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Es ist – die zwei Jahrzehnte später – Sommer im Lande, da wir aus dem Walde heraustreten wollen in die Lichtung, auf welcher die Hütte des Fohrengrund-Xaveris steht.
Tiefe Stille herrscht ringsum. Man könnte meinen, die Sonne, die mild und klar auf die Matten und auf die strohbedeckte Hütte ihr Licht wirft, scheine auf einen Kirchhof im Walde.
Nirgends ein Laut, selbst die Vögelein schweigen, und nur das Brünnelein vor der Hütte rollt hörbar sein Wasser in den ausgehöhlten Tannenbaum, der ihm als Trog dient.
Wir nähern uns der Hütte. Kein Hündlein bellt. Sie scheint ausgestorben. Wir steigen die alte hölzerne Treppe hinauf und gucken, auf der Fensterhöhe angekommen, in die Stube.
Da sitzt am großen Kachelofen ein altes Weib, vor ihm steht ein Spinnrad. Sie hat trotz der Sommerszeit gesponnen, denn sie ist nichts mehr zur Arbeit in Feld und Wald und spinnt jahraus jahrein.
Der Ofen ist warm vom Kochen des Mittagessens her, und warm scheint die Sonne durch die kleinen, geöffneten Schiebfensterchen. Diese doppelte Wärme hat der Alten Schlaf gemacht. Sie ist eingeschlummert. Wirr drängt ihr weißes, volles Haar aus dem farbigen Tuch hervor, das sie über den Hinterkopf gebunden, und aus ihren scharfen, verwetterten Zügen spricht ein harter Geist.
Neugierige Fliegen schleichen über ihre braunen Hände und spielen in ihrem weißen Haar. Sie fühlt es nicht. Nur leise zuckt bisweilen eine Hand, wenn eine Fliege zu kräftig auftritt.
Neben ihr auf der Ofenbank schlummert die Hauskatze in einem Fleck Sonnenschein, der bis auf die Bank gedrungen ist.
Da kommt von der Rückseite der Hütte, die dem Walde ganz nahe liegt, aus diesem ein junges, schlankes Mädchen mit rabenschwarzem Haar. Es hat Reisig gemacht droben unter den Tannen, ist jetzt fertig und will heim zum »Vierebrot«.
Rasch tritt es in die Stube. Die Alte fährt aus ihrem Schlummer auf, reibt sich die Augen, erblickt das Meidle und brummt: »Wenn ich amol schlofe könnt, mueß eins von euch mich wecken. Seit diese junge Brut im Hause ist, ist aller Segen und alle Ruhe fort. Was willst du? Geh nous und schaff!«
»I hab' bisher g'schafft, Großmuatter,« entgegnete bescheiden das Meidle. »I bin fertig mit Reiswellen machen, will ein Vierebrot nehmen und dann nous zur Muatter und zur Gertrud und ihnen helfen im Erdäpfelfeld.«
»Du brauchst nichts z'Viere, Ihr wollt immer essen und trinken und seid das Leben nit wert. Warum hast mich g'weckt, jetzt darfst ou nit in der Stube bleibe. Fort und schaff, i mueß no eins schlafen, damit ich den Kummer vergeh', den ihr und eure Mutter mir schon seit zwanzig Jahren gemacht habt!«
Das Meidle schwieg. Es war ja diese Redensarten gewohnt von Kindheit an. Es ging hinaus in die Küche und aß unter Tränen ein Stück schwarzes Brot. Dann ging es hinüber auf den Erdäpfelacker, wo die Mutter und die Schwester an der Arbeit waren, und erzählte, wie die Großmutter wieder wüst sei.
Die Mutter – wir kennen sie, es ist das Oferle – tröstet das Meidle: »So ist sie halt, die Großmutter, und so bleibt sie. Hätt' sie g'wollt, so wäret ihr ehrliche Kinder und hättet einen Vater. Aber sie hat's nit geduldet und hat jetzt noch kein Einsehen. In guten Stunden reut sie's, aber die guten Stunden sind selten bei ihr.«
Das Oferle ist alt geworden. Es geht den Fünfzigern zu, und wir dürfen es jetzt ruhig Afra nennen. Seine Haare sind grau, sein Blick verdüstert, seine Züge welk.
