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Schon im ersten Teil dieser Erinnerungen ist mehrfach die Rede gewesen von dem politischen, kulturellen und geistigen Sonderleben, welches das Wittelsbachische Bayern, insbesondere natürlich Altbayern und mit ihm München, trotz aller Einheitsbestrebungen auch im Bismarckischen Reich für sich beanspruchte und im großen und ganzen auch behauptete. Bereits in meiner Münchner Studentenzeit, gegen Mitte der Achtzigerjahre, hatte ich die Macht des monarchischen Gedankens über das Altbayerntum beobachten können. Er hatte sogar den schweren Erschütterungen standgehalten, die in den letzten Jahren des geistesgestörten Königs das Land von Grund aus aufwühlten. Ja, schließlich hatte die Königskatastrophe, die den »Schuldenmacher«, den »Spinneten« in Kürze zum Märtyrer erhob und einen auch heute noch nicht erloschenen Ludwigskult schuf, eher noch zur Stärkung des monarchischen Gefühls beigetragen.
In dem nachfolgenden, sich über ein Vierteljahrhundert erstreckenden Prinzregentenzeitalter hatte dieses monarchische Prinzip, gerade weil man ihm die Zügel locker ließ und es nicht in starre höfische Formeln einzwängte, einen Gipfelpunkt erklommen. Nach dem Gesetz von Ebbe und Flut, das ja auch die Menschengeschicke beherrscht, rechneten Tieferblickende schon damals mit einem einmal unausbleiblichen Rückschlag. Alles hing hier von den zur Krone berufenen Persönlichkeiten, ebensosehr aber auch von der Unverrückbarkeit der allgemeinen politischen Zeitverhältnisse ab. In stillen friedlichen Zeitläuften, wie es jene Achtzigerjahre gewesen, werden auch Kronenträger vom Volke hingenommen, die ihm in der Tiefe des Herzens konträr sind. Verfinstert sich der politische Himmel und treten Stürme auf, so hängt alles davon ab, welch einen Schatz von Vertrauen das Königtum noch von früher her besitzt. Throne, deren Fundamente schon unterhöhlt sind, stürzen schnell. Man denke an das Schicksal Napoleons III. und Wilhelms II. oder des letzten russischen Zaren.
Die monarchische Idee des Altbayerntums wurzelt zutiefst in dem durch eine lange Geschlechterfolge überkommenen und weitergetragenen Gedanken des frühgeschichtlichen Stammesherzogtums, war also weit entfernt von den Grundsätzen des absolutistischen Königtums eines Ludwigs XIV. und jener geistesverwandten deutschen Kleinfürsten des achtzehnten Jahrhunderts; ja, sie stand sogar im erklärten Gegensatz hierzu, wenn auch die Umrisse der beiden geschichtlichen Gebilde mehr und mehr ineinandergeflossen waren. Der Stammesherzog: das war der ererbte oder erkorene Führer, um den sich die Gefolgsmannen zu kriegerischem oder friedlichem Tun zusammenscharten. Später erweiterte sich der Begriff, indem er von einer beschränkten Sippenzahl auf eine größere Gemeinschaft überging, blieb aber im Gefühl des Volkes noch fest verwurzelt und hat sich am längsten eben im Altbayerntum erhalten.
Der Ober- und Niederbayer wie der Oberpfälzer sah in seinem König zugleich seinen Stammesherzog, ohne sich dieses Begriffs gedanklich bewußt zu sein oder ihn in Worte kleiden zu können. Anders lag der Fall für die bayerischen Franken und Schwaben, die ja in der ursprünglich zwar pfälzischen, aber längst altbayrisch fühlenden Dynastie zu München nur eine Art von Ersatz für das eigene längst verlorengegangene Stammesherzogtum erblicken konnten. Diese durch Bevölkerungszahl und geistige Regsamkeit sehr ins Gewicht fallenden Teile des Königreichs galten denn auch in dynastischer Beziehung als nicht ganz taktfest. Man schrieb besonders den Nürnbergern geheime reichsstädtische Neigungen zu und hatte vielleicht nicht so unrecht damit. Um so fester lebte dafür in der Hauptstadt und in der altbayerischen Provinz, in diesen weiten, dünn bevölkerten Landstrichen zwischen dem Lech, der Donau, dem Böhmerwald und den Alpen, das Bewußtsein, daß im bayerischen Königtum zugleich das Wohl und Wehe des bayerischen Eigenlebens verkörpert sei und dieses mit jenem stehe und falle. Dynastie und Partikularismus (so schalten es die Gegner) waren im Gefühl des Volkes eins und ergänzten sich wie Deckel und Topf.
Wir wissen heute, daß alles dessen ungeachtet der Uhrzeiger der Geschichte auch in Bayern schon damals zu einem neuen Stundenschlag ansetzte. Den Zeitgenossen blieb es verborgen. Man gab sich in der Münchner Residenz wie in der Prannerstraße, wo Reichsrat und Landtag die bayrischen Belange vertraten, nach wie vor der festen Überzeugung hin, daß die bayrische Eigenstaatlichkeit allen von Norden kommenden Anfechtungen trotzen werde, und war jedenfalls entschlossen, sich mit Gut und Blut für sie einzusetzen. Sozialdemokraten wie Vollmar (man belegte sie in Berlin mit dem Spitznamen »königlich« bayrische Sozialdemokraten) dachten in diesem Punkt nicht viel anders als die Herren Daller und Orterer von der ehemaligen Patriotenpartei, die sich jetzt bayrisches Zentrum nannte und im Nachkriegsdeutschland als bayrische Volkspartei enden sollte.
Als anfangs der Neunzigerjahre Bismarck zum erstenmal nach seinem Sturz in München erschien und im Palast Lenbachs abstieg, wurde er von den Münchnern mit einem Jubel empfangen, wie er ihn selbst auf dem Höhepunkt seiner Macht vielleicht niemals erlebt hatte. Dieser Jubel trug durchaus demonstrativen Charakter. Er war nicht nur eine Huldigung, sollte nicht nur den Dank des Volkes für unsterbliche Verdienste zum Ausdruck bringen. Er bedeutete darüber hinaus noch einen leidenschaftlichen Protest gegen den jungen Kaiser, der Bismarck entlassen hatte und dem man geheime Absichten gegen die bayrische Selbständigkeit zuschrieb, während Bismarck als deren Verteidiger galt. War es nicht ein Witz von geradezu weltgeschichtlichem Ausmaß, wie hier in einem vollständigen Rollentausch der konsequente Verfechter der Reichsidee, der auf Tod und Leben mit dem eigenen König darum gerungen hatte, nun plötzlich zum Patronus Bavariae, zum gefeierten Schutzheiligen des bayrischen Partikularismus wurde? Der Alte vom Sachsenwalde, der so viele politische Kulissenwechsel erlebt und selbst in Szene gesetzt hatte, mag in seiner Einsiedelei nachmals noch oft ob dieses Musterbeispiels einer fehlgeleiteten und doch instinktiv richtigen Massenpsychose auf seine ingrimmige Weise gelacht haben.
