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14

In dem alten Goertzschen Gutshof zu Ellerndorf, den jetzt Jan Wilhelm Köhler sein eigen nennen konnte, war neues Leben eingekehrt. Fehlauer, der von den Mitzlaffschen Erben mit der Verwaltung des großen Besitzes betraut war, hatte ohne Zweifel seine Pflicht getan. Er trank zwar gern eines über den Durst und bekam dann leicht Krakeel, war jedoch ein tüchtiger Landwirt und sparsamer Wirtschafter. Man konnte ihm nur das beste Zeugnis erteilen. Aber ein Angestellter bleibt nun einmal ein Angestellter. Ein Hof kann ohne den persönlichen Lebensatem eines Herrn auf die Dauer nicht gedeihen. Der kleine Bestand von Knechten und Arbeitern, der zum Teil seit vielen Jahren als eine Art von lebendem Inventar zu dem verwaisten Hof gehörte, wußte das am allerbesten. Die Arbeitsmühle drehte sich scheinbar im gleichen Takt wie sonst, aber es fehlte der menschliche Antrieb, der es rechtfertigte, sich abzurackern und abzumühen, da man ja denjenigen nicht kannte, für den man es hätte tun sollen. Für Fehlauer gewiß nicht! Er stand ja selbst nur in Brot und Lohn. Und die Mitzlaffschen Erben, die eigentlichen Inhaber des Hofes, saßen in der Stadt, zankten sich und fragten nach nichts, außer daß die Gelder richtig eingingen. Also fragte man auch nicht nach ihnen. Es ist noch so etwas wie eine Seele im Verhältnis von Landarbeit zu Landbesitz. Wer sie verleugnet, straft sich am Ende selbst. Die Mitzlaffschen Erben spürten es an ihrer empfindlichsten Stelle, am nervus rerum, der finanziellen Zirbeldrüse. Trotz aller Tüchtigkeit Fehlauers waren die Einnahmen von Jahr zu Jahr zurückgegangen. Es war wie ein Leerlauf des ganzen Betriebes, obwohl äußerlich alles ordnungsgemäß funktionierte.

Der psychologische Augenblick für den neuen Herrn. Wenn sein menschliches Verständnis und seine persönliche Tüchtigkeit nicht ganz versagten, so hatte er von vorneherein gewonnenes Spiel. Jan Wilhelm, der ja eigentlich als Maler, als Künstler angefangen, hatten die harten Lehrjahre des Krieges und die auch nicht gelinden Wanderjahre auf Gütern und Domänen zu einer Art von Tatmenschen umgeschmiedet. Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, in jedes neue Lebensfluidum kopfüber hineinzuspringen und ohne Umstände draufloszuschwimmen. Das war ihm zu Anfang nicht leicht gefallen, da der Künstler und Sinnierer in ihm geneigt war, von allen Tatsachen zunächst die Ursachen und für alle Entschlüsse erst die Gründe in Erwägung zu ziehen, bevor es ans Handeln ging. Jetzt vollzog sich der umgekehrte Vorgang. Der alte Mensch wollte sich nicht so leicht umgießen lassen. Aber der Hochofen der Zeit schmolz alles Widerstrebende weg. Wie es jetzt mit ihm stand; gab es keinen Lebensstoff auf den ihm vertrauten Gebeten, den Jan Wilhelm sich nicht zu formen vermessen hätte.

Schon binnen kurzem hatte er sich durch seine unbekümmert zugreifende und doch nicht verletzende, immer aus dem Menschlichen schöpfende Eigenart das Vertrauen des keineswegs leicht zu gewinnenden Hofgesindes erworben. Auch mit Fehlauer, der erst zum Herbst das Gut verlassen sollte, stellte sich ein befriedigendes Verhältnis her. Nur auf den Nachbarhöfen wollte man nicht recht an den zum Landwirt gewordenen Maler und Städter glauben. Man schloß sich dort, nach bewährter Ellerndorfer Weise, überhaupt gern gegen Fremdlinge ab.

Jan Wilhelm focht gerade das am allerwenigsten an. Er hatte nicht einmal Zeit, daran zu denken. Die Übernahme des Gutes mit allen daraus entspringenden Aufgaben und Sorgen beanspruchte seine volle Kraft. Es mußte in alle Ecken und Fugen und Winkel des neuen Besitzes hineingeleuchtet werden, um sich mit den Voraussetzungen seiner Bewirtschaftung bekanntzumachen, die überall andere sind. Denn jeder landwirtschaftliche Betrieb ist einmalig und mit keinem nächsten vergleichbar, mag auch nur ein niedriger Grenzzaun die beiden trennen. Um dieses Naturgesetz wird auf die Dauer auch der verwegenste Kollektivismus nicht herumkommen. Hier sind die Grenzen, wo seine Macht scheitert.

