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13

Nach dem zu warmen Mai kam ein zu kalter Juni. Die Natur gehorcht dem Pendeltrieb, der eines ihrer Urgesetze zu sein scheint. Sonnenlose Tage straften für die verschwenderische Wärme, womit der aus der Art geschlagene Mai die nordische Stadt ein paar Wochen lang beglückt hatte. Man fror in den kalten lichtarmen Stuben des altstädtischen Gassengewirrs und fing wieder an zu heizen. Heiße Getränke mit stark betontem Rumzusatz mußten ein übriges tun.

Johann Sebastian Stenzel hatte nie eine besondere Vorliebe für das heimatliche Nationalgetränk gehabt. Bei Schnupfen oder Grippe mochte ein Glas Grog mit nicht allzuviel Rum am Platze sein; besonders als Vorbeugungsmittel, obwohl auch das seine Bedenken hatte. Denn aus der Vorbeugung konnte nur allzuleicht ein Vorwand gemacht, werden, wie es nun einmal in der Unvollkommenheit unserer Natur begründet liegt, die zum Selbstbetrug neigt, ja ihn gradezu als Lebensrequisit handhabt. Derlei durfte ein ernster Mann, der noch dazu Generalkonsul, Reedereibesitzer und Großkaufmann war, sich nicht nachsagen lassen. Von sonstigen geistigen Getränken war ein Glas guten Rotweins in geselligem Kreise wohl gelegentlich statthaft, obschon immer daran festzuhalten war, daß auch dies eigentlich eine Einbuße an Zeit und Arbeitskraft bedeutete, also dem wahren Zweck des Lebens zuwiderlief und übrigens auch der Gesundheit abträglich war. Stenzel hatte es zum Gesetz erhoben, nach jeder derartigen Ausschreitung, wie sie in dem stark alkoholisierten geschäftlichen Verkehr beim besten Willen nicht immer zu vermeiden war, sich eine mehrtägige Selbstkasteiung aufzuerlegen. Teils als Buße in moralischer Hinsicht, teils aus gesundheitlichen Gründen, zur Selbstentgiftung und Reinigung des verseuchten Stoffwechsels. Er fastete dann mit der Inbrunst eines Säulenheiligen, lebte nur von Milch und Apfelmus und trank ein auf seinem eigenen Grund und Boden an der Berglehne entspringendes Quellwasser, dem er, wegen seines leichten Eisengeschmacks, so etwa übernatürliche Kräfte beimaß. Es stand in Hunderten von Flaschen abgezogen in seinem Keller, von denen jede ein Etikett trug mit einer von Stenzel selbst gedichteten Aufschrift. Sie war weithin volkstümlich geworden und lautete wie folgt:

Gesundheit in Bogen und Bausch.
Waldquell Brunnenrausch.
Heilt, stärkt, reinigt.
Verjüngt, verschönt, beschleunigt.

Es muß nun leider im Verlaufe unserer Geschichte erzählt werden, daß Johann Sebastian Stenzel allen diesen schönen Grundsätzen und Lebensmaximen seit jenem schwarzen Vormittag, wo er seine eigene Traueranzeige im Traum vorausgelesen hatte, auf eine bedenkliche Weise untreu geworden war. Es geschah, daß er sich eines Abends von Renz statt des gewohnten »Waldquells Brunnenrausch« einen doch auch vorhandenen alten Bordeaux auf die Tafel setzen ließ, die Flasche bis auf die letzte Neige austrank und gar noch ein bei Fräulein Gottschalk eigens bestelltes blutiges Rindsstück dazu verzehrte. Dies wiederholte sich ein paarmal kurz nacheinander.