Nicht sehr viel später sollte eine andere Episode zu einer ähnlichen paradoxen Wendung führen. Es war die Geschichte mit dem »sic volo, sic jubeo«, das der Kaiser anläßlich eines Staatsbesuches beim Prinzregenten in das Goldene Buch der Stadt München eingetragen hatte. Gewährsmänner haben nachträglich versichert, der Kaiser habe mit diesem Diktum nicht an die eigene Selbstherrlichkeit im Bayernlande gedacht, sondern im Gegenteil die des Prinzregenten damit hervorheben wollen. Es habe sich lediglich um einen Akt der Courtoisie gegen den alten Herrn, um eine Verbeugung vor Bayern und seiner Dynastie gehandelt. Nur schade, daß weder in Bayern noch im übrigen Deutschland ein Mensch daran glauben wollte. Und als nun noch die demokratische Presse ins Feuer blies und einen unerhörten Vorstoß absolutistischer Machtgelüste darin entdeckte, war des Geheuls und Gewimmers der Sturmglocken der öffentlichen Meinung kein Ende.
Wieder, wie so oft vorher und nachmals, hatte des Kaisers vielbeklagte Weltfremdheit und sein Mangel an Fingerspitzengefühl danebengegriffen und das Gegenteil von dem bewirkt, was er eigentlich wollte. Und mit jedem dieser unglückseligen Fehlgriffe und Mißverständnisse wuchs die Verärgerung allenthalben in Deutschland; wuchs in einem Maße, das in keinem Verhältnis zu dem jeweiligen Anlaß stand, gleichsam in geometrischer Progression, so daß Wohlmeinende sich schon damals fragten, zu welchem Ende das einmal führen solle.
Abgesehen von solchen äußerlich hereingetragenen Zwischenfällen herrschte noch immer leidliche politische Windstille innerhalb der weiß-blauen Grenzpfähle. Das Land hatte seinen gemessenen Anteil an der schnell zunehmenden Wirtschaftsblüte des Wilhelminischen Deutschlands und verharrte im übrigen in seiner politischen Abseitigkeit unter einem milden, ausgleichenden und volkstümlichen Altersregiment. Durfte man, wenn wirklich einmal mit wachsender Macht der Sozialdemokratie revolutionäre Erschütterungen in Berlin drohten, am wittelsbachischen Hofe nicht hoffen, daß sie an der alten dynastischen Mainlinie haltmachen und jedenfalls für das Königshaus keine Gefahr bedeuten würden?
Man bedachte dabei nur nicht, daß es nicht mehr das Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts war und alle die vielen künstlich aufgerichteten Sperren, Gitter und Schranken der Kleinstaaterei entweder nicht mehr bestanden oder vor einer plötzlich einsetzenden politischen Springflut unfehlbar zusammenbrechen mußten. Aber die Geschlechter der Sterblichen, die »flüchtigen Kinder der Stunde«, siedeln ja auch neben der kochenden Lava eines noch brüllenden und spuckenden Vulkans und fragen nicht nach dem morgigen Tag, wenn sie nur dieses kargen Heute sicher zu sein glauben. Konnte man von den Trägern einer aus dem Volke entsprossenen und durch viele Jahrhunderte befestigten Idee und ihrem legitimistischen Anhang erwarten, daß sie die Möglichkeit eines nahen Umsturzes aller dieser gewohnten, zu Fleisch und Blut gewordenen Vorstellungen in ihr geistiges Blickfeld aufnehmen würden? »Ich lieg' und besitze!« knurrte Fafner der Riese, des Hortes Hüter, und schnarchte weiter. Die letzte Weisheit so vieler Mächtigen und Besitzenden.
Die ersten Anzeichen der Morgenröte eines heraufziehenden neuen Tages, mochte er nun Glück oder Verderben bringen, machten sich auch in München, wie es nun einmal Gesetz zu sein scheint, gerade auf geistigem Gebiet bemerkbar. Von den heftigen weltanschaulichen Spannungen der damaligen jungen Generation, der ja auch ich angehörte, von ihrer auf neue künstlerische und soziale Ziele gerichteten revolutionären Gärung ist schon im ersten Teil dieser Erinnerungen »Scholle und Schicksal«, Geschichte meiner Jugend. öfter die Rede gewesen. In Michael Georg Conrads Wochen- und Monatsschrift »Die Gesellschaft«, die eine deutsche Erneuerung aus den Ideen Nietzsches und Wagners anstrebte, und in seiner »Gesellschaft für modernes Leben« hatte sie ihren frühesten Ausdruck gefunden. Der »Akademisch-dramatische Verein« war gefolgt. Hier wurden von nachstrebenden und geistesverwandten jungen Leuten die Frühwerke der jungen Dichter naturalistischer Schule ebenso wie die reife Ernte des Altmeisters Ibsen vor einem andächtig lauschenden geistigen Elite-Publikum zum erstenmal in München auf die Bretter gestellt.
Die Augenblickswirkung war groß, wenn auch nicht immer unbestritten. Aber entscheidend war der ungewöhnlich dauerhafte Nachhall dieser dramatischen Experimente. Die alte Propagandakraft des Theaters, die sich auch durch die dicksten geistigen Mauern und durch die verstopftesten Ohren Bahn bricht, kam wieder zur Geltung. Sie war im letzten Menschenalter fast verschüttet gewesen. Aber nun erklangen diese Trompeten wieder mit neuer Kraft und brachten die Mauern von Jericho, der Philisterburg, wie überall in Deutschland, so auch in München zu Fall. Es gehörten hier freilich extra starke und eindringliche Trompetentöne dazu. Denn die damaligen geistigen und politischen Machthaber Münchens konnten als besonders harthörig gelten und sorgten dafür, daß auch ihre Herde hübsch vor jedem frischen Luftzug bewahrt blieb.