Jan Wilhelm kamen manchmal mitten im Getriebe der täglichen Arbeit derlei Gedanken und Betrachtungen. Er ärgerte sich eigentlich darüber, suchte sie abzuschütteln und fand sie doch immer wieder auf seinem Wege. Also gehörten sie wohl zu ihm, waren ein Erbteil, mit dem er sich einzurichten hatte, so gut es ging. Die Erinnerung an seinen Oheim lag nahe genug. Er hätte um jeden Preis gewünscht, anders zu sein als der. Aber Blut ist Blut, und niemand springt über seinen Schatten. Der junge Mann gestand sich im stillen ein, daß wohl auch in ihm ein Schuß Verrücktheit und Spleen vorhanden sein werde, nach allen den Proben seines bisherigen Lebens zu urteilen. Da half kein Aufbegehren und Fäusteballen! Mußte er nicht dem Geschick noch dankbar sein, daß es ihm den verschrobenen, exzentrischen Oheim beschert hatte? Wäre ein Normalmensch über Nacht auf die Idee verfallen, diesen großen, wertvollen Besitz um jeden Preis an sich zu bringen, um ihn dann mit einer leichten Handbewegung an den Neffen wegzuschenken wie ein Pfund Butter?

»Wie irrsinnig spielt doch das Leben mit uns!« sagte er zu sich, als er eines Nachmittags die jungen Zuckerrübenschläge seines neuen Besitzes, weit draußen an der Flurgrenze des Nachbardorfes, besichtigte. »Es macht mich zum Gutsbesitzer, weil es meinem Onkel plötzlich im Kopf rappelt! Aus gänzlich unerforschlichen Gründen läßt er mir achthundert Morgen Weizenboden in den Schoß fallen! Kaum ist das geschehen, so rollt die Roulettekugel von neuem! Ein Auto rast und ich rette jemandem das Leben, weil ich zufällig einen Schritt von ihm entfernt bin! Und weil dieser Jemand eine hübsche, verlockende, noch dazu blonde Schauspielerin ist, die mir durchaus als Eva sitzen will, so verfalle ich auf den absurden Gedanken, es wieder mit dem Malen zu versuchen! Kann man sich einen größeren Unsinn denken? So etwas träumt man doch sonst nur! Ich aber erlebe das alles!«

Man sieht, Adele Waldmann beschäftigte immer mehr die Phantasie des jungen Gutsbesitzers, während Ginevra van Düren in den Hintergrund zu treten schien. Er wußte natürlich wie alle Welt, daß sein bejahrter Oheim in die jugendliche Malerin und Photographin bis über beide Ohren verliebt war. Hätte das geschehen können, wenn nicht Ginevra diesen tragikomischen Irrwahn des alten Mannes genährt und begünstigt hätte? Also war sie es doch, die die Schuld an dieser lächerlichen Geschichte trug! Eine Flamme, die nicht dauernd gespeist wird, muß erlöschen! Ginevra war es, die sie speiste, indem sie ganz kaltherzig und bedenkenlos Männerfang betrieb! Jan Wilhelm hatte Augenblicke, wo er sich glücklich pries, daß er dieser fischblütigen Sirene nicht ins Netz gegangen war! Er war nahe genug daran gewesen!

Eine bange Frage erhob sich da. Sollte er dem Onkel die Augen öffnen? Sollte er ihn in sein Unglück rennen lassen? Daß Onkel Pflichten gegen Neffen haben, ist unbestritten. Aber gibt es auch Pflichten von Neffen gegen Oheime? Und wie wird es von diesen Oheimen aufgenommen werden, wenn man sie erfüllt? Wieviel Mißdeutungen sind nicht möglich? Man brauchte nur an jene Mitteilung des Generalkonsuls zu denken, er habe Jan Wilhelm zu seinem Universalerben eingesetzt. Wenn nun dieser Liebeswahn zu einer Heirat führte und das kupferhaarige Mädchen zu seiner Tante machte: war in dieser Voraussicht nicht jeder Schritt, den er gegen die Verbindung unternahm, persönlichen Eigennutzes verdächtig? Und niemand, den er um Rat fragen, dem er sich anvertrauen konnte! Außer Helene van Düren! Er schätzte und verehrte sie! Aber sie war letztlich die Mutter des Mädchens, gegen das er zu handeln hatte!