Die Meidle sind Zwillinge. Das kleinere, Gertrud, schlägt der Mutter nach; das größere, schwarze, ward Walburg getauft und sieht dem Vater gleich.
Der »Fohrengrund-Xaveri« ist längst tot. Die Kinder seiner Tochter waren noch klein, als er sich zum Sterben niederlegte.
Und Toni, der Wildschütz, ist fast ebenso lang verheiratet, als der Xaveri tot. Droben in jener einsamen Waldecke, eine halbe Stunde vom Fohrengrund, wo die Waldhäusle stehen, hat er sich eine Hütte gekauft und eine andere Tochter des Landes heimgeführt, nachdem er jahrelang vergeblich sich bemüht, das Oferle zu bekommen.
Die beiden Kinder aber wuchsen auf in Scheu und Schwermut, weil die Großmutter es auch sie entgelten ließ, was ihre Mutter gefehlt, und weil die finsteren Stunden, welche diese einst im Wald verbracht, auch in der Kinder Seelen unheimliche Keime hinterlassen hatten. Sie waren schon freudenlos, da sie noch in die Schule gingen, und scheu, wie flüchtige Rehlein, kehrten sie jeweils vom Dorfe herauf heim ins Haus der bösen Großmutter.
Groß geworden, leben sie mit ihrer Mutter ein hartes Leben; nirgends winkt ihnen Freude, nirgends Hilfe. Ueberall begegnen sie kalten, herzlosen Menschen.
Während sie so an jenem Sommertag im Erdäpfelacker an der Arbeit sind, ruft plötzlich über ihnen vom Waldrand herunter eine rauhe Männerstimme: »Aus dem Weg, es kommt Holz!«
»Um Gottes willen,« jammert die Afra, »jetzt lassen sie schon wieder Holz los, um uns die Felder zu verderben!«
Sie ruft hinauf: »Rieset euer Holz, wenn wir unsere Erdäpfel und unsern Haber daheim haben, und macht armen Leuten keinen Schaden!«
»Schweig still, du alte Vettel, mit deine zwei Bankerten (Bastarden)! Wenn wir Bauern euch noch fragen müßten, wann wir unser Holz riefen wollen, hätten wir viel zu tun,« – gab, der gerufen, als Antwort zurück.
Im gleichen Augenblick ließ er eine Tanne los, und der Stamm sauste, alles niederwerfend, über die Aeckerlein der armen, hilf- und rechtlosen Wibervölker, die sich kaum noch flüchten konnten.
Seufzend und weinend verlassen sie ihren Acker und ziehen heim. Der Bauer aber sendet rücksichtslos seine Tannen weiter zu Tal.
Solche Roheiten waren nicht selten, und öfters schon war die Afra mit ihren Kindern so beschimpft worden, weil sie gebeten, ihr Eigentum zu verschonen.
Rechtshilfe suchte sie nie, die stille Dulderin, weil sie die Prozesse und die Herren fürchtete und lieber Unrecht litt, als klagte.
Daheim in der Waldhütte keine Ruhe, draußen um der Geburt willen verachtet und rechtlos den Gewalttaten roher Menschen preisgegeben, das tat weh, und dieses Weh senkte sich mehr und mehr in die Herzen der zwei Meidle.
Die Afra war versteinert im Leid seit vielen, vielen Jahren, und sie trug es nicht so schwer, was sie und die Meidle zu dulden hatten, wie ihre von Jugend auf freudelosen Kinder.
Doch vergingen noch einige Jahre, ehe deren Seelen übervoll waren von Leid und von des Daseins Oede.
Zuerst ward die Walburg von unheimlicher Krankheit ergriffen. Schon als Kind war sie am liebsten für sich allein, und man durfte ihr nichts in den Weg legen, ohne daß es stürmte in ihrer Seele. Später war sie stiller geworden, bis, was längst unter der Asche geglimmt hatte, nach Jahr und Tag Flammen schlug.