Renz und die Gottschalk staunten, mißbilligten und berichteten an die Nachbarschaft, die die Kunde sofort mit allerlei vorwitzigen Kommentaren an die Stadt weitergab. Noch mehr staunte Bauhofer, als er an einem dieser kühlen Frühlingsnachmittage den Generalkonsul in seinem Privatkontor vor einem großen Glase veritablen Grogs fand. Er hielt die goldgelbe Flüssigkeit zunächst für Tee, mußte sich aber durch den unverkennbaren Duft, der sich von dem dampfenden Glase verbreitete, bald eines andern belehren lassen. Und nicht genug daran: der Generalkonsul selbst scheute sich nicht, offen sich zu seiner Handlungsweise zu bekennen. Ob er, Bauhofer, sich wohl auch manchmal solch ein Gläschen Grog genehmige, so erging in einer beinahe frivolen Tonfärbung die Frage des in seine Dampfringe hineinschmunzelnden Generalkonsuls an den gänzlich erschütterten Sekretär. Dieser stotterte etwas von Grundsätzen, die »so etwas« nicht erlaubten, und von Abstinenz, die die Männerturnriege »Stahlbrust« auf ihr Panier geschrieben habe. Grundsätze? fragte die Stimme aus dem Grogglas, die Bauhofern in diesem Augenblick wirklich wie die eines ganz fremden Menschen vorkam. Grundsätze? Als ob es nicht wichtiger sei, erst einmal zu leben, solange noch das Lämpchen glühe (ja, dieser Satz war wirklich gefallen!) und dann erst Grundsätze zu haben oder auch keine. Im übrigen sei es der besonders reine und delikate Geschmack des Rums, als einer Abspaltung des Zuckerrohres, worauf er die Aufmerksamkeit Bauhofers hinlenken wolle. Selbstverständlich solle mit dem allen nichts gegen die Notwendigkeit und das Glücksgefühl einer unermüdlichen täglichen Arbeit (mit drei r) gesagt werden, deren Qualität vielmehr durch die dem Zuckerrohr, als der chemischen Basis des Rums, innewohnenden lebenswichtigen Vitamine nur gewinnen könne.

Bauhofer hatte das bestimmte Gefühl, daß der, der das sprach, ordentlich einen müsse sitzen haben. Aber selbst wenn er sich hierin irrte, oder gerade dann, war es um so beunruhigender. Denn konnte ein Zweifel sein, daß diese merkwürdig dunklen und verwirrenden Orakelsprüche auf einen überaus schwankenden Gemütszustand schließen ließen? Der Sekretär verfehlte nicht, am nächsten Sonntag in der »Stahlbrust« seine Beobachtungen zum besten zu geben und die Mitglieder dieser kraftvollen Männerrunde in eine Debatte über die geistige Gesundheit seines Brotherrn zu verwickeln. Man trank dazu einen ausgezeichneten steifen Grog, woraus zu folgern, daß Bauhofers Angabe über die vollkommene Abstinenz dieses Freundeskreises den Tatsachen vorauseilte.

In der Stadt verbreitete sich, aus so verschiedenen Quellen gespeist, schnell das Gerücht, bei Johann Sebastian Stenzel, dem Generalkonsul von Honduras, sei eine Schraube los. Die menschliche Logik wandelt oft wirre Pfade. Man hatte sich nach allen den vielen Jahren vollständig damit abgefunden, daß Johann Sebastian anders war als die große Mehrheit seiner Mitbürger, ja in vielen Dingen ihr entgegengesetzt dachte und handelte. Als er nun aber anfing, in seinen Lebensgewohnheiten sich dieser Menschheit anzunähern und vielleicht bald so zu werden wie sie, da nannte man ihn ohne weiteres verrückt.

Stenzel blieb das natürlich nicht verborgen. Es scheint, daß wir alle ein Fluidum um uns herum haben, durch das uns die Ansichten der Umwelt über uns vermittelt werden, ohne daß auch nur ein Wort zu fallen braucht. Die Stadt wußte sehr bald, daß es die Liebe war, die Stenzel um den Verstand gebracht hatte. Und Stenzel seinerseits wußte wiederum, daß dies die Stadt wußte oder meinte, obwohl es ihm keiner sagte. Es wäre ihm auch bei seiner jetzigen Verfassung ganz gleichgültig gewesen. Er hatte ja in vielen Dingen schon früher sich über das Urteil der Menge erhaben gefühlt. Aber es hatte doch auch stets eine innere Stimme mitgesprochen und sich in alle Lebensfragen hineingemischt, die ihn schulmeistern wollte, dies zu tun oder jenes zu unterlassen, weil seine Stellung in der Welt es so von ihm verlange. So war Johann Sebastian Stenzel als ein merkwürdiges Gebräu von gesellschaftlicher Konvention und eigenwilliger Selbstbehauptung durchs Leben gewandert und hatte die entsprechende Marke aufgeklebt bekommen, die ihn auf seine Weise vor den Menschen legitimierte. Als dies nun nicht mehr stimmte, mußte da nicht alles auf den Kopf gestellt erscheinen: er den Menschen und die Menschen ihm?

