Robert Hamerling
Der König von Sion
Robert Hamerling

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Zehnter Gesang.

Die Sühne.

                    Als nach enteilenden Wochen aus Träumen des Fiebers der König
Wieder erhob sein Haupt und auf sich selber sich langsam
Wieder besann, da genas mit dem wiedergenesenden Leib' ihm
Auch die geläuterte Seele. Beschwichtigt ist wie durch ein Wunder
Jetzo der Sturm, der das Herz ihm erregte zu wogendem Aufruhr,
Müd' in sich selber erloschen der wilden Gewalten Empörung.
Still auf Vergangenes blickt er, und ruhig gedenkt er der Zukunft.
Daß sein trotzig Verzagen ihn führte zu wilden Entschlüssen,
Daß sein besseres Ich er verläugnet – für einen Moment sich
Schmählich ergeben dem Dämon, der Sions Blüte verwüstet,
Tief empfindet er's nun. Im Ohr ihm summt es und klingt es:
»Groß ist die Zeit und gewaltig, doch wehe, wenn unsere Herzen
Rein nicht sind« – »Nicht waren sie rein«, so sinnt er; »erkaltend
Sind sie zum Raube geworden der Selbstsucht und der Genußgier:
So war eitel die Müh'! – Doch der ärgste der Sünder in Sion
War ich selber;
denn ich war stolz: hoch über dem Schwarme
Meint' ich zu ragen, vertraute mir selbst, zum Richter berufen
Wähnt' ich mich kühn: doch ein Urtheil spricht kein sterblicher Richter,
Welcher in sich nicht heimlich den Keim einer größeren Schuld trägt,
Als die ist, die er richtet . . . Und so, als ich stolz nach dem Richtschwert
Griff, um zu rächen, zu strafen, da fühlt' ich vom Rausch der Verderbniß
Bebend mich selber erfaßt. Die Verderbniß trägt, nun erfuhr ich's,
Selber der Edle zutiefst im Blut, wie die Keime der Krankheit
Und wie den Tod . . .
                                  So haben wir denn uns selber gerichtet! –
Ewig ein Kind ist das Volk, und der Führer geschwätzige Weisheit
Ist nur eitles Gestammel, unsicheres Tappen und Tasten!
Blinden geziemt nicht Hast! – Entschieden nun seh' ich das Schicksal
Sions, entschieden das Loos auch der vorwärts drängenden Mitwelt.
Dein ist die Welt, o Luther! der feurige Meister von Harlem
Kam zu frühe. So wird denn weiter sich tasten die Menschheit,
Kühl und nüchtern; und nicht auf Schwingen der heil'gen Begeist'rung
Wird sie fliegen zum Ziel. In die Bande, die alten, sich schmiegen
Wird sie vorerst: auf den Thronen wird nach wie vor die gekrönte
Thorheit sitzen, und nach wie vor auf seidenen Pfühlen
Schwelgen die sündige Schmach, und nach wie vor auf dem faulen
Stroh hinschmachten die Tugend . . .
                                                          Und doch – ein Schritt ist geschehen
Näher dem Ziel, und das Ziel, es ward, ob schmählich verfehlt auch,
Doch mit dem Finger gewiesen – bezeichnet vom Finger des Schwärmers!
Mag ein spät'res Geschlecht bergan auf's Neue den Felsblock
Schieben, und unser gedenken, so oft er auf's Neue hinabrollt
Bei der Dämonen Gekicher, und nur noch tiefer den Abgrund
Wühlt, d'raus Mühsal keuchend von Neuem ihn ewig emporwälzt! –

Aber es mag sich mit Sions Geschick nun erfüllen das meine!
Was um mich sich ereignet, mir soll's fortan wie ein Märchen
Sein, das in Büchern ich lese gelangweilt, oder ein Schauspiel,
Das, auch wenn es mich fesselt, mich nicht mehr schreckt wie Erlebtes.
Seltsam ist mir zu Muth – ja, heiter beinahe; des Lebens
Hoffnungen sind, wie die Qualen des wildaufregenden Bangens,
In mir erloschen: gefaßt auf die eig'nen Verwirrungen blick' ich
Wie auf die fremden zurück: ich weiß ja, daß ich sie sühne . . .
Wie am Rande des Kraters, der jüngst noch Feuer gespieen,
Sacht aufsprießen die Blumen, so wachsen mir aus des verkohlten
Herzens Asche die Blüten der ruhigen sanften Betrachtung . . .
Glüh'n auch Funken vielleicht noch unter der ruhenden Asche?
Ruh' ist in meinem Gemüth: ist's Ruhe der sühnenden, holden
Nähe des Tod's? ist's dumpf hinbrütende, tückische Ruhe,
Die unheimlich in mir noch dem letzten der Stürme vorangeht?« –