Sie begann oft mitten in der Arbeit aufzuhören und zu klagen: »Ich bin krank, aber mir kann kein Doktor helfen.«
Sie wird unruhiger und unruhiger und findet nirgends mehr Frieden: sie jammert und klagt unaufhörlich.
Die Afra nimmt sie hinab in die Dorfkirche und betet mit ihr und für sie. Auch hier findet das arme Meidle keine Ruhe. »Aus dem Tabernakel hat das hochwürdigste Gut so rot an es hin geglitzert, – daß es fort mußte und fortan nimmer in die Kirche gehen will.«
Jetzt wandert die Mutter mit der »hintersinnten« Tochter das Tal hinab und nach Wolfe, wo der Arzt den rechten Rat gibt, mit ihr nach Illenau zu gehen. Das Meidle gehöre in eine Anstalt.
Das will aber weder der Afra, noch der Walburg einleuchten; denn in ein »Narrenhaus« geht niemand gern, weil diese Häuser dummerweise im Verruf stehen und in Verruf bringen. –
Wenn die Leute im Kinzigtal kein ander Mittel mehr wissen, nehmen sie ihre Zuflucht zu meinem Freund, dem Hättichsbur am Billersberg im einstigen Reichstal Harmersbach.
Des Buren Ruf ist längst auch weit hinauf ins obere Kinzigtal gedrungen und bis in den Fohrengrund. Drum machte die Afra mit dem kranken, schwermütigen Meidle noch den weiten Weg hinab zum »Kräuter-Dokter«, wie die oberen Kinzigtäler den Hättichsbur heißen.
Der alte Sympathiemann meinte, er wolle dem kranken Meidle zwar einen Tee verschreiben, aber er werde wohl nicht mehr viel helfen.
Hoffnungslos wanderten die zwei wieder dem Fohrengrund zu. Die Großmutter muß die Walburg hüten, während die zwei andern draußen arbeiten. Die alte Franziska beginnt jetzt erst Mitleid zu haben mit dem ungeduldigen, kranken Meidle und gibt ihm gute Worte, damit es daheimbleibe, während die Krankheit ihm keine Ruhe läßt in der Hütte. Es will, wie einst die Mutter, hinaus und sein Weh ausstürmen lassen in Wald und Heide.
Eines Morgens – die Afra und die Gertrud sind im Felde – entkommt die Walburg und verschwindet im Wald. In dem gleichen Wald, in dem einst ihre Mutter qualvolle Tage und Nächte verbracht, irrt jetzt auch, vom bösen Geist der Schwermut geplagt, ihr Kind umher.
Die Afra eilt in die Waldhütten der Nachbarschaft und holt Männer, die ihr die Walburg suchen helfen.
Zwei Mannsleute kommen und durchstreifen den Wald, oben und unten, rechts und links, aber sie finden nichts. Voll Angst läuft die Afra hinab ins Tal und holt die »Sicherheit«, d. i. den Ortsdiener, und den Bürgermeister.
Während die Leute im Wald beraten, wo das Meidle sein könnte und was es sich angetan haben möchte, sitzt dieses ganz in ihrer Nähe in einem Busch und hört und sieht alles. Plötzlich ruft es aus seinem Versteck: »Ihr könnt mir alle nit helfen!«
Als daraufhin die Männer ihm nahen, springt es tiefer in den Wald. Jene setzen ihm nach wie einer verwundeten Hindin die Rüden des Jägers. Sie fangen das in der Seele zum Sterben kranke, tief aufgeregte Meidle und bringen es heim zur Mutter und Großmutter.
Was mag alles durch die Seelen dieser beiden geströmt sein, als starke Männer das jetzt wie rasend gewordene Kind brachten und die Nacht über unter Aufwand all ihrer Kraft bewachten!
In der Frühe laden sie die Geisteskranke, da sie jeden Schritt verweigert, auf einen Karren und führen sie durch den Wald hinab zum Kaibauer im Kaibach. Die Mutter und die Schwester, die Gertrud, gehen trostlos hintendrein.