Aber nun ging es Schlag auf Schlag vorwärts. In wenigen Jahren sollte das ganze Münchner Theaterleben, sollte sogar die Hochburg älterer, um nicht zu sagen veralteter Bühnenführung, der Musentempel am Max-Joseph-Platz – so empfanden wir Jüngeren ihn – ein anderes und neues Gesicht gewinnen. Bereits 1895 kam Emil Meßthaler, ein geborener Altbayer, mit seiner reisenden Truppe, die er »Modernes Theater« nannte, auch nach München und zeigte seinen Landsleuten einige der hauptsächlichen Erfolgsstücke der letzten Jahre. Es seien hier nur »Sodoms Ende« von Sudermann, Ibsens »Gespenster« und meine »Jugend« genannt. Diese Stücke waren bisher nur der kleinen, wenn auch erlesenen Anhängerschaft des »Akademisch-dramatischen Vereins« zu Gehör gebracht worden. Jetzt lernte sie auch ein Teil des größeren Publikums kennen. Ich glaube nicht zuviel zu sagen, wenn ich von einer außerordentlichen Wirkung auf dieses Publikum spreche. Im Grunde wiederholte sich hier nur, was sich schon vorher in den anderen von Meßthaler besuchten Großstädten zugetragen hatte. Aber mit München lag der Fall doch noch besonders. Es war die konservativste, für viele die rückständigste deutsche Großstadt, die hier erobert wurde. Der Sieg, weil kaum erwartet, fiel um so schwerer in die Waagschale.
Meßthaler spielte in der Westendhalle, in der Nähe des Karlsplatzes, die heute verschwunden ist. Seine Schauspieler waren von anständigem Mittelmaß, manche eher darunter. Es waren also gewiß nicht große schauspielerische Offenbarungen, die den Erfolg dieser Darbietungen machten. Die Wirkung lag in den Stücken selbst. Meßthaler gab dies auch offen zu. Er hatte Respekt vor dem dichterischen Wort und baute auf die Kraft des Zusammenspiels. Beides lag im Zuge der Zeit. Die Gottähnlichkeit des Regisseurs und des Schauspielers war noch nicht erfunden. Dieses Geschlecht befand sich erst im Heranwachsen.
Emil Meßthaler dürfte der jüngste Theaterdirektor jener Tage gewesen sein. Er zählte, als er im Frühjahr 1894 im Leipziger Kristallpalast mit seinem »Modernen Theater« zuerst vor die Öffentlichkeit trat, noch keine fünfundzwanzig Jahre. Von einnehmendem Äußeren, hatte er sich zuerst schauspielerisch im jugendlichen Helden- und Charakterfach versucht, aber wegen des ihm anhaftenden Landshuter Dialekts sich in dem sehr s-prachs-tolzen Hannover nicht durchzusetzen vermocht. Geschäftstüchtig wie er war, energisch, zielbewußt, kalt und berechnend, hatte er ohne Zögern umgesattelt und war Unternehmer, war Theaterdirektor geworden. Ein ererbtes kleines Vermögen gab ihm die Mittel dafür in die Hand. Er war entschlossen, es mit reichem Zins wieder aus dem Geschäft herauszuholen. Eine unbändige Leidenschaft des Verdienenwollens trieb den jungen Menschen an, hetzte ihn weiter und weiter. Wenn es den Begriff eiskalten Feuers gäbe, so hätte er auf Meßthalers Temperament und Charakter gepaßt. In diesem steinharten, rücksichtslosen Geschäftsmann glühte doch zuinnerst der Funke eines Künstlermenschen, wie auch ein Keim von Grübelei und Selbstzersetzung schon damals vorhanden war. Eine merkwürdige und ungewöhnliche Verbindung von sehr verschiedenartigen, im Grunde disharmonischen Elementen! Sie hat in folgerichtiger und tragischer Entwicklung die Tatkraft des seltsamen Mannes vor der Zeit lahmgelegt und ihn auf eben erreichter Lebenshöhe zu einem Ende in geistiger Umnachtung geführt.
In jener Zeit, von der ich hier erzähle, hätte ihm gewiß niemand einen solchen Ausgang prophezeit. Wer rein geschäftlich mit ihm zu tun hatte, sah wohl nur das Bild eines nüchternen und zynischen Rechners. Näherstehende fanden gerade wegen jener selten vorkommenden Verbindung von Geschäftsmann, Künstler und Melancholiker Vergnügen an seiner Gesellschaft. Auch ich habe zu denen gehört, die ihn näher kannten, tiefer in ihn hineinblickten, wohl schon damals den tragischen Untergrund einer zerklüfteten Seele ahnten. Meßthaler hat in meinem Leben und gegenüber meinem Werk eine schicksalhafte Rolle gespielt, indem er jahrelang mit meiner »Jugend« in Deutschland umherzog und zu einer Zeit, als noch fast alle großen Bühnen ihr verschlossen waren, das Seine dazu beitrug, sie in Deutschland volkstümlich zu machen. Deshalb erscheint es mir als eine menschliche Ehrenpflicht, für den vielverkannten, oft gewiß auch mit Recht angefeindeten Mann hier vor dem Richterstuhl der Nachwelt auch einmal ein anderes Zeugnis abzulegen, als es zu seinen Lebzeiten gang und gäbe war.
Aber nicht genug an Meßthalers Verbundenheit mit meinem eigenen Schicksal; weit darüber hinaus sollte der sonderbare Mensch eine entscheidende, noch bis heute nachwirkende Bedeutung für die Entwicklung des gesamten Münchner Theaterlebens gewinnen, wenn dies auch nur auf einem Umweg und ganz anders geschah, als es in Meßthalers Berechnungen lag. Gemeint ist die Gründung des »Deutschen Theaters« in München. Kein Zweifel, daß sie auf Meßthaler ganz persönlich, auf seine geschäftliche und – trotz allem! – auch seine künstlerische Unternehmungslust zurückzuführen ist. München – damals eine Stadt von etwa vierhunderttausend Einwohnern – besaß noch immer nur eine einzige ernst zu nehmende Schauspielbühne, das Hoftheater, und wie es mit diesem bestellt war, habe ich schon flüchtig angedeutet. In allen anderen deutschen Großstädten gleichen Ranges waren während der letzten Jahre des geschäftlichen, aber auch des literarischen Aufschwungs solche »zweiten Theater«, meist künstlerisch hochwertige Schauspielbühnen, entstanden. Wie oft war in unseren Kreisen über diese provinzielle Ausnahmestellung Münchens geklagt worden! Unter den zopfigen Perücken der städtischen, der staatlichen Machthaber und der höfischen Bühnengewaltigen wollte es nun einmal nicht Licht werden. Im Hoftheaterrestaurant und Café Luitpold, den damaligen Stammburgen unserer Runde, hatte Meßthaler gewiß oft an solchen Gesprächen teilgenommen. Aber erst der ungemeine Erfolg seiner Gastspielreisen brachte ihn auf die Idee, daß hier auch geschäftlich große Möglichkeiten bestanden.