So sprach sinnend zu sich der in Schmerzen geläuterte Jüngling.
Aber es trafen indeß in den Hallen des Königspalastes
Lips zusammen, der Narr, und der Alchymist, der gelehrte,
Der da fernher gekommen, zu dienen dem König von Sion.
Und den Geschäftigen fragte der Narr, was den Schritt ihm beflügle?
»Laß mich!« entgegnete Jener; »gelungen ist heut mir die Mischung
Trefflich: es glänzt das gedieg'ne Metall mir im Tiegel, wie Meersand,
Und nun eil' ich zum König, den goldenen Schatz ihm zu zeigen« . . .
»Freund!« entgegnete Lips »nach Brot schreit Sion, verhungernd,
Und du stellst einen Tiegel mit Gold, staubtrocken, und steinhart,
Uns auf den Tisch? Nun, freilich, die Zähne gewöhnen zuletzt sich
Auch wol an goldene Kost; schon übt an gesottenem Schuhwerk
Sich, an gestossenem Glas, Sägspänen, geriebenen Ziegeln,
Mancher dahier in Sion. Wie schad ist's, daß wir die Bücher
Alle verbrannt, da man jetzt schmackhaft zu bereiten gelernt hat
Selbst Schweinsledergebinde, die zähesten Deckel und Schwarten.
Ja, es gäbe nun Mancher bereits sein hübschestes Weibchen
Für ein Linsengericht in Münster. Ich selbst, ich besitze
Drei gar niedliche Schätzchen, die Rike, die Fike, die Mike,
Die man nach Landesgebrauch mir vermält, seitdem mir die Alte –
Ruhe sie sanft! – wegstarb: das beleibteste Frauengebilde
Sions war sie, doch seit man die Bissen so mager uns zuschnitt,
Welkte sie hin: auch fraß ihr heimlich die Leber der Unmuth.
Nun, Gott habe sie selig! – die Rike, die Fike, die Mike,
Sind, wie gesagt, mir jetzo vermält, nachdem sie dahin schied –
Denn, wär's früher gescheh'n, so stünd' ich nimmer lebendig
Hier in des Königs Palast – Nun sag' ich: gar liebliche Kinder
Sind sie, die drei; und doch, bei Gott, schon gäb' ich die Rike
Für ein saftiges Stück einheimischen Schinkens; die Fike
Für einen Schluck Torgauergebräu; und böte mir Einer
Jetzt mein Lieblingsgericht, Kuheuter in Brühe mit Ingwer,
Gäb' ich vielleicht auch die Mike dahin, die behäbige Blonde,
Deren Gesicht und Äuglein erscheinen als wären am Vollmond
Kleben geblieben dereinst zwei rundliche freundliche Sternlein.
War das doch im Beginn ein Geschrei, daß in Sion das Wort sei
Fleisch geworden! ach Gott – wenn in Wahrheit immer ein Quentchen
Fleisches geworden aus jedem der vielen und herrlichen Worte,
Die man geredet in Sion – nun brauchten wir nicht zu verhungern!« –