Man hat von der Jugend gesagt, sie sei Trunkenheit ohne Wein. Wie viel mehr gilt dies noch von der Liebe, die ein Rausch auch ohne Jugend sein kann, ja vielleicht ein um so stärkerer Rausch, je ferner schon die Jugend ist und je weniger man ihn in der Jugend gekannt hat. Es war der Fall, der grade auf Johann Sebastian zutraf. Gewiß! Er hatte die drei Schwestern Olga, Ottilie und Helene der Reihe nach angebetet, Helenen ohne Zweifel auch ein tieferes Gefühl entgegengebracht. Aber entweder war es doch nur ein Streifschuß aus Amors Köcher gewesen oder die Zeit hatte die Erinnerung an jenes einst gekostete süße Gift ausgelöscht: Johann Sebastian Stenzel, achtundfünfzig Jahre vorbei, glaubte zum ersten Male zu lieben! Und bewies eben dadurch, daß er wirklich bis über die Ohren verliebt war. Denn jeder Seelenarzt weiß, daß er ausgebrochenen Liebeswahn nicht sicherer feststellen kann, als wenn der Patient erklärt, noch niemals vorher geliebt zu haben.

Johann Sebastian Stenzel durchlebte sämtliche Stadien dieser verderblichsten und köstlichsten aller Rasereien mit der Gründlichkeit und Pedanterie, die dem Schulmeistersohn von den Feen in die Wiege gelegt worden waren. Auf seinen einsamen Spaziergängen am Seestrande oder in den Buchenwäldern von Willomin suchte er zunächst einmal ein klares Bild von den Gründen seiner Neigung zu Ginevra zu gewinnen. Liebe ich sie, weil sie schön ist? so fragte er sich. Oder auch nur, weil sie jung ist? Aber habe ich nicht oft genug früher Schönheit und Jugend kennengelernt, ohne daß mein Puls um einen Sekundenstrich schneller geschlagen hätte? Wie oft haben mir nicht in meinen Sprechstunden reizende Bittstellerinnen mit Blick und Wort Gewährung verheißen? Aber auch wenn ich sie nahm, hat mein Herz oder mein Kopf davon gewußt? Und jetzt sind beide zum Überströmen voll von dem einen Namen und Wesen Ginevra, deren Blicke manchmal kalt wie Gletschereis sind (manchmal, aber nicht immer!) und deren Worte zuweilen von Spott durchtränkt scheinen? (Nicht immer, aber zuweilen!) Liebe ich sie vielleicht grade darum, weil sie spröde und kalt und abweisend gegen mich ist? Zum Teufel! Habe ich das nötig, ich, ein Stenzel, Generalkonsul von Honduras und Präsident der Schwedisch-Baltischen Schiffahrtsgesellschaft vormals Wiedemann und Hopf? Also warum liebe ich sie dann eigentlich? Und lasse mich von dem kalten vorwitzigen Geschöpf wie ein Tanzbär am Nasenring ziehen? Ist dies alles vielleicht nur, weil ich alt bin und mein Leben verrinnen sehe, wie die letzten Tropfen aus einer Teemaschine, und bisher niemals gewußt habe, was Liebe ist? Und jetzt, wo meine Tage, meine Stunden gezählt sind, jetzt kommt dieser Wahn über mich, dieses Irresein, von dem es keine Erlösung gibt?! Soll ich sie heiraten? Ihr einen Antrag machen? Sie zu meiner Universalerbin einsetzen? Sehe ich nicht schon die Testamentseröffnung? Lacht sie mich nicht aus? Nein! Sie weint! Ich sehe, wie sie das Taschentuch an ihre schönen gefahrbringenden Augen drückt! Hätte sie mich nicht doch vielleicht gewollt? Und ich war närrisch genug zu sterben, ohne sie zu fragen? Aber selbst wenn sie mich nicht will, was geht es sie an, daß ich sie liebe? Ist es nicht schön, zu lieben, rein um der Liebe willen, ungewußt, unerhört vom andern? Und einerlei, ob man zwanzig ist oder sechzig? Welch ein Glück, diesen Rausch ohne Ende, diesen Becher ohne Grund noch gekostet zu haben, ehe es zu spät ist! Und welch eine Bosheit des Geschicks, einen erprobten Geschäftsmann und Pflichtmenschen vor seinem Ende noch alle diese Qual erdulden zu lassen! Mit einer Narrenkappe zu Grabe zu gehen! Ich! Ein Stenzel! Aber wenn es denn nicht anders ist, welch eine Seligkeit auch, vor Torschluß diese Kappe noch in die Luft zu schleudern, daß alle Schellen daran klingeln!