Die Baugeschichte des »Deutschen Theaters« ist ein Kapitel für sich, und es ist nicht meine Aufgabe, sie zu schreiben. Als der gerissene Geschäftsmann, der er war, hatte Meßthaler ein ganzes höchst raffiniertes System von Verträgen mit Baufirmen, Lieferanten, Geschäftsleuten und einer Münchner Großbrauerei ausgeklügelt. Sie waren samt und sonders von dem einen Gedanken erfüllt, alles Risiko auf die anderen abzuwälzen, umgekehrt den Gewinn möglichst allein einzustreichen. Man kann dies moralisch anfechtbar finden. Nur war das Merkwürdige, wie es Meßthaler trotz aller Geschäftstüchtigkeit überhaupt gelingen konnte, mit Leuten, die doch auch nicht von gestern waren, derartige Abschlüsse unter Dach und Fach zu bringen. Der Rattenkönig von Prozessen, der daraus entsprießen sollte, hat denn auch den bayrischen Gerichten lange Jahre hindurch zu tun gegeben. Eine Anzahl von Existenzen wurde vernichtet, viel Schmutz und Unrat aufgewühlt, wie es nun einmal zum Krankheitsbild solcher gebärerischen Epochen (Gründerzeiten!) zu gehören scheint
Genug! Binnen Jahresfrist war der prunkvolle Bau vollendet. Es war die Zeit, in der Helmer und Fellner, die beiden Wiener Theaterarchitekten, und ihre Schule überall in Deutschland jene schmissigen, festlichen Bühnenhäuser im Stil einer neuen, überreichen Renaissance, nach dem Urbild des Deutschen Volkstheaters in Wien, bauten. Von solcher Art, nur in größeren, für eine Schauspielbühne allzugroßen Maßen, war auch das neue Haus in der Schwanthaler Straße in München. Am 26. September 1896 erstrahlte es zum erstenmal im feenhaften Glanz des damals noch jungen elektrischen Lichtes.
Das ganze offizielle, künstlerische und literarische München war versammelt und harrte der kommenden Dinge. Während der letzten Jahre war doch auch in das bislang so umfriedete Literatur- und Theaterleben Münchens soviel Neues und Unerhörtes eingedrungen, daß die Spannung groß war. Alle Welt betrachtete die Einweihung des Deutschen Theaters unter der Direktion Meßthalers gleichsam als die Inthronisation der »Moderne« in München. Aber es sollte anders kommen. Der Verlauf des Abends zeigte, daß Meßthaler höchstens vielleicht ein Johannes war, keinesfalls aber der erwartete Messias selbst.
Der neue Herr hatte, getreu dem Grundsatz des Goethischen Theaterdirektors, daß allen etwas bringen wird, wer vieles bringt, ein mehr als reichhaltiges Programm für den festlichen Abend entworfen. Den Anfang machte ein größerer Einakter »Die Sünde wider den heiligen Geist« von Julius Schaumberger. Ihm folgte mein Liebesdrama »Jugend« als Hauptstück des Abends. Es war gewissermaßen der Braten der Speisenfolge. Als Nachtisch wurde ein größeres Ballett »Nero« von Raida, einem damaligen Walzerkomponisten, serviert. Die Vielheit und Zwiespältigkeit dieser Genüsse verwirrte und ermüdete das Publikum (die Vorstellung endete erst lange nach Mitternacht) und offenbarte zugleich die mangelnde Eignung des neuen Hauses für das gesprochene Wort. Die Sätze verhallten in den offenen Logengängen und der allgemeinen Weiträumigkeit des Gebäudes. Glimpflich genug war es noch mit meiner »Jugend« gegangen. Die rein vom Gefühl und von der Stimmung getragenen ersten Szenen hatten zwar Mühe gehabt, sich in dem riesigen Haus zu behaupten. Dafür hatte der dramatische Fluß der zweiten Hälfte auch hier, wie überall, seine Wirkung getan, so daß es am Schluß zahlreiche Hervorrufe gab. Aber jedermann fühlte doch, daß es sozusagen ein »Ritt über den Bodensee« gewesen war. Schon vorher war Schaumbergers an sich schwacher Einakter an der allgemeinen Teilnahmslosigkeit des Publikums, das kaum die Hälfte der Worte verstand, gescheitert. Mit am besten hätte vielleicht das Ballett abgeschnitten, wäre es nicht zu so später Stunde und das Publikum schon ermüdet gewesen.
Alles in allem genommen, mußte man den Abend verlorengeben. Wie sehr er dies war, sollte sich bald genug herausstellen. Schon die nächsten Vorstellungen waren ungenügend besucht. Im Publikum hatte es sich schnell herumgesprochen, daß das Haus eine schlechte Akustik hatte. Man stieß sich auch an der Zwiespältigkeit des Programms: »Jugend« und »Nero«, Ballett und Schauspiel, gleichsam in einer Sauce; das ging den Leuten gegen den Strich. Es war ein ganz richtiges Gefühl. Man soll den Instinkt des Publikums nicht unterschätzen: der alte Fehler, in den selbst die gewiegtesten Leute vom Bau immer wieder verfallen. Nun rächte es sich, daß schon in der Urkonzeption des neuen Theaterbaus nicht eine einheitliche Idee, sondern zwei sehr verschiedenartige, ja einander entgegengesetzte Willensrichtungen wirksam gewesen waren. Man hatte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, hatte Ballsaal und Theater zusammenwerfen, hatte auf diese und auf jene Weise Geschäfte machen wollen. Die Folge war, daß vorerst überhaupt kein Geschäft ging. Denn die nächstliegende Folgerung zu ziehen und mit einem rücksichtslosen Entschluß das Theater als unnötigen Ballast über Bord zu werfen, um Ballsaal und Varieté daraus zu machen, das brachte selbst Meßthalers Geschäftsgeist nicht über sich. Es hätte das Fallenlassen aller seiner hochfliegenden künstlerischen Pläne in München bedeutet.