Der Kaibauer hat ein Pferd und ein Wägele und soll das Meidle zur Bahn führen hinab nach Schilte. Es kostet Gewalt und Drohungen, die Walburg aufs Wägele zu bringen; doch gelingt's endlich. Die Mutter und der Vater der Gemeinde, der Bürgermeister, setzen sich zu ihr, und fort geht's zur Bahn und dann weiter ins Land hinab »ins Narrenhaus«.
Sechs Monate lang war die Walburg drunten in Illenau, im stillen Asyl für Seelenkranke, und fand, wie so viele, Heilung in diesem Teiche Bethesda.
Schnee lag über Berg und Tal, da sie heimkam in die weltferne Waldhütte.
Das »wüste Wesen« war gewichen, doch ist die Schwermut noch in den Augen zu lesen.
Aber der Dämon Geisteskrankheit schlich schon, ehe sie heimkam, wieder um die Waldhütte und suchte sich ein zweites unschuldiges Opfer. Teuflische Gesellen halfen ihm dabei.
Es war Sommerszeit. Die Vögelein sangen in den Tannen und Föhren, und die Bienlein kosten summend um die köstlich duftenden Waldblumen. Von der Hütte durch eine Matte getrennt, steht am Waldrande das »Immenhäusle« einsam und allein.
Der Xaveri hatte es noch errichtet und die ersten Immen (Bienen) vom Tal herauf gebracht, wo er daheim war, damit er an Sonntagnachmittagen sich die Zeit vertreiben konnte, indem er den Bienen zu- und nachschaute.
Die Afra hatte es von ihm gelernt, wie man die Immen behandle, und drum war das Häusle mit den Bienenkörben beibehalten worden auch nach des Vaters Tod.
Im Sommer, wenn die Bienen schwärmen, d. h. wenn das junge Volk auszieht, um einen eigenen Bienenstaat zu bilden, muß man die Körbe hüten, damit man sieht, wo der Schwarm hinfliegt, und ihn dann »schöpft«.
Eines Tages nun – es war ein Sonntagmittag – sprach die Afra zur Gertrud: »Gau (geh) runter ins Immehäusle und hüet; d' Imme im dritte Korb wollet schwärme, i vermach's ihnen scho zwei Täg. Sie könnet jede Stund ousfliege.«
Die Gertrud geht über die Matte hinab ins Häusle und setzt sich hinter die Bienenkörbe, wo es summt und brummt im warmen Frühlingssonnenschein. Die Bienlein kamen und gingen, und das Meidle schaute ihnen ahnungslos zu.
An den Sonntagen jener Zeit schwärmten auch andere Völker in den Bergen des oberen Kinzigtales. Die Kultur baute sich einen Schienenweg an den einsamen Gehöften drunten im Tale hin, und diejenigen, welche ihn bauten, waren Italiener. Diese hatten sich in den entlegensten Hütten Quartiere gesucht und gefunden.
Weit oben über dem Fohrengrund in den Waldhäuslen hatten ihrer einige Nachtherberge.
Es sind sonst meist ebenso brave als fleißige Leute, diese Kinder des Südens, aber es gibt auch Strolche unter ihnen, wie unter uns. Doch die Strolche unter ihnen haben einen Milderungsgrund, der bei uns nicht gilt – das heißere Blut.
Ein solcher Strolch aus dem Süden hatte seine Herberge in einem der Waldhäuser, wo auch Toni, der Wildschütz, wohnte.
Dieser war ein braver Mann geworden, Vater von elf Kindern, die wie ihre Mutter freundlich mit der Afra und ihren Meidlen verkehrten, wenn sie aus der Waldecke herab am Fohrengrund vorbeigingen der Kirche zu. Ja, die Buben des Toni halfen den einsamen Wibervölkern öfters bei Arbeiten, die einen Mann erforderten.