Stenzel war am Ende dieser regelrecht im Kreise sich drehenden Betrachtungen nicht klüger als am Anfang. Das ärgerte ihn zuweilen maßlos. Im gleichen Atemzug vermochte er sich vor Glück nicht zu fassen, daß das Leben so unvernünftig sein konnte: was er nie vorher gewußt hatte. Manchmal gestand er sich im stillen, daß er, wenn er wider Erwarten leben bleiben sollte, ohne Zweifel ein ganz anderer Mensch werden würde. Aber diese Möglichkeit wagte er kaum in Betracht zu ziehen. Sie war wie ein beglückender Morgentraum, aus dem wir zu einer grausamen Wirklichkeit erwachen. Wie dem Sprichwort zufolge alle Straßen nach Rom führen, so mündeten alle Gedankenwege Stenzels auf einen schwarzverhangenen Platz, wo er seinen eigenen Katafalk – nicht ohne einen gewissen Pomp – errichtet sah. Er hatte schon hundertmal der Zeremonie seiner feierlichen Aufbahrung beigewohnt und war als erster der Leidtrager den hinter dem prunkvollen Leichenwagen mit den vier schwarzvermummten Rossen einhergeschritten, während die tragischen Trompetenstöße des berühmten Trauermarsches die dichtgedrängten Zuschauermassen in der Seele erschütterten und eine Flut von Tränen in aller Augen lockten. Es gab keine Einzelheit seines imposanten Leichenzuges, mit der Johann Sebastian Stenzel nicht vertraut war. Dort die Gruppe vornehmer Zylindermänner: das war der Aufsichtsrat der Schwedisch-Baltischen Schiffahrtsgesellschaft vormals Wiedemann und Hopf. Jene andere größere Gruppe von einfachen Männern aus dem Volk, die Werftarbeiter der Schwedisch-Baltischen. Hier die Beamtenschaft. Bauhofer vorneweg. Sein sonst so stolz gewölbter Brustkasten war eingesunken und schlaff wie ein Autoreifen, aus dem die Luft entwichen ist. Das dort war Geheimrat Herzigkeit, dessen Arm schon zur großen Trauerrede ausholte. Auch der Senat der altersgrauen nordischen Hansestadt fehlte natürlich nicht: an seiner Spitze die alles und alle überragende Gestalt des Staatsoberhauptes.

Generalkonsul Stenzel gestand sich nicht ohne Genugtuung, daß es wirklich ein großartiges Leichenbegängnis war, für das es sich schon lohnte, aller seiner Tage gearbeitet und geschuftet zu haben. Freilich kamen dann wieder Augenblicke, wo er – mit Respekt zu sagen – auf all den Mumpitz pfiff und das ganze Generalkonsulat von Honduras nebst einen angemessenen Teil seines Vermögens (vorschlagsweise ein Drittel) hingegeben hätte, wenn er dafür noch fünfundzwanzig bis dreißig Jahre an der Seite seiner angebeteten Ginevra, allerschlimmstenfalls auch ohne sie – hätte leben können. Seines Erachtens wäre das eine durchaus annehmbare Offerte von ihm an das Schicksal gewesen, da er doch eigentlich, zufolge seiner naturgemäßen, enthaltsamen Lebensweise, Anspruch darauf gehabt hätte, mindestens das Jahrhundert zu vollenden. Wenn er also auf zwölf bis fünfzehn Jahre freiwillig verzichtete, so war das mit rund fünfzehn Prozent ein Angebot, mit dem die Gegenpartei zufrieden sein konnte.