Aber das Verhängnis, einmal im Lauf, war nicht mehr aufzuhalten. Das Danaidenfaß eines schlechtgehenden Theaters ist selbst mit den Mitteln einer Großbrauerei nicht zu füllen. Nach bösen Streitereien mit den eigentlichen geschäftlichen Vätern des Unternehmens legte Meßthaler die Leitung des Theaters nieder. In finanzieller Hinsicht war er durch seine berühmten Verträge gesichert. Aber sein Ruf als Theatermann hatte schwere Einbuße erlitten. Er hat sich von diesem Sturz eigentlich nie mehr so recht erholt, die Flügel waren ihm gebrochen, wenn auch spätere geschäftliche und künstlerische Erfolge in Nürnberg ihn äußerlich wieder auf die Beine stellten. Andere Direktionen im »Deutschen Theater« folgten. Es war alles umsonst. Sie scheiterten trotz redlicher Bemühungen und tüchtiger schauspielerischer Kräfte. Ein einmal festgefahrenes Theater wieder flottzumachen, gehört zu den Sisyphusarbeiten.
Aber jetzt sollte es sich zeigen, daß der Geist der Entwicklung sich mit der Meßthalerschen Gründung nur eines Umweges bedient hatte, um zu seinem Ziel zu gelangen. Der bisherige Träger des Gedankens hatte sich als unbrauchbar erwiesen, er mußte fallen. Der Gedanke selbst lebte fort, sollte sogar noch ein zweites Mal neu aus der Asche erstehen. Als das Deutsche Theater seine Pforten schloß und der letzte Direktor – es war Emil Drach und er war der vergötterte Held des Hoftheaters gewesen – mit seiner Truppe obdachlos auf der Straße lag, fand sich, eigentlich zum Erstaunen aller, die München kannten, ein reicher und kunstfreudiger Gönner, dem der Gedanke unerträglich schien, daß der in das Münchner Erdreich gepflanzte Keim fruchtlos verdorren solle. Wieder einmal bewährte sich die Macht einer innerlich gesunden und lebensfähigen Idee. Unaufhaltsam bricht sie sich durch alle Hindernisse, durch Schutt und Geröll, Bahn zum Licht.
In den Zentralsälen ganz zu oberst, man hatte fast hundert Treppenstufen zu ersteigen, wurde das »Münchener Schauspielhaus« eröffnet. Es war im Spätherbst 1897, gerade ein Jahr nach dem unglücklichen Debüt des »Deutschen Theaters«. Sein erster Direktor wurde der eben genannte Emil Drach. Der hochherzige Geldgeber und Mäzen war Cajetan Schmederer, einer der Mitbesitzer der Zacherl- und heutigen Paulanerbrauerei. Es geziemt sich, diesen Namen hier für die Nachwelt festzuhalten. Denn wenn dem wackeren, anspruchslosen Mann seine Mittel es auch erlauben mochten, so war sein Verdienst darum nicht geringer. Es war doch etwas Neues für München, daß jemand von den großen Brauerfamilien mit seinem Überfluß auch einmal Theater und Literatur bedachte. Die Münchner Bierkönige hatten bis dahin in dieser Hinsicht sich weitestgehende Zurückhaltung auferlegt. Niemand konnte ihnen den Vorwurf machen, daß sie sich unbescheiden vorgedrängt hätten. Cajetan Schmederer durchbrach die alte Übung. Er hat dem Münchener Schauspielhaus, dem allen wie dem an der jetzigen Stätte stehenden neuen, in guten und in schlimmen Tagen die Treue gehalten bis an sein Ende.
Auch Drachs Direktion war nicht von langer Dauer. Schon 1898 zwang ihn geistige Erkrankung, deren Anzeichen man seit längerem beobachtete, zum Rücktritt. Neue Gefahr für das junge Pflänzchen drohte. Wo war der Gärtner, kundig genug, es in Pflege zu nehmen und großzuziehen? In diesem Augenblick trat, für die Öffentlichkeit überraschend, wohl auch mehr den Umständen gehorchend als dem eigenen Wunsch, ein Mann in den Vordergrund, der sich bisher, nur den Eingeweihten bekannt, im Dunkeln gehalten hatte.
J. G. Stollberg stammte aus Wien, war in kleinen jüdischen Verhältnissen aufgewachsen und früh unter das fahrende Volk geraten. Seine Laufbahn hatte ihn in buntem Wechsel von Schmieren und Wanderbühnen, von kleinen und größeren Stadttheatern über Breslau und Wien nach Berlin geführt, wo er 1891 als Regisseur der von Wille gegründeten »Neuen Freien Volksbühne« die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. In dieser Eigenschaft hatte ich ihn kennengelernt. Er war es, der im Februar 1892 meinen Bühnenerstling »Eisgang« inszeniert und aus der Taufe gehoben hatte. Wir hatten uns, wie es bei solchen Theaterproben – und es waren ja meine ersten – zu gehen pflegt, »geschlagen und vertragen«; er verstand sein Handwerk wie wenige. Ich hatte allerlei von ihm gelernt, verdankte ihm diese und jene Anregung. Als Regisseur des »Neuen Theaters« am Schiffbauerdamm, das im Winter 1892/93 Lust gezeigt hatte, das Experiment der Uraufführung meiner »Jugend« zu machen, wäre er beinahe, einige Monate vor Lautenburg, der Entdecker der »Jugend« und damit für das größere Publikum auch der meinige geworden.
Das Schicksal hatte es anders bestimmt. Das Theater verkrachte, ehe es dazu kam. Dafür hatte er als Direktor einer Sommerbühne im klassischen, damals noch allzu klassischen Weimar meine »Jugend« als einer der ersten Theaterleiter nach dem Berliner Erfolg gespielt und von einer oberen Landesbehörde bescheinigt erhalten, daß er mit meinem Stück das Kurtheater in Bad Berka entweiht und geschändet habe. Er war dann als Regisseur ans »Deutsche Theater« gegangen, hatte sich in dessen strenger naturalistischer Schule den letzten »Schliff« angeeignet und war seit dem Herbst 1895 in München bei Meßthaler als dessen Oberregisseur für das kommende »Deutsche Theater« gelandet. Die künstlerisch gelungenen und allgemein gelobten Aufführungen des »Deutschen Theaters« unter Meßthaler und seinen Nachfolgern waren im ganzen sein Werk gewesen. An den geschäftlichen Nöten seiner verschiedenen Direktoren hatte er keinen Anteil gehabt; er war in dieser Hinsicht ein unbeschriebenes Blatt. Nach einigem Zögern entschloß sich Schmederer, das Wohl und Wehe der neuen dramatischen Pflanzstätte in die Hand des bisherigen Oberregisseurs zu legen.
