemanie mitleidig belächelst, so wirst Du auch einst Deine Reginamanie belächeln.«
»Kann sein! Doch zu meinem Heil wäre das nicht, denn in Dir liebe ich die Offenbarung von etwas Himmlischem. In Göthe sah ich nur das leuchtende Genie, die vollendete Intelligenz, und ich bewunderte seine Schöpfungen und Gebilde, aber nicht ihn als Gottesgeschöpf. Aber was geht er mich an? was geht die ganze Welt mit ihren Genie's mich an? .... Ich liebe Dich, Regina!«
Regina stand lebhaft auf und sagte entschieden:
»Genug, Uriel! Du kennst mich nun bis in's Herz hinein. Was Du tun willst oder zu tun hast, muß ich Dir überlassen. Aber eines verspreche ich Dir feierlich: nach Stamberg komm' ich nicht wieder! – nie wieder! und sollte ich noch zwanzig Jahre warten, ehe die Klosterzelle mich aufnimmt – Uriel, ich komme nicht wieder.«
Auch Uriel war aufgestanden. Er blickte über die sonnig glänzende Flur und sagte:
»Der Vorhang sinkt! – laß uns gehen.«
Sie sah ihn an; ein Silberlicht schimmerte in seinem Auge, aber er deckte es mit seinen dunkeln Wimpern zu und die Träne zerschmolz. Wie schön er ist! dachte unwillkürlich Regina. Schweigend gingen sie in's Schloß.
Der Graf saß auf dem großen Balkon, rauchte Zigarren und las Zeitungen. Er hatte mit Zufriedenheit das Gespräch unter der Eiche aus der Ferne bemerkt und schmeichelte sich mit der kühnen Hoffnung, Regina werde sich ihm als Braut vorstellen. Aber nicht sie erschien auf dem Balkon, sondern Uriel allein und zwar so ernst, daß der Graf erschreckt fragte:
»Bringst Du eine Trauerbotschaft?«
»Wenigstens keine neue, lieber Onkel! Regina ist unüberwindlich in ihrem alten Entschluß!«
»Ist's möglich!« rief der Graf; »hat sie eine solche Selbstbeherrschung, nie eine Silbe zu äußern, in der Welt zu leben wie unsereiner – oder doch ungefähr so! und dabei die Klostergrillen festzuhalten?«
Der Graf tat ein paar tiefe Züge aus der Zigarre und sah gedankenvoll die kleinen bläulichen Rauchwolken an, die geschlängelt seinen Lippen entquollen und in der Luft zerflossen.
»Hör', mein Junge,« sagte er nach einiger Zeit, »nimm Du Vernunft und guten Rat an, gib Du Deine Grille auf, laß Regina fahren und heirate Corona; dann ist uns allen geholfen. Dann wird Corona die Erbtochter, Du wirst mein Schwiegersohn, und wenn Regina es denn durchaus nicht anders will, so gehe sie in's Kloster. Seitdem die Kleine herangewachsen und – wie alle Welt sagt! – bildhübsch geworden ist, flog mir schon öfter dies glückliche Auskunftsmittel durch den Kopf; allein ich hoffte immer noch, daß sich Regina besinnen werde – namentlich hier, wo es ihr so recht anschaulich werden müßte, welch' ein glückliches Leben mit Dir ihrer harrt. Ist sie aber eigensinnig, so sei Du es nicht! Du ziehst vielleicht mit Corona ein glücklicheres Los. Was sagst Du zu meinem Vorschlag?«
»Daß ich die Königin liebe und nicht die Krone!«
»Ach, mein Junge, sei nicht romanesk! Tausend Männer würden sich glücklich schätzen, wenn ihnen ein solcher Antrag gemacht würde!«
»Und auch ich könnte es sein, wenn ich nicht Regina liebte.«
»Nun, so vergiß Regina, denke nicht an sie, beschäftige Dich nicht mit ihr: dann dauert es nicht lange und schau! Du liebst sie nicht mehr. Und dann dauert es wieder nicht lange und schau! Du liebst Corona. Diese kleinen wunderniedlichen Persönchen haben einen eigenen Reiz, womit sie sich in die Herzen stehlen – wenn man nur nicht wie ein Bramarbas das Herz gegen sie panzert. Leg' ab Deine Rüstung, laß es getroffen werden von dem Liebespfeil des kleinen Gottes Amor.
»Lieber Onkel, es ist ja bereits durch und durch getroffen!« unterbrach Uriel traurig lächelnd.