So der gesprächige Narr. Da trat in die Halle der König,
Und es näherte sich ihm der Alchymist, zu berichten,
Daß ihm gelungen das Werk und im Tiegel erstrale das Golderz.
Aber es lächelte Jan zur Erwiderung; wandte sich fragend
Dann zu Lips, der wie sinnend zum Himmel durchs Fenster hinaussah:
»Ei, was erblickst du in Lüften?« – »Es fliegen«, versetzte der Schalksnarr,
»Rings um die Stadt seit etlichen Tagen so häufig die Raben.
Hoffen die Bursche sich Aas? Cras! cras! so krächzen sie immer;
Ei, wie meinen sie's denn? was soll denn »morgen« geschehen?
Hör' nur, sie krächzen, die Schufte, wie Krechting in der Versammlung.
Aas, cras, krächzen, und Krechting – das reimt sich trefflich zusammen,
Und nichts Gutes bedeutet's!« – »Du bleibst doch ein munterer Schalksnarr
Auch am traurigen Tag«, sprach Jan; »dafür sollst du ein neues
Schalksnarr'nkäppchen erhalten, bevor dich verzehren die Raben!«
»Galgenhumor!« rief Lips; »nur Galgenhumor! doch es freut mich,
Wenn dir der Narr noch behagt . . . Nur laß statt des Käppchens ein saftig
Restchen vom Krönungsbraten mir reichen – ist nicht's davon übrig?
Sieh', seit Wochen gewöhnt' ich mich, wieder nach Fliegen zu schnappen,
Wie manchmal auf dem Weg gen Münster vor Zeiten! – So wahr ich
Bürger von Sion bin, schon setzt sich Moos an die Zähne
Deiner Getreuen, o Jan! – Wol hast du silberne, blanke
Münzen geschlagen in Sion – da hab' ich selbst in der Tasche
Noch einen glitzernden Thaler. Was soll ich damit nur? man läßt mich
Nicht aus Sion hinaus, daß ich etwan d'rüben in Telgte,
Oder in Warndorf stracks einen Weck mir vermöchte zu kaufen . . .
Freilich, es hat auf den Plätzen der Stadt uns der wackere Krechting
Mancherlei Saaten gepflanzt, und wir wissen ja schon, daß es aufgeht,
Was uns der Bucklige pflanzt. Gott segne das schöne Gemüse!
Nichts so gesund wie Gemüs', sprach Kunz, und verzehrte die Knackwurst.
Laß dir's gesagt sein, Jan, und verachte mir nicht das Gemüse;
Schließlich mußt du ja doch Gras rupfen wie Nebukadnezar!
Rund ist die Welt, o Freund, wie die rollende Kugel Fortunas!
Und wer haschen sie möchte, der stolpert zuweilen darüber.
Und ich frage dich, Jan: durch's Nadelöhr eines Schneiders
Sollte sie gehen, die Welt? dies höck'rige Ding? wie ist's möglich?
Kannst du das billiger Weise verlangen?« –
                                                                      So scherzte der Schalksnarr.
Halb nur hört' ihn, in eig'ne Gedanken verloren, der König.
Denn von Tage zu Tag wuchs jetzo in Münster die Drangsal,
Wuchs die Entbehrung, der Hunger. So karg schon wurde die Speisung
Bei dem gemeinsamen Mahle der Hungernden, daß sie des Hungers
Stachel nur schärfte. Des Tags drei Mal an den Tischen im Domhof
Saß das sionische Volk vordem, doch jetzt nur noch ein Mal.
Und es beschnitt und bestahl ihr Theil noch den Bürgern der Schaffner
Trug und heimliche Gier. Nun wurden die letzten der magern
Gäule geschlachtet, die Katzen daneben, die Hunde. Nach Krähen
Schoß manch lüsterner Jäger. Der Frosch aus der Jauche des Grabens
Galt als leckere Beute. Das zähe Gemüse bestrich man
Nur noch mit schmeidigem Talg. Sorgsam auslas man die Knochen,
Um in den wallenden Topf sie zu werfen, zu würzen mit ihrem
Marke die Brühen.
                              Doch schlimmer noch kam's. Nicht heimlicher Diebstahl
Mehr, und unehrliche Schaffner verkürzten dem Bürger den Antheil,
Nein, wild stritt sich und raufte verzweifelnde Gier um die kargen
Reste des Mundvorraths, wie um Aas sich streiten die Geier,
Daß nur der Stärk're zuletzt sich labte, die Schwachen verhungernd
Brachen zusammen. Gejagt ward jetzo, in Fallen gefangen
Eifrig die Ratte, die Maus. An Leder, an Rinden der Bäume
Nagte die Noth, und begrüßte das Laub an den Bäumen als Labung.
Einen Verhungerten fand man, auf offener Straße verschmachtet,
Der noch zwischen den Zähnen, dem kauenden Rinde vergleichbar,
Hielt ein Büschel von Gräsern. Es schabten die Kinder, nach Speise
Gierend, und weinend vor Hunger, das Weiße herab von den Wänden.
Säuglinge hingen verschmachtend am Busen verschmachtender Mütter,
Saugten an dorrender Brust: es verschmachteten doppelt die Mütter.
Aber die Liebe der Mütter, sie schlug oft um in des Hungers
Thierische, wilde Begier – es vergriff sich die grause Verzweiflung
Rasend am eigenen Fleisch . . .
                                                  O, die Anabaptisten, die bleichen –
Bleicher als je nun wandeln sie hin durch die Straßen von Münster! –
Erst hat schwärmender Drang sie gebleicht, dann hat an der Männer
Marke gezehrt das Gelüst der sionischen Ehen, und wüstes
Treiben, nach Münster verpflanzt von den Söhnen des wandernden Stammes:
Und nun brechen zusammen die Reste der Kraft vor des Hungers
Wühlendem Zahne. Sie wandeln dahin, wie Gespenster: nur schlotternd
Hängt um die Glieder die Haut. So verdorrt, so verblaßt sind die Lippen,
So durchscheinend die Flügel der Nasen, die Ohren, wie Blätter,
Die man mit Tinte beschreibt; wie versumpft ist das Aug' in der Höhlung;
Spitz vorragen die Knochen der Backen, als wollten die fahle
Haut sie durchbohren. Es schwollen auch Manchem die unteren Glieder,
Während die oberen welkend vertrockneten; oft auch durchbrachen
Eiternde Beulen die Haut. Auf den Wällen die Streiter vermochten
Kaum noch die Waffen zu schleppen; sie waren wie Fliegen im Herbstmond
Matt. Sie stützten im Geh'n sich auf Krücken und Stäbe. Der Mißduft
In der umlagerten Stadt, er vergiftete nun auch die letzte
Labe der Menschen, die Luft: ausbrachen die Seuchen, zu mehren
Mit hohläugigem Hunger im Bunde die Ernten des Todes.

Jan trat unter das Volk in den Straßen mit seinen Begleitern.
Ernst hinschritt er vom Markte die weit sich und prächtig im Halbkreis
Schwingende Straße der Bogen entlang, bis hinüber zum Aafluß,
Bis zur Brücke, die führt in das Kirchspiel über dem Wasser:
Und ihm streckte das Volk wehklagend entgegen die Hände,
Sich in Schaaren versammelnd. Er dachte zu reden. Da plötzlich
Kam es mit Sausen daher in den Lüften geflogen, und prasselnd
Stürzt eine wuchtige Kugel herab zu den Füssen des Königs,
Zwanzigpfündiges Erz. Aufhob mit Ruhe der Jüngling
Sie, und wog in der Hand sie betrachtend. Geschweißt an das Erzrund
Fand er geglättetes Leder; auf diesem gegraben die Zeilen:
»Männer! Ergebung fordert noch einmal gnädig des Hochstifts
Herr und Fürst: doch wofern ihr verschmäht auch heute die Mahnung,
Nicht soll bleiben ein Stein auf dem andern in Münster, und Alles,
Was nicht tödtet das Schwert, ist verfallen dem Stricke des Henkers,
Oder dem Rad, und dem Roste, dem glühenden. Doch dem Verführer,
Der euch bethörte so lang, mit glühenden Zangen am Holzstoß
Wird von den Gliedern das Fleisch ihm, das Herz aus dem Leibe gerissen!«

Solches besagt, entsendet aus mächt'ger Karthaune, die Botschaft.
Denn für andere Boten des Bischofs weigern den Einlaß
Lang schon die Männer von Münster. Es lies't hellstimmig dem Volke
Jan die Verkündung. Um sich dann blickt er, als wär' er des Bischofs
Sendling selbst, und erwarte des Volks Antwort und Entscheidung.