Jan Wilhelm gelangte zu dem Schluß, daß er nichts tun könne, als schweigend zuzusehen. Das Verhältnis zu seinem Onkel war ohnedies wieder etwas getrübt. Eine Zeitlang war es gegangen. Der junge Mann war gewiß nicht frei von vorgefaßten Meinungen gegen seinen Oheim, von jenem Ressentiment, wie es gegen Eltern, Erzieher, Vormünder, Wohltäter nur zu leicht sich in uns ansammelt. Aber er war nicht undankbar oder wollte es wenigstens nicht sein. Was Stenzel mit seinem Gutskauf für ihn getan hatte, erkannte er gern an, obwohl er durchaus nicht begriff, was dahintersteckte. Aber wie es auch um den Wohltäter bestellt sein mochte: die Wohltat war ebenso unbestreitbar wie sie unerklärlich war.

Und nicht genug daran! Die Gebelaune des sonst so zähen Generalkonsuls schien unerschöpflich zu sein. Er hatte auch die Ausstattung des Wohnhauses übernommen, das bis auf jene schweren eichenen Barockschränke ganz geräumt worden war. Jan Wilhelm für seine Person hätte sich gewiß mit einem Tisch, ein paar Stühlen und einem Feldbett begnügt und alles andere der Zukunft überlassen. Aber wenn denn schon einmal angeschafft werden sollte, so verlangte er, daß es nach seinem Geschmack und nicht nach dem seines Onkels zu geschehen habe. Stenzel seinerseits wußte alles besser, kannte überall die billigsten Bezugsquellen, die nicht immer das Gediegenste lieferten, und beurteilte die Ansprüche des Jüngeren überhaupt sehr kritisch. Dieser wieder nannte den Geschmack des Älteren undiskutabel und lachte über dessen Begriffe von Wohnkultur, die schon vor dreißig Jahren überwunden gewesen seien. Alter und Jugend sprachen wieder einmal aneinander vorbei. Es kam zu Erörterungen und manchmal zu Streitereien, bis eines Tages der Jüngere erklärte, der Onkel möge sich sein Haus ausstaffieren, wie er wolle, seinetwegen auch mit Plüschsofas und Makartbuketts. Für ihn selbst werde sich schon irgendeine Kammer finden, wo er nach seinem Gusto wohnen und schlafen könne.

Und siehe da! Auf einmal gab Stenzel nach und legte den eben noch so eifrig gehüteten Oberbefehl über dieses ganze Werk in die Hände des Jüngeren. Nur die Bezahlung der Rechnung möge man ihm freundlichst überlassen, wie er nicht ohne Selbstironie hinzusetzte. Dies geschah nun wieder mit jener Plötzlichkeit, die schon zu einem Kennzeichen der neuesten Epoche des Generalkonsuls geworden war, aber für Jan Wilhelm nach wie vor rätselhaft blieb. Eigentlich schämte er sich vor sich selbst, der unwiderleglichen Güte des Oheims so wenig Verständnis und Anerkennung entgegenzubringen, und gelobte sich Besserung.

Dies war die Stimmung, die Frau van Düren benutzte, um als Mittlerin zwischen Onkel und Neffen aufzutreten und im beiderseitigen Einverständnis jenes Unternehmen zu Ende zu führen. In wenigen Wochen war die Arbeit getan. Das Haus war von vorn bis hinten, von oben bis unten in einem landmäßigen und doch zeitgerechten Stil ausgestattet. Onkel und Neffe waren auf gleiche Weise, wenn auch nicht mit dem gleichen Grund, zufrieden, denn es muß der Wahrheit gemäß gesagt werden, daß der Geschmack des Neffen den des Onkels fast auf der ganzen Linie aus dem Felde geschlagen hatte.

Vielleicht war es gut, daß Johann Sebastian Stenzel bei der Besichtigung des vollendeten Werkes überhaupt nichts davon merkte. Für ihn war es entscheidend, daß es Helene van Düren geschaffen hatte, deren Umsicht, Lebenserfahrung, Treffsicherheit, Takt, Geschmack er nicht genug bewundern konnte, seitdem ihre Schicksalswege sich wieder gekreuzt hatten. Zuweilen blitzte die Frage in ihm auf, ob nicht vielmehr die Mutter an Stelle der Tochter die geeignete Frau sei, um Hand in Hand mit ihr das noch verbleibende Reststück der Lebensstraße abzuschreiten. Aber gleich darauf erschien ihm das wie ein Verrat an Ginevra! Er schüttelte es ab, wie Schlangenköpfe, die zu ihm aufzüngeln wollten. In letzter Zeit geschah es immer häufiger.