Überhaupt wollte es nicht in seinen Kopf, wie ein Mann von seiner Gesundheit und besonnenen Lebensführung nicht einhundertzwanzig Jahre alt werden könne, wenn denn schon einmal gestorben werden müsse, was ihm im Grunde seines Herzens ja auch als Widersinn vorkam. So oft also seine Gedanken auf jenen schwarzen Katafalk stießen – hundertmal täglich –, erhob sich auch immer von neuem die Frage nach seiner voraussichtlichen Todesursache, die sein Gehirn ernsthaft beschäftigte. Da es eine Krankheit nicht sein konnte – denn ein Mensch, der so vernünftig gelebt hatte wie er, wird eben nicht krank, darf es, kann es nicht werden! –, so blieb nichts übrig, als eine von außen kommende Ursache, also einen Unglücksfall anzunehmen. Dieser Gedanke hatte etwas sehr Einleuchtendes für seinen rationalistischen Verstand und befestigte sich sehr bald bis zur völligen Gewißheit in ihm. Oft, wenn er durch die engen Gassen der Altstadt – gesundheitshalber im Laufschritt – dahintrabte, fiel ihm so nebenbei ein, welcher von den unzähligen Dachziegeln da oben wohl auf ihn warten möge. Natürlich konnte es auch ein Autounglück sein. Aber darüber zu grübeln, war vorläufig zwecklos. Es war ja noch lange nicht so weit! Und es lag sogar eine gewisse Beruhigung darin, ja mehr als das, eine starke Erhöhung des Lebensgefühls, sich sagen zu dürfen: Es kann dir bis zu jenem angekündigten Termin nichts geschehen, und wenn du im Zweihundert-Kilometer-Tempo über eine spiegelglatte Eisfläche rasest oder festgebunden im brennenden, abstürzenden Flugzeug mit dem Kopf nach unten fällst!

Man sieht, Stenzels Gedankengang war in dieser Hinsicht etwa der nämliche wie der, womit Mohammed und seine Jünger die Welt erobert haben. Es bemächtigte sich auch, wenn Geringeres mit Größerem verglichen werden darf, ein ganz ähnlicher Fatalismus und Fanatismus des kleinen Mannes mit dem Knebelbart des Napoleoniden. Sein Schritt bekam etwas Federndes, Schwingendes; seine Brust wölbte sich mit der Bauhofers beinahe um die Wette; sein Kopf lag im Nacken; nur noch das Hütchen mit der Spielhahnfeder schien zu fehlen. Generalkonsul Stenzel, bisher Grübler und Sinnierer, war auf dem besten Wege, die Haltung des borghesischen Fechters anzunehmen. Seinen helläugigen Mitbürgern entging die Veränderung nicht. Man sprach viel darüber und führte auch sie auf die bekannte Liebesgeschichte zurück.

Das Gut in Ellerndorf war von ihm gekauft und in aller Form an Jan Wilhelm verschrieben worden. Dieser sollte es noch vor der Ernte, im Lauf des Juni, übernehmen. Stenzel überraschte Frau van Düren eines Tages mit der Nachricht, daß er ihre beiden Schwestern für ein paar Sommertage nach Ellerndorf eingeladen habe. Er wolle ihre einstmalige Verabredung, einander an der Stätte ihrer Jugend selbviert ein Stelldichein zu geben, nun endlich wahrmachen, so verspätet es auch sei. Er erwarte selbstverständlich auch Helene und ihre Tochter Ginevra als seine Gäste. Die habe ja eigentlich mit jenem Jugendgelübde nichts zu tun, meinte Helene mit ihrem etwas spöttischen Lippenkräuseln, das doch nicht frei war von Melancholie. Aber sie nehme für ihre Person die Einladung gern an. Ihre Tochter leide ja nicht grade an Unselbständigkeit, möge also von sich aus entscheiden. Ginevra entschied sich nach kurzem Überlegen bejahend. Ein feuriger Händedruck und Handkuß mit beziehungsvollem Augenaufschlag war der Dank des Generalkonsuls.