Doch jetzt naht auf dem Falben sich Divara. Dunkelgelockte
Schwärmen um sie. Und sie rief: »Ihr Männer von Sion, vernehmt mich!
Nachricht gab ich euch oft. Ihr wißt, wie sich Mancher der Meinen
Schlich durch's Bischofslager, und Kundschaft brachte vom Ausland,
Brieflein brachte sogar, die zusammengerollt er im Ohr trug,
Oder verbarg in den Flocken des dichten und schwärzlichen Haupthaars.
Aber es meldete mir im Geheimen der letzte der Boten:
Nicht mehr täuschen wir schleichend die wachsam lauernden Söldner,
Durch ein Wunder entrannen dem Tode die letzten der Unsern.
Aber ein anderes Wagniß ersannen die Helfer aus Holland:
Wenn zehn Tage verstrichen, so sagten sie, sollen die Münst'rer
Wol im Auge behalten die Aa, und die regengeschwellte,
Sacht hingleitende Flut – so empfangen sie weitere Botschaft.
Heut ist der zehnte der Tage. Behaltet im Auge den Aafluß!«

Sprach's, und sie hatte geendet noch kaum, da sah man in grüner
Welle der Aa hergleiten ein Faß; wie verlornes Gerümpel
Trieb es daher. Da stürzte behend in die Flut sich ein kecker
Schwimmer hinab und zog an's Ufer die schaukelnde Beute.
Und auf der Königin Wink abhob man vom Fasse den Deckel.
Da, wie aus berstender Schale das Küchlein, sprang aus dem Eimer
Plötzlich ein Knabe hervor, schwarzlockig, mit bräunlichen Wangen.
Und weittönend begann er zu reden, zu künden dem Volke:
»Sionsstreiter, es grüßen die Schaaren der Brüder aus Holland
Euch, und von Ostfriesland, von Brabant, vom Rhein- und vom Mainstrom!
Nahe dem Münster'schen Land schon sind sie: noch wenige Tage,
Und sie stehen vor Münster zu Tausenden, euch zu befreien,
Und zu vernichten im Streit die Verruchten, die Feinde von Sion!!« –

Also der bräunliche Knabe. Da blitzt in fanatischen Augen
Wieder ein Stral der Verzückung. Und jauchzend noch einmal ermannen
Sich die sionischen Streiter. Nur säugende Weiber, und Greise,
Und Todsieche, sie standen verloren in schweigendem Stumpfsinn
Da – sie hofften ja nicht, wie nah' er auch sei, zu erleben
Jenen erlösenden Tag! Auf sie, mitleidigen Herzens,
Blickte der König, und wieder begann er zu sprechen. Es lauschte
Ringsum das Volk, zu vernehmen das Wort des gebietenden Jünglings.
»Welcher von euch«, so begann er, »ihr Brüder und Schwestern, in Sion
Duldend zu harren getrieben sich fühlt vom Geiste, der bleibe:
Aber die nah' dem Verderben, die Schwachen, die Greise, die Siechen,
Oder wer sonst es verlangt von den duldenden Bürgern, hinauszieh'n
Ohne Verhinderung mag er sofort durch die Thore von Münster!
Keiner verweile gezwungen, zu theilen mit Andern die Drangsal,
Unfreiwillig zu tragen, was Keiner vermag zu ertragen,
Der nicht willig es trägt!« Da dankten mit thränenden Blicken
Viele der schmachtenden Mütter, am Busen die jammernden Kinder,
Und Todsieche dem König, und wandten sich ab, um zu gehen,
Und sich zu schleppen hinaus vor die Thore. Doch ihnen entgegen
Kamen Verlorne, wie sie, mit Seufzern und Klagen; die riefen:
»Was ihr offen versucht, wir versuchten es heimlich soeben!
Ja, wir flohen geheim; da irrten wir zwischen den Schanzen,
Zwischen den Gräben umher, und statt des mit Thränen erflehten
Mitleids fanden die Meisten den Tod von den Händen der Söldner.
Denn sie wollen es nicht, daß hinaus in ihr Lager sich flüchten
All' die Verschmachtenden; nein, sie wollen, daß Alle zusammen
Ihnen, entsagend dem Trotz, sich ergeben; wo nicht, daß zusammen
Hier wir Alle verderben!« So sprachen sie klagend. Da hoben
Jene zum Himmel empor in stummer Verzweiflung die Blicke.