Helene ihrerseits hatte sich längst vorgenommen, den Jugendfreund zu warnen, ihm den Widersinn seiner Leidenschaft zum Bewußtsein zu bringen. Sie scheute jedoch noch immer davor zurück; der Schritt war gefährlich und unsicher. Wenn er mißlang, was in Anbetracht der Verblendung des Generalkonsuls leider zu befürchten stand, so war diesem Sommeridyll, auf das sie sich freute, ohne recht zu wissen warum, ein Ende bereitet, noch ehe es angefangen hatte. Ganz zu schweigen von der falschen Deutung, die der verrannte Mann ihrem Schritt beizulegen hätte versucht sein können. Nein! Johann Sebastian durfte unter keinen Umständen den Eindruck gewinnen, sie selbst mache sich Hoffnungen auf seine Hand. Trotz manchem Wenn und Aber gelangte auch Helene zu dem Schluß, sie müsse den Dingen ihren Lauf lassen.

Es gibt Lebenslagen, deren anscheinend unentwirrbare Verknotung sich auf den ersten Griff löst, wenn alle Beteiligten Vertrauen zueinander haben und gegenseitig unbedingte Offenheit üben. Aber wie selten geschieht das unter uns wahnbeladenen Menschenkindern! Scheinen wir nicht dazu verurteilt, jeder seine eigene Sprache zu sprechen und die des andern mißzuverstehen, selbst wenn uns die gleiche Mutter geboren hat? Auch in Ellerndorf war es so. Keiner von den Menschen, deren Geschichte uns beschäftigt, vertraute dem Nächsten. Jeder schwieg aus diesem oder jenem oder aus sämtlichen Gründen. So verknoteten die Fäden sich immer fester. Alle zappelten hilflos in den selbstgeschaffenen Fesseln.

Am meisten litt natürlich Johann Sebastian. Was ihn drückte, war ja schlimmer als gewöhnliche Fesseln. Es war schon eine richtige Zwangsjacke oder Gummizelle, die ihn eingesperrt hielt! Er glaubte je länger desto fester an sein unvermeidlich bevorstehendes Ende zum nächsten Geburtstag, und er liebte Ginevra mit jener stillen Raserei, die bei Irrenärzten als die gefährlichste gilt.

Es hätte vielleicht nahegelegen, sich Helene van Düren anzuvertrauen, ihren Rat, ihre Hilfe zu erbitten. Aber er fand nicht den Mut dazu. Wenn er ganz offen gegen sich sein wollte: er schämte sich vor ihr! Schämte sich seiner Krankheit und des Bekenntnisses seiner Krankheit, das doch allein Gesundung bringen konnte! Ja, schon das Wörtchen Krankheit ging ihm gegen sein moralisches Selbstgefühl, das bis zur Hypertrophie entwickelt war! Er, ein Johann Sebastian Stenzel, krank? Geistig? Seelisch? Körperlich? Einerlei! Für das Wort war kein Platz in seinem Lexikon! Es mußte den andern überlassen bleiben, den Schwachen, den Lebensuntüchtigen, den Faulenzern! Ein Arbeiter wie er, ein Pionier, ein Bezwinger und Auserwählter, hatte auf seinem Posten aufrecht zu stehen und, wenn die Kugel kam, zu fallen!

Man wird längst bemerkt haben, daß Johann Sebastian Stenzel vieles von einem Puritaner hatte, ohne daß damit seine Lebensführung in allen Einzelheiten gekennzeichnet sein soll. Diese Menschengattung, die man in Judäa zu Christi Tagen Pharisäer hieß, fließt über von geistigem und moralischem Hochmut: ein fast unheilbares Leiden und überdies eine der sieben Todsünden, für die es bekanntlich weder im Himmel noch auf Erden Vergebung gibt, eben weil der mit ihnen Behaftete unbelehrbar und unverbesserlich ist – es sei denn, daß ein himmlischer Gnadenakt sozusagen Ausnahmerecht schafft. Vielleicht wird von einem solchen Gnadenakt oder Wunder noch im Laufe dieser Erzählung zu berichten sein. Einstweilen aber muß der Wahrheit gemäß gesagt werden, daß unser Johann Sebastian Stenzel als richtiges Musterexemplar eines Puritaners oder Pharisäers, wenn auch nur im Taschenformat und mit manchen schadhaften Stellen, sich immer tiefer in seinen moralischen Hochmut, in eitle Selbstgerechtigkeit verbohrte und demnach auch das vielleicht erlösende Wort gegenüber der Jugendfreundin nicht zu finden vermochte.