Ich habe der Entstehungsgeschichte des »Deutschen Theaters« und des Schauspielhauses hier aus mehreren Gründen einen größeren Platz eingeräumt. Einmal weil es mir scheinen will, daß diese Entstehungsgeschichte einer noch heute existierenden angesehenen literarischen Bühne – des Münchner Schauspielhauses in Verbindung mit den Münchner Kammerspielen – symptomatisch ist für die Entwicklung des modernen Theatergedankens überhaupt in Deutschland, also allgemeine sinnbildliche Bedeutung besitzt. Denn abgesehen von den soviel größeren Berliner Verhältnissen spiegelt sich doch seit mehr als vierzig Jahren der Verlauf der literarischen Entwicklung in keiner anderen deutschen Stadt so klar und sinnfällig ab wie in München. Was hier geschah, trug sich auf ähnliche Weise überall zu, wo von einer geistigen Bewegung die Rede sein konnte. Das eine Beispiel gelte daher für alle.
Der andere Grund ist von persönlicher Art. Das Münchner Schauspielhaus ist zwei Jahrzehnte hindurch, von 1898 bis 1919, sozusagen mein »Haustheater« gewesen, wie man es genannt hat: diejenige Bühne, in der, mit einigen Ausnahmen, fast alle meine dramatischen Arbeiten aus dieser Lebensperiode entweder zur Uraufführung gelangt oder wenigstens nachher in den Spielplan übergegangen sind. Von den Ausnahmen seien hier nur zwei genannt: »Das wahre Gesicht« und »Der Ring des Gauklers«. Sie stellten technisch und stofflich zu hohe Ansprüche an die damals noch kleinere Bühne des Schauspielhauses und paßten besser in den Rahmen des Hoftheaters. »Das tausendjährige Reich« und »Haus Rosenhagen« wurden ebenfalls zuerst im Hoftheater gegeben, siedelten aber später ins Schauspielhaus über. Ebenso »Mutter Erde«. Die Haupterfolgsstücke dieses Lebensabschnittes und meiner Laufbahn überhaupt, »Jugend« und »Strom«, wurden zugleich auch Haupterfolge des Schauspielhauses. »Jugend« ist dort über dreihundertmal gespielt worden. Ein Rekord der Münchner Theatergeschichte! Mußte nicht eine Art von Schicksalsverbundenheit daraus werden? Und war es nicht schon ein glückverheißendes Omen, daß auch die neue Gründung, ebenso wie einst die Meßthalersche, ihre Tätigkeit mit der Wiederaufnahme und Neueinstudierung der »Jugend« begann?
Ein Schauspieler und eine Schauspielerin traten damit in den Brennpunkt des Publikumsinteresses, deren Namen hier nicht unerwähnt bleiben dürfen, da ihre Wirkung über die sonst übliche weit ins Allgemeine hinausgriff und für eine Vielheit von Theaterbesuchern schließlich durchaus zu einem menschlichen Erlebnis wurde. Diese beiden ungewöhnlichen, wenn auch in ihren Fachmitteln begrenzten Menschendarsteller waren Siegfried Raabe, der den »Pfarrer Hoppe« in München und anderwärts einige hundertmal gespielt hat, und Centa Bré, eines der lebensvollsten, hinreißendsten »Annchen« unter den Tausenden, die mit dieser Rolle das Herz des Publikums gewonnen haben. Siegfried Raabe war nächster Landsmann von mir, war Danziger und besaß dadurch nicht nur in seelisch-geistiger Beziehung ein allerengstes Verhältnis zu meinen Sachen, sondern brachte auch persönlich von vornherein die ganze heimatliche Atmosphäre mit, aus der den Gestalten der »Jugend« wie auch nachher der »Mutter Erde«, des »Stroms« und von »Haus Rosenhagen« der eigentliche Lebensatem zuströmt. Seine letzte schauspielerische Station vor München, nach so manchen vorangegangenen, war das Hoftheater in Altenburg gewesen. Es war die Laufbahn eines tüchtigen, keinesfalls eines besonderen Schauspielers. Bereits in mittleren Jahren stehend, hatte er auch keine großen Aussichten im Leben mehr. Das Theater braucht Jugend, lebt von Jugend, so denken die Direktoren, und ebenso denkt das Publikum. Ältere Schauspieler sind im Sinne der Direktoren meist nur ein notwendiges Übel. Als Siegfried Raabe ausgerechnet von Altenburg nach München geholt wurde, konnte man wohl von einem seltenen Glücksfall sprechen. Daß es schließlich ein Haupttreffer wurde, hat sicher auch Raabe selbst, der glückliche Gewinner, damals nicht ahnen können.
Raabes Pfarrer Hoppe wird schwerlich wieder seinesgleichen haben. Ich habe viele treffliche Hoppes gesehen; die Rolle ist ja wohl nicht umzubringen. Der eine mag stärker im Ton, der andere jovialer, ein dritter gewissermaßen »geistlicher« gewesen sein: in der Verbindung aller dieser Eigenschaften zu einer durchaus einmaligen Wesenheit, in der Harmonie von Schlichtheit, Menschlichkeit, Güte, Frohsinn, Lebenserfahrung, Zornmütigkeit und wiederum Duldsamkeit und Nachsicht, glaube ich, wird Raabe nicht leicht wieder zu erreichen oder gar zu übertreffen sein. Hier stand ein einfacher Landpfarrer vor uns, der zugleich ein Weltmensch und ein Weiser, ein alter Student und ein frommer Priester und, mitten in einer polnischen Umwelt, ein deutschfühlender Mann war. Dazu bediente sich Raabe des heimatlichen Idioms nur mit äußerster Sparsamkeit, eigentlich nur gerade soweit, als es seiner Tonlage nun einmal anhaftete und nicht von ihr zu trennen war. Denn meine Stücke – und dies geht meine verehrlichen Landsleute in der Schauspielerwelt an – vertragen keine ausgesprochene Dialektfärbung, weder eine ostpreußische noch eine Danzigerische, wie ich sie von übereifrigen Naturalisten, nicht ohne geheimen Friesel, öfters habe anhören müssen.
Ich sage, sie vertragen sie nicht, weil ein solcher überbetonter Dialekt gegen ihre Melodie verstößt, die alle meine Stücke als ein geheimer Klang durchzieht. Wer sie spielen will, also nicht nur der Regisseur – er freilich in erster Linie –, sondern auch der Darsteller, muß zuvorderst diesen Klang, diesen Rhythmus, diese Melodie, wie man es nun nennen will, im Ohr haben und sich ihrer immer bewußt bleiben. Aber gerade hieran fehlt es so oft; und doch ist es eine der Vorbedingungen überhaupt, die man an eine den Dichter verstehenwollende Regie zu stellen hat. Denn jeder ernstzunehmende dramatische Dichter, also nicht etwa nur meine Wenigkeit, hat sein ganz bestimmtes musikalisches Vorzeichen, gleichsam seinen musikalischen Schlüssel, nach dem die Sätze sich gliedern, der Tonfall auf und ab steigt, der Rhythmus sich hebt und senkt.