»Überlaß doch den Eigensinn dem schönen Geschlecht!« rief der Graf. »Gott weiß, wie gern ich Regina als Deine Frau gesehen hätte! aber wir werden doch beide wahrhaftig nicht so töricht sein, uns durch sie unsere Zukunftspläne stören zu lassen? Bisher hoffte ich sicher auf Regina's Bekehrung zum Ehestande, und ich habe in diesen vier Jahren alles getan, wodurch ich hoffen konnte, sie für die Welt zu gewinnen. Umsonst! Nun wohlan, so müssen wir die Sache anders anfangen. Ich bin jetzt runde fünfzig Jahre alt. Niemand sieht mir's an, nicht wahr? .... aber Anno Eins geboren, macht fünfzig Jahre wohlgezählt. Es verlangt mich, junge Sprossen an meinem Stamm zu sehen, Windecker Nachkommenschaft. Habe drei Söhne und zwei Töchter, und noch immer keine Aussicht dazu! Das ist verdrießlich und muß aufhören. Nicht umsonst hat es sich so fügen müssen, daß Du Herr auf Stamberg wurdest und so früh eine glänzende selbständige Stellung bekamst. Es ist augenscheinlich der Wille Gottes – um mit Regina zu sprechen! – daß Du Dich als der Stammhalter der Windecker gerierst, und da das törichte Mädchen davon nichts wissen will, so wollen denn auch wir sie nicht weiter bitten und uns Corona erwählen. Was sagst Du dazu?«
Uriel war so tief in seine eigenen Gedanken versunken, daß er des Grafen Betrachtungen gar nicht gehört hatte. Jetzt weckte ihn dessen Frage und er rief:
»Ja! Corona!«
»Also Du willigst ein?« fragte der Graf erfreut. »Bravissimo! – Bei der Kleinen machen wir die Sache kürzer und vernünftiger. Sie wird weiter nicht gefragt, sondern ich kündige ihr an, sie sei Uriels glückliche Braut und in vier Wochen seine Frau; – nicht wahr?«
Uriel rief lebhaft: »Meine Frau? Corona? .... lieber Onkel, ich muß Zeit haben und mich besinnen. Vorderhand kann von dem allen gar keine Rede sein; aber sei fest überzeugt, daß ich alles tun werde, was Deinen Wünschen entspricht. – Bist Du mit den Zigarren zufrieden?«
»Mehr als mit Euch allen zusammen!« murrte der Graf kopfschüttelnd. »Welche Nöten steht man doch mit seinen Kindern aus! Wahrhaftig, ich sehe nicht ein, weshalb ich mit meinen miserablen Erfahrungen sie noch durch Enkel zu vervollständigen wünsche! aber das ist die Verpflichtung, welche der alte Name und das Ansehen der Familie aufbürdet. Wäre man von gestern, ohne Ahnen und ohne Erbgut, so würde man kein besonderes Verlangen nach Enkeln haben.« –
Es vergingen noch einige Tage recht angenehm, denn Regina war wieder ganz in ihrer unbefangenen Haltung und Uriel beherrschte sich meisterhaft. Nur als der Graf von der nahen Abreise sprach, zuckte ein gräßlicher Schmerz, wie ein Todesstich durch Uriels Herz, weil er wußte – Regina kommt nicht wieder her. Jetzt ist sie noch hier, noch einen Tag, noch ein paar Stunden, noch einige Augenblicke; dann ist's aus und vorbei! sie kommt nicht wieder.
Am letzten Morgen, als sich alle zur Abreise rüsteten, ging Regina schon reisefertig auf den großen Balkon und blickte auf das wogende Nebelmeer, welches die Landschaft bedeckte, Himmel und Erde mit farblosem Grau verhüllte und einzelne kalte Tropfen, wie schwere Tränen, fallen ließ. Es war so recht ein trüber Herbstmorgen, dem zuweilen ein schöner Tag folgt. Ein Bild des Lebens! dachte Regina; wir wandeln in Wolken, so lange wir hienieden wandeln; der ungetrübte Sonnenschein bricht erst mit der Ewigkeit an. – Uriel folgte ihr auf den Balkon.
»Regina!« sagte er und seine sonst so klingende Stimme sank durch die Übermacht der Herzensbewegung zu einem Flüstern herab; – »wirst Du wiederkommen?«
Sie verneinte schweigend und ohne ihn anzusehen.
»Besinne Dich wohl!« fuhr er fort; »dieser Augenblick entscheidet über Deine und meine Zukunft – und wer weiß über welches Schicksal! Es liegt in Deiner Macht, das schönste, edelste Glück hier einzuführen, hier auf dieser Stätte heimisch zu machen – ein Glück, worauf Gottes Wohlgefallen und Segen ruht, ein Glück, das die Seelen adelt und die Herzen verklärt, ein Glück, woran sich eine Kette von Gnaden knüpft und das in weite und ferne Lebenskreise wohltätig hineinwirkt. Sieh Dich um, sieh Dir diese Stätte genau an, sieh mich an, sieh mir in's Herz hinein – – dann sprich! und bedenk' es wohl: was Du jetzt sagst, mußt Du verantworten in der Ewigkeit.«
Regina blickte geradeaus und leise bewegten sich ihre Lippen, dann sah sie Uriel an und eine übernatürliche Zärtlichkeit verschmolz mit tiefer Trauer in ihrem unergründlich schönen Auge und sie sagte:
»Solo Dios basta.«
Es glitt ein solcher Schmerz über Uriels Züge, daß sie ihre gefalteten Hände lebhaft an die Brust drückte und ausrief:
»O mein Gott! wandle du diesen Schmerz in Gnade um, und diesen Dorn der Erde in himmlische Rosen.«
Der Graf, die Baronin Isabelle, Corona und Hyazinth traten soeben alle reisefertig in den Salon und gingen auch auf den Balkon, und der Graf fragte Regina:
»Du nimmst wohl Abschied von Stamberg?«
»Nein, lieber Vater, von Uriel,« sagte sie ruhig.
Hyazinth ging rasch auf den todesbleichen Uriel zu, legte zärtlich den Arm auf dessen Schulter und sagte:
»Auf Wiedersehen zu meiner Primiz, Uriel.«
»Ja, auf Wiedersehen!« entgegnete Uriel gedankenlos.
Der Wagen fuhr vor – und fuhr dahin! Uriel sah ihm nach, horchte ihm nach – und als er nichts mehr von ihm sah und hörte, war ihm zu Mut, als habe er die ganze Welt besessen – und verloren.