Ginevra van Düren war doch von etwas anderer Beschaffenheit, als Jan Wilhelm in verärgerten Stunden sie zu sehen beliebte. Sie hatte als junges zweiundzwanzigjähriges Geschöpf ohne Zweifel eine Neigung, das Leben und erst recht natürlich die Männer von der komischen Seite zu nehmen. Sie war sich ihrer strahlenden, manchmal auch erschreckenden Sieghaftigkeit im Spiel der Geschlechter vielleicht zu sehr bewußt, hatte zu dem allen auch noch einen angeborenen Witz, eine natürliche Spottsucht, die sie manchmal die Grenzen des Liebenswürdigen überschreiten ließen. Aber sie war gewiß nicht herzlos, besaß sogar unter ihrem oft maskenhaften Gehaben ein tiefes menschliches Mitgefühl, das vorläufig allerdings mehr ins Allgemeine schweifte, weil eben der besondere und persönliche Inhalt noch fehlte.

Es gab Stunden, wo Johann Sebastian ihr aufrichtig leid tat. Aber statt die zwischen ihnen gesponnenen Fäden mit einem schnellen, scharfen Schnitt zu zertrennen, um größeres Leid für später zu ersparen, redete sie sich selbst ein, sie sei vielleicht doch dazu berufen, dem wunderlichen Heiligen und wohlkonservierten Fünfziger als gute Lebenskameradin zur Seite zu treten. Für die üblichen jungen Männer, die allenthalben das gleiche leere, wenn auch herausfordernde Gesicht zeigten, hatte sie wenig übrig. Ein schwaches Mittelmaß, über das sie hinwegsah. Jan Wilhelm hatte zum erstenmal ein tieferes Interesse in ihr erweckt. Vielleicht war es neben seiner betont männlichen Art vor allem das Abseitige, das Eigenbrötlerische, ja, geradezu das Schrullige seines Wesens, was sie für ihn eingenommen hatte. Ein verwandter Zug mit dem Onkel, von dem sie sich wohl aus der gleichen Ursache angezogen fühlte. Verwandtschaft auch mit ihrem eingebornen Selbst: Onkel und Neffe, diese beiden Sonderlinge, kamen ihrem eignen Hang zur Originalität ergänzend entgegen.

Für welchen von ihnen beiden, ob für den älteren oder für den jüngeren, sie sich unter sonst gleichen Umständen entschieden hätte, wäre bei einem gesund empfindenden jungen Weib nicht schwer vorauszusagen gewesen. Aber hier waren doch auf beiden Seiten Bedingungen im Spiel, die die einfache menschliche Rechnung erschwerten und verwirrten. Ginevra hatte sich ohne Zweifel in Jan Wilhelm verliebt, freilich auf ihre kühle, etwas ironisierende Art. Ebenso unzweifelhaft hatte Jan Wilhelm sich in Ginevra verliebt; auch er nun wieder in seiner skurrilen, schrulligen Weise. Was hätte näher gelegen, als daß beide sich bei der ersten Gelegenheit in die Arme sanken? In der Antike, in der Renaissance, im Rokoko wäre es so gewesen. Aber die beiden hätten nicht Kinder unseres komplexbelasteten Zeitalters sein müssen, wenn sich ihnen nicht das einfache gradlinige Gefühl durch tausendfältige Brechung wie der Lichtstrahl im Prisma in ein ganzes Farbenspektrum aufgelöst hätte.

Schon nach vierzehn Tagen gegenseitigen Verliebtseins waren sie weiter voneinander entfernt als je, und ihre Entfernung im gegenwärtigen Zeitpunkt erreichte Planetenabstand. So wie Jan Wilhelm fest an das Einverständnis zwischen Ginevra und Stenzel glaubte, so hatte diese wiederum keinen Zweifel, daß der Liebesbund zwischen Jan Wilhelm und Adele entweder schon Tatsache sei oder es in kurzem werde. Man verstand sich nicht, weil man sich nicht verstehen wollte, und empfand in dem Auseinanderstreben plötzlich einen stärkeren Reiz, als ihn vordem das Zueinanderwollen gewährt hatte.

Es war der Abschnitt zwischen der Heuernte und der Getreideernte: die stillste Zeit auf dem Lande. Die große Pause, ehe der Schlußakt der ländlichen Trilogie »Pflügen, Säen und Ernten« beginnt. Gleichsam die hohe Mittagsstunde des Jahres, die dem großen Pan gehört. Es hatte sich gut getroffen, daß die Übernahme des Hofes grade in diese Wirtschaftspause fiel. Jan Wilhelm fand dadurch Zeit, sich mit der ganzen Maschinerie des Betriebes vertraut zu machen, ehe noch dessen Hauptstoß einsetzte. Jetzt war er für alle Fälle gerüstet und konnte seinen Mann stehen.