Die Meidle der Afra und die Buben des Toni wußten, daß sie blutsverwandt seien. Der Toni aber hielt sich aus edlen Gründen allzeit fern von der Waldhütte im Fohrengrund.
Unfern von seiner Hütte nun, ganz droben am Müllerswald, hausten der Italiano und sein Gesinnungsgenosse, eines Bauern Sohn, beide rohe, wüste Gesellen.
Sie überfielen die Gertrud, da sie ahnungslos im Immenhäusle dem Summen der Bienlein lauschte.
Das arme Meidle schrie aus Leibeskräften, so daß droben in der Hütte die Afra ihr »mörderisches Schreien« hörte und vor das Haus eilte.
Da kam ihr aber schon sprachlos vor Schrecken und Angst in zerrissenen Kleidern ihr Kind entgegengerannt. Sie war den liederlichen Gesellen entronnen, die ihr noch Steine nachwarfen und drohten.
Rechtlos, wie sie sich seit Jahren fühlten, ertrugen die Wibervölker in der Waldhütte auch dieses Attentat, ohne eine Anzeige zu machen.
Trübselig und still war aber fortan die Gertrud. Nur selten seufzte sie laut auf bei der Arbeit in Feld und Wald und machte ihrer Mutter das Herz schwer. Die Großmutter saß in der Stube und spann.
Der Sommer ging, der Herbst ihm nach. Der Winter kam und mit ihm die genesene Walburg.
Ihr Kommen war ein Freudensternlein in der Waldhütte, wo jetzt alle am Spinnrad saßen, Großmutter, Mutter und Kinder; denn draußen lag harte, kalte Winterszeit.
Die Walburg erzählte von dem Ort, wo sie gewesen, wie dort die Menschen so gut seien, so friedlich, so lieb und so einig. Wie sie Spinnstuben hielten, Theater spielten und auch bisweilen einen Tanz täten.
Sie erzählte aber auch, daß noch viel Unglücklichere dort gewesen seien als sie, solche, die jammerten und tobten Tag und Nacht und keine Ruhe fänden in ihrem schweren Leid.
Und die anderen lauschten den Worten der Walburg. Die Gertrud aber seufzte jeweils schwer und immer schwerer und meinte: »Dort hinunter muß ich auch noch, sonst ist mir nimmer zu helfen.«
»Was schwätzest du, Meidle?« fuhr die Afra auf, »Du wirst mir um Gottes willen nit auch hintersinnig werden, wie die Walburg!«
»O Mutter,« seufzte die Gertrud, »mir ist schon lang so weh ums Herz, daß ich oft nimmer weiß, was tun. Wo ich bin, daheim, in Feld und Wald, ist's mir zu eng, als wollt' das Herz mir auseinanderbrechen und aus dem Leib heraus fortfliegen.«
Am andern Abend, ehe sie die Spinnräder wieder zusammenstellten, hatte sich die Gertrud aus der Hütte entfernt und war nicht mehr zurückgekommen.
Das Mondlicht stand über dem Schornwald, und man sah im tiefen Schnee ihre Fußtritte. Die Walburg und die Mutter gehen besorgt diesen Spuren nach, die durch den Wald führten der nahen württembergischen Grenze zu, wo einsam, von Wald umgeben, einige Hütten stehen und wo eine alte Freundin der Afra wohnt, die Mariann'.
»Die Gertrud ist gewiß bei der Mariann',« tröstete die Afra sich und ihre Begleiterin im Weiterschreiten durch den tiefen Schnee und den eiskalten Abend hin.
So war es. Bei der Mariann' trafen sie das Meidle und brachten es mit »Bitten und Betteln« dazu, mit ihnen heimzugehen.
Durch Wald und Schnee im kalten Mondlicht zog die Mutter Afra mit ihren zwei Kindern wieder heim. Aber hier wollte die Gertrud um keinen Preis bleiben. Sie müsse fort. »Heut' muß es sein!« rief sie und dazwischen immer wieder: »Lieber Heiland, liebe Muttergottes, helft mir!«
Fort will sie, fort in die kalte, schneeige Nacht hinaus, wo die eisige Luft ihre Nerven kühlt, und da die Mutter sie nicht gewähren läßt, fängt sie an zu schreien und zu toben, bis diese mitgeht, hinaus aus der Hütte, in der das kranke Meidle nur den Tod sieht.