Siehe, da plötzlich kommt mit begleitenden Schaaren den langen
Markt herunter in Eile der rührige Knipperdolling:
Und die Beeiferten ziehen, mit freudig erhellten Gesichtern,
Hinter sich her eine Reihe von rasselnden, stattlichen Karren.
Aber die rasselnden Karren, sie sind – o Wunder! – befrachtet
Schwer mit Näpfen und Fässern, mit wuchtigen Laiben des Brodes,
Speck, und gepöckeltem Rind und Thran und gesalzenen Fischen.
Hochauf jauchzte das Volk bei dem Anblick, kaum noch den Augen
Trauend, und drängte sich rings um die Karren, verblüfft und begierig.
Und von Fragen erscholl es: »Woher?« und »Wie?« Es erwidert
Knipperdolling mit Lachen: »Ihr meint wol, das sendet der Bischof?
Nein! wir hatten es hier, ganz nahe; nur galt es zu suchen.
Wisset, ihr Leute, so kams: Daß Viele verdarben vor Hunger,
Ging mir kläglich zu Herzen. Doch Manche bemerkt' ich, die liefen
Noch mit munteren Augen umher und rundlichen Leibern,
Wie Masttauben des Winters inmitten verkommener Spatzen.
Seht, da kam mir's zu Sinn, Umschau noch einmal zu halten
In den Gelassen und Kellern von Sion. Als hier auf dem Marktplatz
Waren die Bürger versammelt, und leer schier jede Behausung,
Nun, da benützt' ich die Zeit, durchforschte mit etlichen Spatzen
Die Masttaubengehege. Da fanden sich mancherlei Truhen,
Mancherlei Säcke; von Häringen gab's manch' Schock, und von Schinken
Manchen genießbaren Rest, und dazu manch' wacker gefüllten
Eimer des köstlichen Weins aus den Kellern verlaufener Pfaffen.
Vieles betraf man vergraben, in heimlichen Löchern, im Bettstroh,
Unter dem Holz und sogar auch unter den Brettern der Dielen.
Ei, da wurde mir's klar, wie's kam, daß Mancher in Sion
Noch mit rundlichem Bauch und munteren Augen umherging!
Seht euch nur um! dieselbigen sind's, die jetzt so viel bleicher
Werden auf einmal, als früher sie röther gewesen denn And're!
Billig trifft sie die Reihe, zu schmachten, zu fasten von heut an,
Bis sie der Hunger so bleicht, wie jetzo das böse Gewissen!« –

Sprach's, und die selbst sich verriethen durch ängstlich Erbleichen und Zittern,
Wurden ergriffen, zu harren des strengen Gerichts auf dem Rathhaus.

Aber den Mundvorrath, den willkommenen, nimmer gehofften,
Ihn umdrängte die Menge mit Jubel. Es traten die Schaffner
Jetzo heran, zu berechnen, wie lang wol reiche der Vorrath
Für den gemeinen Bedarf. Da kreischte die hungernde Volksschaar:
»Abseits denkt ihr zu bringen die glücklich errungene Beute?
Sie zu verkümmern uns noch, zu vertheilen in euerer Weise?
Nein! wir wollen doch wieder einmal, nach langer Entbehrung,
Satt uns essen! Es kommen ja bald die erwarteten Helfer!
Nein, nicht wollen wir jetzo noch sparen, wobei man zu leben
Nicht, noch zu sterben vermag! Ein Festmahl wollen wir halten,
Würdig zu feiern die Kunde vom nahenden Tag der Erlösung!« –

Also riefen sie wild; hohläugige, bleiche Gestalten,
Fiebernd vor grauser Begier, blutlosen Vampyren vergleichbar,
Stürzten sie über die Labung. Es schwanden die wuchtigen Brode,
Sämmtliche Massen des Fleisches, der Thran, die gesalzenen Fische,
Nimmer zerstückt und vertheilt, nein, gierig mit Händen zerrissen.
Um die gewaltigsten Stücke, die duftigst verlockenden Massen,
Stand ein Reigen gedrängt, wie Rudel von Wölfen gedrängt steh'n
Um ein getödtetes Thier in der Wildniß. Aber dahier auch
Sättigte sich nur der Starke; der Schwächere, grollend erwarten
Mußt' er, was etwa noch übrig ihm ließ die Begierde der Stärkern.
Und so gellte Gezänk durch den Markt hin, wildes Gedränge,
Laute des Groll's, sich mischend mit tollem und wüstem Gejubel.
Schon war verschlungen der letzte der Bissen; doch immer noch strömte
Reichlich die Labe des Weins: denn groß war die flüssige Beute.
Bauchigen Fässern entquoll sie noch unablässig, die standen
An vier Ecken des Markts. Als die Nacht einbrach, da entflammten
Fackeln die Männer umher auf dem Markt und festliche Feuer,
Rollten die Fässer heran zu den Feuern und zechten und sangen.
Muthwill war nun wieder erwacht, wie dereinst, und es klangen
Heilige Lieder zum Spott mit unheiligen, frechen zusammen,
Und den Choral, den erhab'nen, der Anabaptisten, ihn johlten
Jetzo aus heiseren Kehlen, bezecht, die Zigeuner, die Gaukler.
Bald auch erklang es im Kreise von Lauten und Pfeifen und Geigen,
Und hinrissen die Männer zum wüsten Gelage die Weiber.
Söhne des wandernden Stamms und Gaukler ergötzten mit frechen
Possen die lüsternen Schaaren. Zuletzt, beim Schwirren des hellen
Cymbals sprangen herbei schwarzlockige Töchter des braunen
Stamms, und keck und verbuhlt vor dem Volk in bacchantischen Tänzen
Drehten sie sich. Da ward – wie der schlagende Funke noch einmal
Ein Scheinleben erweckt in erblichenen Leibern – zu letzter
Regung gestachelt der Reiz in kraftlos erstorbenen Sinnen
Bleicher sionischer Männer, erschöpft von wilder Verschwendung:
Aber verdoppelt erfaßt die Entnervten das lüsterne Fieber:
Und so schwangen sich wild, frechkosend, die Männer mit Weibern:
Schaurig war es zu seh'n, wie die hageren, schwanken Gestalten,
Spornend mit letztem Entschluß, wie zum Henkermahle, die Mannskraft,
Siech, hohläugig, erhitzt von Wein und Gierde, gespenstig
Grell von den Flammen bestralt, umtanzten die lodernden Feuer . . .