Helene van Düren und Ginevra hatten, der Einladung des Generalkonsuls folgend, ihr Sommerquartier in Ellerndorf bezogen. Helene bewohnte in dem neu hergerichteten Hause jenes geräumige, nach Westen schauende Zimmer ihrer Mädchenjahre. Ein kleineres Zimmer daneben hatte Ginevra sich auserkoren. Es ging auf den Garten hinaus. Ein gewaltiger, wohl zweihundert Jahre alter Lindenbaum stand dicht vor den beiden Fenstern dieser Oberstube. Man blickte geradewegs in das grünverschlungene Astwerk der aus dem blitzgespaltenen Stamm aufsteigenden Wipfelkrone. Wem es auf einen kühnen Sprung nicht ankam, hätte sich von einem der mannsstarken Äste zu Ginevras Fenster hinüberschwingen können, vorausgesetzt, daß es geöffnet wurde. Ginevra ihrerseits hatte bereits in der ersten Stunde, wo sie hier wohnte, den Gedanken ins Auge gefaßt, bei nächster Gelegenheit den umgekehrten Sprung von ihrer Fensterbrüstung zu dem grünen Wipfelsitz hinüber zu unternehmen. Als sie dies ihrer Mutter ankündigte, hatte diese in ihrem Ärger nicht übel Lust, ihrer verdrehten Tochter so etwas wie eine mütterliche Ohrfeige zu verabreichen, unterließ es dann aber doch in Hinsicht auf das heutige stark veränderte Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, das den ersteren nur noch ein beschränktes Daseinsrecht gewährleistet.

»Weißt du, wie du mir vorkommst?« sagte Helene van Düren auf einem Spaziergang durch die reifenden Felder zu ihrer Tochter. Sie gingen an einem der verschilften Gräben dahin, deren Netzwerk dieses ganze grüne Niederungsland in ungezählte Vierecke abteilte. Der kaum erkennbare Fußweg zwischen dem übermannshohen Roggen und dem Grabenrand war holprig, von Disteln, Brennesseln, Kleeblumen überwachsen und dabei so schmal, daß man hintereinander gehen mußte. Ginevra, die stolpernd sich weitertastete, drehte auf die Frage der Mutter den Kopf zu ihr zurück.

»Entschuldige, Mumpili, daß ich dir nicht gleich antwortete. Aber erstens lag ich schon zweimal beinahe im Graben drin, in diesem schönen grünen Froschlaich, der da schwimmt, oder was das für eine pelzige Geschichte ist! Und zweitens wird es ja doch nur wieder eine Spitze sein, wie ich dir vorkomme?«

»Natürlich ist es eine Spitze!« entgegnete Frau van Düren, die auf diesem struppigen Feldrain mit einer Sicherheit dahinschritt, als habe sie ihn erst gestern und nicht vor dreißig Jahren zum letztenmal betreten. »Natürlich ist es eine Spitze, aber eine durchaus treffende! Du kommst mir vor wie der Storch im Salat, mit deinen meterhohen Stöckelschuhen, die du dir extra für unsere Werderklütern ausgesucht hast!«

Ginevra drehte mit wiederholter Vorsicht den Kopf zurück.

»Tragen eigentlich Störche Stöckelschuhe?« fragte sie etwas malitiös. »Es ist mir noch gar nicht aufgefallen!«

»Nein! Weil sie dazu zu vernünftig sind!« antwortete Frau van Düren in leicht geärgertem Ton. »Aber wenn sie sie tragen würden, dann würden sie ungefähr so aussehen wie du jetzt, oder du wie sie! ... Ihr seid mir wirklich die richtigen Stadtpflanzen! Euer ganzes junges Volk heute und du mit!«

Ginevra wiegte mißbilligend den Kopf mit den kupferfarbenen Haarringeln.

»Und doch könnte ich mir denken, Mumpili, daß ich gar keine schlechte Landfrau abgeben würde, wenn es sich grade mal so treffen sollte!«

»Weißt du, was Blindspieler bei Schachpartien sind?« fragte Helene nach einem Weilchen, während sie schweigend weitergehumpelt waren.

»Man liest manchmal davon,« meinte Ginevra ziemlich einsilbig, da sie nicht ohne Grund eine neue Spitze voraussah.