Großfürst Kasimir Wladimirowitsch empfing die Absage Jan Wilhelms ohne sichtliche Überraschung. Der Brief war höflich, aber im Charakter des Absenders kurz und bestimmt. Er gestehe offen, daß das großfürstliche Anerbieten ihn in vieler Hinsicht gereizt habe. Die Weite des gebotenen Spielraums sei verlockend, die Fremde bekanntlich immer anziehend, die Güte des Großfürsten im beschämenden Mißverhältnis zur Geringfügigkeit und Selbstverständlichkeit des geleisteten Dienstes. Wenn er nun doch den Pflichten gegen Heimat und Verwandtschaft den Vortritt lasse, so bitte er, ihm das nicht zu verübeln und von seiner steten Dankbarkeit überzeugt zu sein. Er hoffe, daß der Großfürst ihm auch ferner sein Wohlwollen bewahre, und werde es als einen Beweis dafür ansehen, wenn ihm die Ehre zuteil werden sollte, Seine Hoheit in Ellerndorf begrüßen zu dürfen.

»Ich denke, daß wir recht bald von der Einladung deines Freundes und Lebensretters Gebrauch machen werden?« äußerte der Großfürst zu Adele Waldmann, als er ihr den Brief des jungen Gutsherrn zu lesen gab.

»Der Wille meines hohen Herrn ist mir wie immer Befehl!« erwiderte Adele in dem leicht ironisierenden Ton, der manchmal zwischen ihnen angeschlagen wurde. Sie hatte nicht verhindern können, daß bei Durchsicht des Briefes eine heiße Röte über ihre Wangen floß, die dem auf ihr ruhenden Auge ihres Gebieters unmöglich entgehen konnte, so sehr sie sich bemühte, sie durch einen möglichst tiefen, halb karikierenden Hofknicks zu verbergen.

»Ich weiß die Beweggründe des jungen Mannes vollauf zu würdigen,« bemerkte der Großfürst und warf seine Zigarette mit einer nachlässigen Handbewegung fort. »Die Heimat ist natürlich immer der stärkere Magnet. Die Heimat und alles, was sie zu bieten hat.«

Er winkte Adele mit einer lässigen, aber beziehungsvollen Geste zu. Die Schauspielerin hielt es für das Klügste, sie zu übersehen und dem Thema eine andere Wendung zu geben.

»Wenn das richtig ist, dann sind Sie selbst, Hoheit, jedenfalls eine sehr bemerkenswerte Ausnahme von der Regel!«

»Und darf man fragen, warum, meine blonde Verführerin?«

»Verführerin? Oho!« lachte Adele. »Darf ich meinerseits fragen: Wieso? Ich, die ich die Treue in Person bin!«

Der Großfürst räusperte sich, ohne jedoch zu antworten.

»Etwa nicht?« beharrte Adele. »Seit einem halben Jahr verharre ich zu Ihren Füßen, wie die Odaliske vor ihrem Pascha! Ist das ein Benehmen für eine moderne Europäerin? Sind wir etwa im Orient? Wollen Sie Ihre Balkangewohnheiten denn durchaus nicht ablegen, Hoheit?«

»Ich fürchte, es wird mir nicht mehr gelingen,« erwiderte Kasimir Wladimirowitsch. »Habe Nachsicht mit meinen grauen Haaren, meine holde Odaliske! Es dürfte sich für alle Teile empfehlen!«

In seiner schmeichlerischen Stimme klirrte ein ganz leiser metallischer Unterton. Es war wie ein in der Ferne aufblitzendes Messer. Adele achtete nicht darauf.

»Muß man denn immer nur Haremssklavin sein, wenn man Ihnen gefallen soll, Hoheit?« rief sie sehr lebhaft.

»Am liebsten ja!« nickte der Großfürst und lächelte sanft.

»Also nicht rechts und nicht links blicken?«

»Nicht einmal nach rückwärts, geliebte Adelina, wo man bekanntlich auch Augen hat, wenn man eine schöne, begehrenswerte, verlockende Frau ist! Bei uns auf dem Balkan pflegte man in solchen Fällen nicht viel Umstände zu machen. Das große Nirwana heilt solche Verführerinnen!«

Die Schauspielerin hatte ein prickelndes Gefühl in den Nervenspitzen, wie ein Kätzchen, das man gegen den Strich streichelt. Der Großfürst zog sie an sich. Sie sträubte sich nicht, bot ihm ihren roten Mund und überließ sich seiner Umarmung.