Also brachte den Tag das sionische Volk und die Nacht hin.
Mächtig erscholl das Getümmel der Lust auf dem Markt und im Domhof
Vor dem Palaste des Königs. Auch dort nun vereinte die Festlust
Eine befeuerte Schaar an glänzender, prunkender Tafel.
Divara war es, die braune, die Königin, welche geladen
Hatt' in des Königs Gemächer die Träger der Würden von Sion.
Denn es gezieme, so sprach sie, zugleich mit dem Volke den Häuptern
Sions, zu feiern den Tag. Nach ihrem Gebote verzaubert
War die geräumigste Halle des weiten Palasts in ein lichtes
Eden der Freude, bestellt aus des Vorraths Resten ein Festmahl.

Mehr war zu schauen des Golds, als der Farben in schimmernder Halle:
Unabsehbar erstreckte, gekreuzt, sich die prangende Tafel
Hin durch die Läng' und Breite des Saals. Von der goldigen Decke
Hingen herab Kronleuchter, wie Kränze gestaltet, und zierlich
Mit einander verwoben durch Blumengebinde. Die Wände
Waren verkleidet mit Sammt, durchwuchert von goldenem Stickwerk:
Aber in blendendem Schimmer, zu Pyramiden gethürmt, stand
Ringsum vertheilt in der Halle, der Schatz des sionischen Reiches:
Gold und Silber gehäuft, Erzbilder und blanke Gefäße,
Opfergeräth, Monstranzen und Kelche, aus Kirchen und Klöstern
Stürmend erbeutet; dazwischen die Fülle der edel-metall'nen
Reichen Patrizierhabe, geliefert auf's prangende Rathhaus
Nach des Propheten Geheiß: Goldschalen, kristall'ne Pokale,
Flimmerndes Silbergeschirr. Und daneben Korallen und Perlen,
Edles Gestein, buntschillernd, und funkelnde Ketten und Spangen,
Gürtel und Prunkkleinode noch sonst, von Vätern auf Enkel
Manch' Jahrhundert vererbt in Münster: das stralte gesammelt,
Stand zur Schau als ein reicher Bazar, wie nur Märchen ihn schildern.

Auch durch die Mitte der Tafel, der riesigen, welche gekreuzt sich
Streckte den Saal entlang auf zierlich geschnörkelten Stützen,
Lief wie ein schimmernder Steg eine Reihe von lichten Kleinoden,
Theile des Sionsschatzes, des großen; und, wechselnd mit diesen,
Standen Gerichte zur Weide dem Aug', nach dem Brauche der Zeiten,
Eß-Schaubilder, geschnitzt und bemalt, Kleinode sie selber.
Aber ein Blumengewinde verband auch der riesigen Tafel
Gleißenden Prunkaufsatz; Ziersträucher sogar, mit candirten
Früchten behangen, erblühten dazwischen. Zu Häupten der Tafel
Glänzte das Wappen von Sion, umkränzt mit Rosen und Lorbeern . . .

Bei dem Beginne des Mahls anregte den Gaumen der scharfe
Salzige Nordseefisch. Ihm folgte des zäheren Rindes
Fülle, gekocht und geschmort, vielfältig verwandelt, und Backwerk,
Mannigfaltig geformt: aus ein und demselbigen Stoffe
Hatte des Meisters Geschick das Verschiedenste lecker bereitet,
Also verdeckend die Noth mit dem prunkenden Scheine des Reichthums.
Reichlicher floßen auch hier die befeuernden Weine, die Laune
Sämmtlicher Tafelgenossen zu heiterem Muthe beflügelnd.
Lips ist gesprächig und sprudelt von Scherzen; die Frauen des Königs
Lächeln mit blitzenden Augen und rosigen Wangen; sie essen
Marzipan, und nippen aus zierlichen Gläschen den süßen
Muskateller daneben; der König ist heiter, ein seltsam
Feuer ist ihm in den Augen erglüht, und erhellt ihm das Antlitz.
Er ist schön; sein Wesen, es leuchtet: die Blicke der Frauen
Hängen an ihm: sie schauten ihn nie so Herzen-gewinnend.
Düster und streng ja zeigt' er sich meist. Nachholt er, so scheint es,
Was er versäumt: für Jede nun hat er ein freundliches Wörtchen,
So daß eifernde Sucht sich bereits in den Augen der braunen
Divara malt. Sie sitzt in scharlachrothem und grellem
Prunkstaat neben dem König. Mit gleißenden goldenen Ketten
Hals und Busen behängt, um die Stirn einen blitzenden Goldreif,
Funkelt sie unter den Frauen hervor, wie unter des Himmels
Mildhell leuchtenden Sternen hervor in düsterer Pracht gleißt
Ein blutrother Komet. Nachdenklich jetzo und finster
Blickt sie, und lacht dann wieder ein triumphirendes Lachen . . .