»Na, dann sage mal, wieviel Blindpartien spielst du eigentlich gleichzeitig? Also zunächst natürlich gegen den Generalkonsul und gegen den jungen Mann! Neuerdings, wie es scheint, auch gegen Onkel Berthold. Der Arme! Er tut mir leid!«

»Onkel Berthold ist nichts weniger als arm,« warf Ginevra ein. »Onkel Berthold ist einer der reichsten Menschen, die ich kenne!«

»So? Hast du das bei deinen Visiten auf dem Kirchhof entdeckt? Du scheinst beinahe dort zu wohnen? Er liest dir wohl sein neuestes Drama vor?«

Ginevra setzte mit einem Sprung über einen schmalen Wasserlauf, der das eben zurückgelegte Roggenfeld von einem am Stromdeich entlangziehenden Triftweg trennte. Frau van Düren sprang der Tochter nach, aber sie war hierin doch nicht mehr so sicher und wäre beinahe in das nasse Grabenschilf gerutscht, wenn Ginevra nicht noch ihren Arm gepackt hätte. Helene war eigentlich in der Laune, sich über ihre Ungeschicklichkeit zu ärgern. Aber Ginevras Heiterkeit erweckte schließlich auch die ihrige. Sie gingen ein Stückchen auf der zerfurchten, ausgetretenen Kuhtrift, der man wirklich zu viel Ehre antat, wenn man sie einen Weg nannte. Ginevra nahm das vorige Thema wieder auf. Es machte ihr sichtlich Spaß, ihre Mutter etwas damit zu hänseln.

»Onkel Berthold ist wirklich ein Fund! Du hast recht, Mumpili! Natürlich liest er mir sein neuestes Werk vor! Es hat wundervolle Schönheiten! Ich werde dafür sorgen, daß es aufgeführt wird!«

Helene lachte.

»Ah! Sieh mal an! Und wie willst du das anstellen?« »Das ist Sache des Generalkonsuls! ... Deines Freundes!«

Helene lachte von neuem, jetzt etwas anzüglicher.

» Meines Freundes ...!«

»Also sagen wir: unseres Freundes! Das wäre doch eine Gelegenheit, wo er sein Geld einmal nützlich anlegen könnte!«

»Hat er das hier draußen etwa nicht getan? Herr Köhler, scheint mir, hat allen Grund, anders darüber zu denken!«

Ginevra warf ihren Kopf zurück. Ihr rotes Gelock flatterte in dem Sommerwind, der würzig und trächtig über die reifenden Felder daherstrich.

»Bestreite ich ja gar nicht, Mumpili! Aber jetzt ist die Kunst an der Reihe! Die Landwirtschaft hat ihr Teil weg! ›Der Wanderer und die Sphinx‹ kommt in diesem Herbst heraus! So wahr ich die Tochter meines Vaters bin!«

»Das wollte ich meinen!« bestätigte Helene. »Sogar sehr! ... Aber das Meisterwerk ist ja noch gar nicht fertig!«

»Vielleicht schon in den nächsten Tagen! Onkel Berthold arbeitet wie noch nie in seinem Leben!«

»Das würde noch nicht viel heißen!« spottete Helene. »Aber ich will nichts gegen ihn sagen! Er ist ein lieber Kerl! Wahrscheinlich bist du zu seiner Muse avanciert?«

»Vielleicht!« Ginevra hatte wieder ihre verschlossene, beinahe abwehrende Miene. Helene war nachdenklich geworden.

»Der gute Berthold! Er hat nie im Leben eine Frau kennengelernt, außer seinem Drachen! Deshalb dichtet er sich jetzt eine ganze Galerie von Frauen zusammen!«

»Nur fünf, liebste Mama! In jedem Bild eine andere! Fünf Bilder! Fünf Frauen! Ich bin natürlich die Krone vom ganzen! Die Sphinx, die der Wanderer zu enträtseln sucht, in ihrer höchsten Inkarnation! Ich bin so frei, mir etwas darauf einzubilden!«

Helene musterte Ginevra mit einem halb spöttischen, halb anerkennenden Blick.

»Das ist also die Partie, die du gegen Onkel Berthold spielst! Nummer drei! Jetzt wäre nur noch übrig, daß du auch mit dem Großfürsten anfängst! Vielleicht ist schon etwas im Gange? ...«

Ginevra blieb stehen und stemmte ihre Arme in die Seite.

»Du bringst mich auf eine famose Idee, liebste Mama! Ich wäre es eigentlich der guten Adele schuldig! Man könnte es als Revanchepartie bezeichnen! Sie ist nämlich ebenfalls eine ganz geschickte Blindspielerin!«

»Das seid ihr ja alle, ihr heutigen Frauenzimmer!« rief Helene mit lebhaftem Kopfnicken. »Euch ist nicht wohl, wenn ihr nicht mindestens an jedem Finger einen habt!«

»Der Generalkonsul würde das als Reservefonds bezeichnen!« erwiderte Ginevra, »Es ist ein Gebot der einfachsten kaufmännischen Vorsicht!«