Diese geheime dichterische Musik – gewissermaßen ein zweites Ich, worin sich erst das wahre Gesicht enthüllt – ist für jeden Dichter von einigem Belang eine andere, ist also ganz und gar einmalig und unnachahmlich, so daß Original und Kopie nirgendwo leichter zu unterscheiden sind als auf dem Gebiet der Dichtung. Es gibt soviele dramatische Tonarten und Geheimschlüssel, wie es dramatische Dichter besonderen Geblütes gibt. Ihre Zahl, für die gesamte dramatische Literatur berechnet, wird immerhin einige Dutzend betragen, also etwa soviel, wie es Völkersprachen um das Kaspische Meer herum gibt. Hierin liegt offenbar die Schwierigkeit des ganzen Problems, denn so wenig wie man von einem üblichen Philologen verlangen kann, daß er gleich mehrere Dutzend Sprachen beherrscht, kann man dem landläufigen Spielleiter zumuten, daß er ein paar Dutzend sehr verschiedenartiger dichterisch-dramatisch- musikalischer Geheimschlüssel im Kopf und im Ohr hat. Gewöhnlich sind es nur drei oder vier, die er vollständig beherrscht. Vor vierzig und dreißig Jahren waren es Ibsen und Hauptmann, vor zwanzig Jahren Strindberg und Wedekind. Meine Sprache, insbesondere die meiner mittleren und späteren Periode, ist für die meisten Bühnenexperten etwa das gleiche wie Baskisch für die Philologen gewesen.
Eine rühmliche Ausnahme, wie gesagt, war das Münchner Schauspielhaus. Meine langjährige künstlerische Verbindung mit ihm war natürlich nicht, wie man es vielfach ausgelegt hat, eine Folge enger persönlicher Beziehungen, dann hätte sie nicht auch Mißerfolge überdauern können, die wahrlich nicht ausgeblieben sind. Sie kam vielmehr daher, daß die Direktion dieser Bühne und in der Folge mehr oder minder auch ihre Leute eben diesen dichterischen Rhythmus, diese mir eigene dramatische Melodie richtig erfaßt hatten und allmählich ganz virtuos damit umzugehen verstanden: so ähnlich, wie es im Berliner Deutschen Theater mit Hauptmann und Ibsen der Fall war. Leistungen wie Raabes schon beschriebener Pfarrer Hoppe oder sein pfiffig-dreister Laskowski in »Mutter Erde«, sein verschlagener Agent in »Haus Rosenhagen«, sein unvergeßlicher Ohm Reinhold im »Strom« waren vorbildlich und in ihrer Art einmalig.
Das gleiche gilt von dem Annchen der Centa Bré. Ich erwähnte sie schon kurz. Als ich »Jugend« schrieb, bildete ich mir ein, diese Figur mit so individuellen Zügen ausgestattet zu haben, daß eigentlich nur eine einzige Auffassung und Wiedergabe davon möglich wäre. Zum Glück war es anders. Ich habe sehr verschiedenartige Auffassungen und Darstellungen des Annchens gesehen. Die eine Vertreterin brachte mehr das Weiche, Slawische heraus. Die andere zeigte mehr ein herbes norddeutsches Temperament, und es ging auch. Eine dritte wieder bevorzugte das Heitere, Sonnige. Man konnte dies die süddeutsche Version nennen. Die vierte betonte die tragische Note stärker; ihr gelangen die Schlußszenen besser, jener besser die Liebesszenen mit Hans. Es war also eine reiche Skala von Möglichkeiten. Hätte es nur die eine gegeben, wie ich mir in meiner anfängerhaften Dummheit vorstellte, so wäre das Stück längst dem Orkus anheimgefallen.
Centa Brés Annchen war in hohem Maße das, was ich das süddeutsche Annchen genannt habe. Was Wunder auch, da sie ja eine geborene Münchnerin und im Leben ein ebenso lieber Kerl war wie auf der Bühne. Sie erfüllte das altväterische Zimmer des Pfarrhauses mit einem beglückenden Sonnenschein. Ihre Frische, ihre Heiterkeit und Schalkhaftigkeit nahmen sofort alle Herzen gefangen. Ich habe selten jemand so hinreißend lachen hören. Und als es dann ernst und tragisch wurde, wie rührend wußte sie zu büßen und zu sterben! Bald vierzig Jahre sind seitdem verflossen, aber denen, die sie sahen, haftet der Klang ihrer Stimme, das Brio ihres Temperaments bis heute. Ihres Bleibens in München war leider nicht allzu lange. Sie ging schon 1900 ans Thalia-Theater nach Hamburg. Keine von denen, die nach ihr im Schauspielhaus kamen, hat sie erreicht.
Auch im Hoftheater hatten die letzten Jahre einen gelinden Umschwung gebracht. Es ging zwar noch langsam, aber man kam doch allgemach vorwärts. Die königlichen Bühnen, Oper und Schauspiel, unterstanden seit dem Rücktritt Perfalls der Leitung Ernst von Possarts. Auf den höfischen Generalintendanten war ein bürgerlicher, auf den vornehmen Dilettanten ein Mann vom Bau, ein Fachmann, ein Schauspieler – noch dazu Münchens berühmtester – gefolgt. War nicht schon dies ein Zeichen der Zeit? Possart war einige Jahre, fern von München, auf Gastspielreisen gewesen. Dann hatte es ihn doch wieder zurückgezogen nach der Stadt seiner alten Triumphe, der unvergessenen. Aber sein früheres Tätigkeitsfeld genügte ihm jetzt nicht mehr. Der rastlos tätige, ehrgeizige Mann wollte weiter hinaus, wollte höher hinauf. Der Beifallsjubel der Menge tat wohl, aber besser, greifbarer waren doch Macht und Einfluß, Titel und Orden. Und mußte man denn jenes lassen, um dieses zu besitzen? Ließ sich nicht auf kluge Weise beides verbinden? So wurde Münchens berühmter Shylock zugleich der allgewaltige Chef des Hoftheaters: eben desselben, das ihn vor einem Menschenalter als jungen Anfänger hatte antreten lassen. Mußten nicht auch die Feinde – und er hatte ihrer viele – zugeben, daß es eine märchenhafte Laufbahn war?