»Jetzt habe ich auch die Antwort auf meine Frage vorhin,« sagte sie nach einer Weile, »warum für dich die Heimat kein Magnet war und warum du die Ausnahme von der Regel bist.«

»Und warum, du sündhaft blondes Gebilde?«

»Weil du um zweihundert Jahre zurück bist! Deshalb brauchtest du den Balkan! Du kannst ja nicht ohne Peitsche leben!«

Der Großfürst nickte und hatte sein mildes Lächeln.

»Peitsche und Stilett! Beides gehört zusammen! Du bist keine üble Männerkennerin, mein Kind! Aber dann laß dir sagen, daß ich nicht um zweihundert, sondern um siebenhundert Jahre zurück bin! Als ich zum letztenmal da war, hieß ich Dschingiskhan! Du siehst, meine Position hat sich nicht grade verbessert!«

Zwei Tage darauf begegneten sich Adele Waldmann und Jan Wilhelm auf der Hauptgeschäftsstraße, wo nachmittags auch der Bummel war. Der junge Mann hatte es eilig und wollte mit kurzem Gruß vorüber. Aber da Adele stehenblieb, so mußte er sie wohl oder übel ansprechen.

»Haben Sie Lust zu einer Tasse Kaffee in der Konditorei?« meinte Adele. Der junge Mann hatte plötzlich Lust, eigentlich zu seiner eigenen Überraschung. Er fand die Schauspielerin ungewöhnlich hübsch. Bisher war ihm das nie so sehr zum Bewußtsein gekommen. Auch ein gewisses Etwas in ihrer Stimme schmeichelte sich in seine Ohren. Dieses Mädchen hatte eine merkwürdig weiche, biegsame Art, sich durchzusetzen, indem sie nachzugeben, zurückzuweichen schien.

Sie traten ein. Es war ein langer schmaler Raum, wie in allen diesen sehr tiefen Giebelhäusern der Altstadt. Im hintersten Teil des Lokals waren abgeteilte Logen.

Eine davon war noch frei. Sie nahmen Platz und bestellten. Adele hatte eine Vorliebe für Apfelkuchen und Schlagsahne. Sie habe sie noch nirgends so gut gefunden wie hierzulande. Es sei zwar Gift für die schlanke Linie. Aber man müsse auch einmal den Mut zur Sünde haben.

»Oder finden Sie, daß es sehr schlimm ist?« fragte sie mit einem Blick an sich herunter und hatte ein leichtes Erröten auf den Wangen. Jan Wilhelm folgte der Weisung ihres Blickes. Sein durch Aktzeichnen geschultes Malerauge entdeckte sogar noch mehr, als was der Schnitt des beigefarbenen Promenadekostüms so obenhin kundgab: einen vollendeten ebenmäßigen Wuchs. Sie war weder zu dick, noch zu mager. Sie war die ideale Verkörperung dessen, was das moderne Schlagwort vollschlank besagt; die etwas primitive Bezeichnung für eine sehr erfreuliche und begrüßenswerte Sache. Jan Wilhelm verhehlte sich nicht, daß alles dies seinem Geschmack aufs nächste entgegenkam. Die Schauspielerin fühlte das beinahe noch früher, als es ihm selbst bewußt wurde. Sie besaß den untrüglichen und ungebrochenen Instinkt der Mädchen aus dem Volke, die die untadligsten Empfänger sind, wenn nur die Sender richtig funktionieren. Jan Wilhelm gehörte zu den augenblicklich nicht allzuhäufigen Männerexemplaren, auf die das zutraf. Der Prozeß, der sich zwischen den beiden vollzog, war dementsprechend prompt und exakt.

»Nun? Wie lautet Ihr Verdikt?« fragte Adele mit ihrer verschleierten Stimme, indem sie sich im Sessel zurücklehnte, dem Auge ihres Gegenübers jeden Reiz ihrer Linien darbietend. »Leben oder Tod? Hungerkur oder Apfelkuchen?«

Jan Wilhelm schwieg, ohne seine Blicke von ihrem Bild abzuwenden.