Sie waren eine Zeitlang auf der Trift neben dem Damm dahingegangen, hatten an einer Biegung den zur Dammkrone emporsteigenden Graspfad eingeschlagen und standen jetzt auf der Höhe des Deichs. Helene erinnerte sich noch gut, daß hier in ihrer Jugendzeit ein Fahrweg entlanggeführt hatte. Es waren manchmal aufregende Fahrten mit wilden Pferden gewesen, die man hier zu bestehen hatte. Ein Scheuen der Pferde, ein falscher Griff an der Leine, und der Verdeckwagen mit seinen Insassen konnte den Damm hinunterrollen. Trotzdem hörte man eigentlich sehr selten davon. Es waren alles erprobte Kutscher und Fahrer, die den Wagen noch im letzten Augenblick haarscharf an der Kante zurückrissen. Am schlimmsten war es Sonntag nachts gewesen, wenn man vom Verwandtenbesuch aus der Kreisstadt zurückkehrte und in der rabenschwarzen Finsternis ein anderes Fuhrwerk, ebenso unbeleuchtet wie das eigene, auf dem für zwei Gefährte nur knapp zureichenden Dammweg entgegenkam. Helene hatte die kleinen Angstschreie ihrer Mutter, bis man glücklich aneinander vorüber war, noch wie heute in den Ohren. Sie selbst in ihrem Mädchenübermut hatte das ganze mehr als ein erwünschtes Abenteuer genommen, bei dem es ihr allerdings auch manchmal etwas heiß wurde.

So war es vor dreißig und vierzig Jahren gewesen. Jetzt war dieser Fahrweg gesperrt. Eine inzwischen vorgenommene Erhöhung der Deiche auf beiden Ufern des mächtigen, immer gefahrdrohenden Stroms hatte die Dammkrone um die Hälfte geschmälert und unfahrbar gemacht. Zum Überfluß standen in kurzen Zwischenräumen Schlagbäume, die der Fußgänger umgehen konnte. Kurzes struppiges Gras überwucherte den hartgetretenen Saumpfad.

Überwältigend war die Rundsicht von hier oben. In diesem mit dem Meeresspiegel gleichliegenden Tiefland sind die Gesetze der Perspektive andere als in höher gelegenen Landstrichen. Man sieht alles gleichsam von unten nach oben, scheint immer wie gegen einen höheren Horizont zu blicken. Da auch die kleinste natürliche Erhebung fehlt, so verfließt alles in einer unabsehbaren Ferne, die eigentlich als eine andere Art von Nähe wirkt. Man wird verstehen, daß eine solche Deichhöhe eine erhabene Aussicht über diese Niederungslandschaft gewähren muß.

Es war eine Symphonie in Grün, die die beiden Frauen zu ihren Füßen erblickten. Alle Schattierungen vom tiefen Dunkelgrün saftstrotzender Weizenfelder über das leicht abweichende Grün der Sommersaaten bis zum schimmligen Hellgrün des bereits in die Reife tretenden Roggens vereinigten sich zu einem einzigen Jubelgesang von der unerschöpflichen Fruchtbarkeit dieser beglückenden Mutter Erde. Gen Osten zog sich das breite Silberband des gewaltigen Stromes entlang. Ein paar weiße Segel zeigten noch weit unterhalb, wo nichts mehr von ihm zu sehen war, seinen Lauf zum Meere an. Gen Westen sank die Sonne des langen Mittsommertages, von Dunstschwaden blutrot marmoriert, auf silberblaue Höhenkämme hinab, um bald sich ihnen anzuvermählen. Rote Häusertupfen da und dort zerstreuter Dörfer schwammen in dem unabsehbaren Grün dieser Landschaft aus Gottes Hand. Der nadelspitze Kirchturm von Ellerndorf wies in einiger Entfernung wie ein erhobener Finger zum Himmel hinauf.

Die beiden Frauen atmeten beglückt die würzige Frische der Außendeichwiesen, auf denen schwarz- und weißgefleckte Kuhherden in großer Zahl weideten.

»Dies ist das Land unserer Vorfahren!« rief Ginevra und breitete ihre Arme gegen die im Abendwind sanft flutenden Weizenfelder aus. »Jetzt weiß ich, warum ich es schon immer geliebt habe, ohne es zu kennen! Jetzt weiß ich auch, warum ich meinem Drang habe folgen müssen und hergekommen bin! Und wenn hier wirklich keiner ist, der mich einmal nimmt, oder den ich nehme, was noch wahrscheinlicher ist, da ich ja doch nicht lieben kann, wie du immer behauptest, Mumpili ... In Gottesnamen! Dann etabliere ich mich auf eigene Faust und stampfe als Gutsbesitzerin in Wasserstiefeln auf meinem Acker herum. Ich bitte das als mein Zukunftsprogramm zu betrachten, Mumpili. Und ich will Tinte trinken, wenn ich es nicht durchführe!«


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