Aber er befand sich damit noch nicht am Ende. Sein Ehrgeiz verlangte mehr. Er wollte der Reformator der Münchner Opernbühne, ja von hier ausgehend der deutschen Operninszenierung überhaupt, wollte der Wiederentdecker Mozarts werden. Behauptet man zuviel, wenn man sagt, daß er sein Ziel erreicht hat? Legen nicht auf der einen Seite die bereits ein Menschenalter währende Mozartrenaissance und ihre weltbekannte Gestaltgebung, die Münchner Mozartfestspiele, legt nicht andererseits das Münchner Prinzregententheater, Bayreuths berühmte Wettbewerbstätte, Zeugnis ab für den zweckbewußten und durchgreifenden Gestaltungswillen des ungewöhnlichen, wenn auch komödiantischen Mannes? Die Mittel und Wege und oft auch die Menschen, deren sich die Vorsehung bedient, um zum Ziel zu gelangen, sind manchmal seltsam oder auch närrisch, fordern zum Widerspruch oder zum Lächeln heraus. Aber es sind doch nur Arabesken, deren Geklingel verhallt, wenn das vollendete Werk selbst seine Glocken läutet und seinen Meister lobt.
Indes so die Oper voranschritt, blieb das Schauspiel zurück. Schon klagten nicht wenige, daß der Schauspieler Possart gerade das Schauspiel vernachlässige und als Stiefkind behandle. Es konnte auch nicht ausbleiben, daß viele Stimmen im Publikum auf das neugegründete Deutsche Theater und das ihm nachfolgende Schauspielhaus verwiesen und dessen Bemühungen um die moderne Dramatik mit denen des Hoftheaters verglichen, was für dieses nicht gerade schmeichelhaft ausfiel. Possart hatte in Dingen der öffentlichen Meinung sehr feine Ohren; Presse und Publikum waren immer seine Richtschnur gewesen. Ein nicht geringer Teil seines Lebenserfolges konnte auf dieses Konto geschrieben werden. Der gewiegte Theatermann hatte nie versäumt, auf seinen vielen Gastspielreisen bei den Redaktionen der maßgebenden Blätter anzutreten und um geneigtes Wohlwollen zu bitten. Wollte man dem berühmten Mann einen so bescheidenen Wunsch abschlagen? Welche Redaktion wäre hartherzig genug dazu gewesen?
Possart konnte also die Stimmung des Publikums nicht lange verborgen bleiben. Es mußte unbedingt etwas geschehen. Nur durfte man auch nichts übereilen. Ohne Zweifel waren seitens des Hofes wie seitens des Landtages und der hinter ihm stehenden Mehrheit, die wiederum auf die Regierung abfärbte, keine geringen Widerstände zu überwinden, wie zu Possarts Rechtfertigung gesagt werden muß. Sudermann war schon seit längerer Zeit hoftheaterfähig. Der junge hochbegabte Lützenkirchen glänzte als Röcknitz im »Glück im Winkel«. Aber Sudermann gehörte ja auch nicht zum Kreise der eigentlichen »Moderne«. Er war in dieser Beziehung unbemakelt. Die hohen Herren vom Landtag und die Prinzessinnen ließen ihn passieren, wenn auch im stillen vielleicht manches gegen den »revolutionären Geist« seiner Stücke zu sagen war. Sie waren immerhin salonfähig. Anders schon stand es mit Hauptmann. Der Dichter der »Weber« konnte unmöglich auf viel Liebe bei den Maßgebenden rechnen. Aber sein Name strahlte doch bereits so hell, daß man ihn nicht mehr übersehen konnte. Sein »Hannele« öffnete ihm nun endlich die Pforten des Hoftheaters. Wenn man die damalige Münchner Atmosphäre in Betracht zieht, so war es ein kühner Entschluß von der Intendanz. Die schöne, rührende Dichtung, von Max Marschalk, Hauptmanns Schwager, musikalisch umrahmt, gefiel sehr und half den Weg ebnen für den Durchbruch des Neuen.
Und nun war ich an der Reihe, wenn auch noch Jahre bis dahin vergingen. Wie manchesmal war ich in der Maximilianstraße an dem mächtigen Bau des Hof- und Nationaltheaters vorübergegangen und hatte mir gedacht, ob wohl noch einmal der Augenblick kommen werde, wo auch ich mit meinen Stücken Einzug halten würde in das altehrwürdige Haus. Hier war einst Hebbel, der Leitstern meiner Jünglingsjahre, mit seiner »Agnes Bernauer« vor das Münchner Publikum getreten und von Dingelstedt, dem damaligen Hoftheaterintendanten, gebührend gefeiert worden. Hier war Wagners aufsteigende Bahn vor allem Volk sichtbar geworden. Die zaubervollen Akkorde des Tristan und der Meistersinger waren in diesen heiligen Hallen zum erstenmal erklungen. Der Geist hoher Ahnen umschwebte diese Stätte. Wann würde wohl meine Stunde schlagen?
Und dann kam sie, vielleicht nicht unverhofft und doch im Augenblick überraschend. Possart nahm meine »Mutter Erde« für das Hoftheater an. Es war nun doch die Folge der glückhaften Premiere im Berliner »Deutschen Theater«. Eine Anzahl von großen Bühnen, darunter das wagemutige und fortschrittliche Dresdener Hoftheater unter dem Grafen Seebach, hatte das Stück gleich nach Berlin erworben. Nur in München wollte man nicht so recht an den Berliner Erfolg glauben. Meine Münchner »Freunde« und Neider, deren es genug gab, verbreiteten die Mär, es sei in Berlin eigentlich ein Durchfall, höchstens ein Achtungserfolg gewesen. Aber die Wahrheit drang doch allmählich durch. Wie hätte man auch annehmen können, daß ein Stück durchgefallen sei, das es innerhalb weniger Wochen auf über fünfundzwanzig Aufführungen gebracht hatte! Am 1. Februar 1898 war die Premiere von »Mutter Erde« im Königlichen Residenztheater. Die jungen modernen Kräfte des Hofschauspiels, Lützenkirchen, Basil, Rémond, die Dandler, erstritten mir mit der bewährten alten Garde, der Heese, der wundervoll echten Dahn-Hausmann, einen schönen und ungetrübten Erfolg. Possart gratulierte mir allerhöchstpersönlich dazu. Kaum dreiviertel Jahre später, am 29. Oktober 1898, halte ich im Berliner Lessingtheater mit einer neuen Arbeit, dem »Eroberer«, die schwerste Niederlage meines Lebens. Wieder – nicht zum ersten- und nicht zum letztenmal – offenbarte sich die merkwürdige Zickzacklinie meines Schicksals. Nachdem ich jahrelang »die große Hoffnung« der Zeitungen gewesen war, wurde ich mit einem Schlage ihre große Enttäuschung und sollte diesen Stempel nicht so bald los werden.