Lips, der gesprächige, trank und aß. Doch am Liebsten versucht' er
Sich an den Eß-Schaubildern der Tafel, mit drolligem Unmuth
Über den farbigen Tand sich beklagend, der schmählich des Hungers
Spotte, indeß er ihn reize. »Ich wollt', es wäre der Aafluß
Malvasier«, so rief er, und sämmtliche Schätze von Sion
Wären von Marzipan, wahrhaftigem, echtem. Was nützt mir's,
Daß so gediegen und echt im sionischen Reiche das Gold ist,
Wenn unecht der Fasan und der Pfau, die Pastete, der Kuchen?
O du goldenes Sion! was nützt uns der goldene Scepter
Noch, und die goldene Kron', und die anderen goldenen Schätze,
Wenn die sionischen Nüsse, die gold'nen, die man uns beschert hat,
Hohl sich zeigen, indeß wir sie knacken? das flimmernde Rauschgold
Ist nun heruntergewetzt, und es knurrt der betrogene Magen!
Jan, du mußt es gesteh'n, daß besser doch waren die Zeiten,
Als noch der ehrliche Lips van Straaten, der Gaukler, den Scepter
Führt' und den Seckel, der Mann, der jetzo geworden zum Schalksnarr'n
Seines dereinstigen Volks . . . o du mein goldenes Holland!
Säßen wir wieder daheim, o Jan, in der Schenke zu Leyden!« –

Also der klagende Lips; und es lachten die Gäste, die wüsten,
Bleichen Gesellen, und jetzo begann, zu beschämen den Spötter,
Rauschender Klang der Musik, der Drommeten und Pfeifen und Geigen.
Schwül ist die Luft und berauschend. In magischem Glanze, berückend,
Stralt der sionische Schatz: im Schein unzähliger Lampen
Funkelt's und flittert und flirrt, und das Flimmern, so zauberisch unstät,
Scheint Unruhe zu sprüh'n in die wild schon erregten Gemüther.
Wüst auch wirken die Geister der Traube. Mit nickenden Häuptern
Sitzen die Ältesten da, und die jüngeren Männer befeuern
Sich zu lüsternen Scherzen und frechem Gelächter. Aus gold'nen
Kelchen bezechen sie sich, vor welchen dereinst, wenn des Priesters
Hand sie erhob am Altare, das Volk anbetend in's Knie sank . . .
Alle die erdfahlbleichen, verfall'nen Gesichter beleben
Sich mit gespenstigen Funken, ein lüsternes Grinsen umspielt sie.

Aber die wüstesten Zecher beim Königsgelage, das waren
Knipperdolling doch immer und Krechting. Sie hielten auch heut' sich,
Wie schon lange, zusammen. Der zwerghaft-höck'rige Krechting
Schwur, er vertrage noch mehr des befeuernden Tranks, als der durst'ge
Knipperdolling; der rühmte sich aber, in Sion der größte
Zecher wie Raufer zu sein: und so tranken sie denn um die Wette.

Aber beflügelt entschwanden den Gästen die Stunden, und schon war
Nahe die Mitte der Nacht; unheimlicher flammten die Augen.
Rottmann nur saß schweigend im Kreis, und leise vor sich hin
Murmelte Dusentschur, der verrückte, und sah mit den stieren
Augen zum Himmel empor, von Keinem beachtet. Es schwirrten
Heiser die Stimmen. Da machte vor Andern die kreischende Rede
Krechtings sich lauter und lauter vernehmlich. Es hatte von beiden
Streitenden Keiner gesiegt – gleichmäßig erlagen sie beide,
Knipperdolling und Krechting. Doch Krechting, zu kreischen, zu krächzen
Hub er an, wie er pflegte zu thun. Er schrie, zu vermissen
Sei noch Manches in Sion; man müsse noch weiter und weiter
Geh'n und immer so weiter; man habe die Gütergemeinschaft,
Die Vielehe dazu; doch das sei nimmer genug noch:
Nein, man müsse nunmehr auch gelangen zur Weibergemeinschaft:
Sonderlich müßten von heut an die schönsten der Weiber gemein sein!
Schreiendes Unrecht sei's, daß die schönsten der Weiber der König
Für sich habe; die Regel in Sion, sie wolle, daß Keiner
Etwas noch habe für sich, daß Alles für Alle gemein sei;
Warum nicht auch die Weiber? – So rief er; der düstere Rottmann
Straft' ihn mit grollendem Blick, doch Andere johlten ihm Beifall
Zu in der Runde, und spornten zu reden ihn, weil er ergriffen
Eben vom Geist. Fortfuhr er, erwidernd des grollenden Rottmann
Blick mit höhnischem Grinsen: »Verlangt ihr das Beste zu hören,
Sag' ich: werfet hinaus aus Sion die letzten der Schwärmer!
Männer, die Zeit ist da für bessere, neue Verkündung!
Matthisson kam, der Prophet, nach ihm der Erkorne von Leyden,
Aber zuletzt kommt Krechting. Nur vorwärts, Männer, nur vorwärts!
Matthisson hat euch erlöset vom äußeren Wort; doch vom innern
Wurde gefaselt sodann, das ein Gott in die Seel' uns geschrieben!
Inneres Wort? ich verspüre das nicht! mir hat er dergleichen
Nicht in die Seele geschrieben! Und hätt' er's gethan auch, ich frage,
Was das kümmern mich soll, und warum ich's sollte befolgen?
Nein, nicht schiert mich, was Einer, den ich nicht kenne, gekritzelt
Irgendwohin, und wär's auch mir auf den eigenen Rücken.
Hab' ich, bevor er gebot, ihm gelobt, daß ich werde gehorchen?
» Gut sein« soll ich? Warum? ei, sage nur einmal mir Einer
Einen vernünftigen Grund, warum ich's solle, so will ich's!
Nein, der gesunde Verstand weiß nichts vom inneren Worte!
Schweigt mir vom menschlichen Herzen: das ist nur die hintere Thüre,
Welche die sämmtlichen Götzen, Tyrannen und Quäler der Menschheit,
Die man zur vorderen Thüre hinauswarf, wieder hereinläßt!
G'rade das »innere Wort« ist von allen Tyrannen der schlimmste! –
Sünde? was nennt ihr Sünde? nur das, was entgegen der Satzung:
Gut, so stürzt sie, die Satzung: so ist auch die Sünde beseitigt,
Und ihr wandelt dahin, fehllos, wie die Heil'gen im Himmel.
Ei, was will das Gewissen? das will von den Kirschen das Fleisch euch
Schnöde verbieten, und gibt euch zu schlucken die steinigen Kerne!
Haltet an's Fleisch euch, in's Antlitz werft dem Gewissen die Kerne!
Ist so ein selbstlos Wesen der Mensch, daß fremden Geboten
Folgen er muß, wie den Lüften der Rauch und die Welle dem Rinnsal?
Seid wie der Vogel in Lüften, und wie das Gethier in der Wildniß!
Seht, losgeh'n sie auf das, was ihnen behagt, und sie fragen
Nicht nach dem Willen des Himmels, sie haben genug an dem eig'nen.
Lebt, wie der wandernde Stamm nun seit Jahrhunderten hinlebt!
Sehet, die freu'n sich des Lebens als freieste Söhne der Erde!
Strolche benennt sie die Welt? Ich aber, ich sage, die Strolche
Müssen erneuern die Welt. Gleich ist, was Menschengesicht trägt,
Gleich ist also dem Weisen der Strolch: auf, Strolche! die Welt ist
Euer, sobald ihr wollt: ihr habt ja auf Erden die Mehrzahl,
Folglich die Übergewalt, und das Recht, zu entscheiden die Dinge!
Fletschet die Zähne vor Gott! bohrt Eselsohren dem Himmel!
Denkt ihr dran, wie ich ließ im Gewitter die Mündung der großen
Donnerkarthaune, die steht auf dem Markt, schnurg'rade nach aufwärts
Richten und schoß eine Kugel hinauf in den zürnenden Himmel?
Sehet, so macht' er's kürzlich, der kleine, der bucklige Krechting!
Ei, ihr schüchternen Recken, ihr laßt euch vom Zwerge beschämen?« –