»Sie schweigen? Um Gottes willen sprechen Sie! Wollen Sie mein Unglück? ... Also doch Hungerkur?«

Sie hatte sich lässig ein wenig aufgerichtet und schien an seinen Lippen zu hängen.

»Nein! Apfelkuchen!« erklärte Jan Wilhelm und lächelte. »Bedenkenlos Apfelkuchen! Sie brauchen weder mehr noch weniger! Sie dürfen bleiben, wie Sie sind! Eine vollendete Eva aus Gottes Hand!«

»Noch vor dem Sündenfall?« lächelte Adele.

»Nehmen wir es an!« Jan Wilhelm biß sich auf die Lippen.

»Sie sind ja Maler? Nicht?«

»Ich war es!«

»Wollen Sie es nicht wieder werden?«

»Hätten Sie Lust, mir zu sitzen?«

»Warum nicht? Ich tue alles, was Sie wollen! ... Sie haben unbeschränktes Verfügungsrecht über mich! ... Natürlich nur in meiner Eigenschaft als Modell!«

»Auch als Eva?«

»Befehlen Sie über mich! Sie haben mir das Leben gerettet! Warum soll ich Sie nicht der Kunst retten?«

Jan Wilhelm antwortete nicht. Aus dem vorderen Teil der Konditorei erklang Musik. Eine Geige girrte. Ein Flügel sang. Es war der Seufzer des Augenblicks, der sich nach Dauer sehnt und doch weiß, daß er bereits vorüber ist.

»Sie vergessen ganz, schöne Adele, daß ich ein frischgebackener Guts- und Hofbesitzer in Ellerndorf bin!« sagte Jan Wilhelm und richtete sich auf. »Und mein Grundsatz heißt: Was du tust, das tue ganz! Entweder Maler oder Landwirt! Aber beides zusammen geht nicht! Heute weniger als jemals!«

Er rief den Kellner und zahlte. Beide standen auf und gingen hinaus. An einem Tischchen in einer Ecke des vorderen Lokals saß Kasimir Wladimirowitsch vor einem Mokkamaschinchen. Ein Zeitungshügel verdeckte ihn halb. Adeles scharfe Augen erspähten ihn dessenungeachtet sofort.

»Kommen Sie schnell!« flüsterte sie Jan Wilhelm zu und zog ihn mit einer raschen Bewegung hinaus.

»Was gibt es denn?« fragte Jan Wilhelm, als sie schon vor der Tür standen. Er hatte niemanden gesehen und war ziemlich verwundert.

»Ich glaubte, einen Bekannten zu entdecken, an dem mir in diesem Augenblick nichts lag!« entgegnete die Schauspielerin leichthin. »Aber ich möchte Sie zum Abschied doch etwas fragen!«

»Bitte?«

»Was würden Sie tun, wenn Sie eine Frau besitzen wollten und Dschingiskhan zum Nebenbuhler hätten?«

Der junge Mann lachte laut auf.

»Dschingiskhan als Nebenbuhler? ... Das ist ja ein Preisrätsel aus einer Sonntagszeitung! Ich bitte um eine Woche Bedenkzeit!«

Er reichte ihr die Hand und wollte sich verabschieden. Plötzlich wandte er sich ihr mit einer lebhaften Bewegung wieder zu.

»Ich habe es bereits!«

»Ich bin gespannt!«

»Dschingiskhan als Nebenbuhler? Das heißt, Kopf ab!« Er machte eine versinnbildlichende Handbewegung. »Unbedingt Kopf ab!«

Adele hatte ihr verschleiertes, ein wenig schmachtendes Lächeln.

»Aber wer? Sie oder Dschingiskhan? Das wäre doch von Wichtigkeit?«

»Wer zuerst am Zuge ist! Darauf kommt es natürlich an!«

Adele Waldmann wiegte ihren aschblonden Pagenkopf bedenklich hin und her.

»Ich fürchte, dann wird Dschingiskhan die Vorhand haben!«

»Kann man nie wissen!« rief Jan Wilhelm. »Denken Sie an Saul und David!«

Er lachte, winkte ihr zu und verschwand im Gedränge des Nachmittagskorsos.


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