Also sprach er, da jauchzten ihm zu die sionischen Männer.
Selber der König – warum doch lächelt der König so seltsam
Bei dem Gelall des bezechten, des höckrigen kleinen Titanen?
Ist ihm jeglicher Groll und jeglicher Ernst in des Rheinweins
Goldenen Fluten ersäuft, und hat er die lastende Schwermuth
Ganz aus der Seele gespült? – Aus irdischen Banden erhebt sich
Wieder, zu heiterer Freiheit erlös't, sein Geist, und zu stiller
Göttlicher Ironie ist geläutert die dumpfe Verzweiflung
Ihm an der Welt und sich selber. Des himmelanstürmenden Knirpses
Kreischen belustigt ihn jetzt, und es wird ihm zur Posse das Schauspiel
Eigenen Trauergeschicks. In keck-aussprühender Laune
Ruft er: »Bringt mir die Krone herbei, ihr Trabanten, den gold'nen
Scepter, den purpurnen Mantel!« Dem Wort des Gebieters gehorchend,
Bringen die Diener getragen die Krone, das Scepter, den Mantel.
Und es bekleidet sofort mit der Herrschaft Zeichen der Jüngling
Krechtings schnöde Gestalt, des taumelnden, wirft um des Rückens
Höcker den Mantel ihm her, in die Hand ihm drückt er den gold'nen
Scepter, die goldene Kron' auf's Haupt. »Wenn Einer die Krone«,
Ruft er, »zu tragen verdient noch in Sion, so bist du es, Krechting,
Denn es verkörpert in dir, wie in Keinem, des neuesten Sions
Bild sich und höchster Gedanke! Vertausche den Sitz mit dem meinen!
Und auch die Schätz' und die Weiber, um die du so sehr mich beneidest,
Sollst dein eigen du nennen von heut an, wackerer Krechting!
Rufet ihm Heil denn, Männer, dem neuesten König von Sion!« –
Sprach's; es erstaunten die Zecher, und Krechting stack wie ein Kobold
Grinsend im Königsgewand. Doch er faßte sich bald, und zu kecker
Würde sich blähend, sofort mit des Königs vergoldetem Armstuhl
Tauscht er den eigenen Sitz, und schwankend, mit drolligem Nicken
Dankt er dem Ruf: »Hoch lebe der neueste König von Sion!«

Und aus dem Becher ergänzend das vollere Herrscherbewußtsein,
Schlürft in gewaltigen Zügen er sprudelnde Fluten, bis endlich
Ganz die Gedanken sich ihm in dem trunkenen Haupte verwirren,
Und er nur stammeln noch kann von »Vorwärts«, »Weibergemeinschaft«,
»Größerer Freiheit in Sion«. Zuletzt dann wendet er täppisch
Sich zu den reizenden Weibern, die ihm zur Seite nun sitzen,
Ihm nun gehören. Er lächelt sie an mit blinzelnden Augen,
Will liebkosend ergreifen die Hände der einen und andern.
Aber mit ängstlichem Schrei abwenden sie von dem gekrönten
Kobold sich, von dem Wichte, dem häßlichen; und er bedroht sie,
Allen zusammen demnächst abschlagen zu lassen die Köpfe.


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