Die Mutter sucht wieder Hilfe bei starken Männern und lenkt ihre Schritte nach der Richtung, wo solche wohnen.
In der nächsten Hütte ist keine Hilfe. Die dort wohnten, da die Afra noch jung war, sind längst gestorben, und ihre Tochter ist alt geworden und auch geisteskrank. Sie wohnt ganz allein im alten, zerfallenden Holzhaus am Wald, und wenn jemand naht, flieht sie in den Wald oder schließt sich ein.
Drum zieht die Afra mit ihrem Meidle an der einsamen Hütte vorüber, denn bei der Genofev ist kein Rat zu holen: sie ist selber krank und will von keiner menschlichen Seele was wissen, nicht einmal vom Pfarrer drunten im Tal.
Der Mond scheint so friedlich und die Sterne glitzern so lebensfroh auf Schnee und Tannen und auf die Mutter und ihr Kind, wie sie weiter schreiten bergauf, wo Hütten sind und Männer wohnen in den Waldhäusern.
Das kranke Meidle jammert, es sei müde und komme fast nimmer fort in dem tiefen Schnee.
»Wollen wir wieder umkehren und heim?« fragte die Mutter.
»Nein, nein!« ruft das Kind, »daheim ist alles tot!« und nimmt seine schwachen Kräfte wieder auf und schwankt weiter, die Mutter voll Wehmut ihm nach.
Sie kommen bald an die erste Hütte der Waldhäuser. In ihr wohnt Toni – der Wildschütz – der Vater.
»Soll ich dich zum Vater bringen?« fragt leise und schmerzlichen Tones die Afra. »Es brennt noch ein Lichtlein in der Stube.«
»Zum Vater?« fragt die Gertrud, »Nein, nein – ich habe keinen Vater. Fort, fort! Es ist alles tot!«
Sie keuchen weiter in Schnee und Mondschein – still und schweigend wie die silberne Nacht, durch die sie hinschreiten.
Dachte sie wohl im Weitergehen, die arme, schwergeprüfte Afra – an jenen duftigen Sommermorgen, da sie durch den Tau ging, um zu grasen, und der Wildschütz ihr das Lied sang:
Es wollt' ein Mädchen grasen,
Wohl grasen im grünen Klee,
Da kam ein stolzer Jäger,
Wollt' jagen in der Höh' –?
Und wenn sie jenen tauigen Morgen am Waldrand verglich mit der heutigen kalten Winternacht und an all das Leid dachte, das zwischen dem Morgenrot jenes Tages der aufgehenden Liebe und zwischen der jetzigen kalten Mondnacht und der Seelenangst ihres Kindes lag, was mußte da in ihrer Seele vorgehen!
Zum Glück für sie pflegen Waldleute nicht zu philosophieren, sonst wären sie oft auch so unglücklich wie die Kulturmenschen, wenn sie Einst und Jetzt vergleichen wollten.
Leute aus dem Volke tragen eben die Last des Lebens, wie sie kommt. Gewöhnt an harte Arbeit und an harte Lebensweise, nehmen sie auch die harten Tage mit auf die Schultern und schleppen sich weiter in Leid und Schmerzen, geduldig wie Lasttiere, die gleichmäßig zufrieden sind, ob sie unbelastet bergab gehen oder schwerbeladen bergan.
Wie tief und wie übermächtig aber einst das Leid auf der Afra lag, das zeigen ihre Meidle, deren Seelen nicht mehr so stark waren wie die Seele ihrer Mutter, welche die Last des Lebens trug, aber die Spuren der Schwere auf ihre Kinder vererbte. –
Wieder erscheint eine Hütte im Mondlicht, das durch die Tannen glänzt. Die Afra klopft und bittet um Einlaß und um Hilfe für ihr krankes Meidle, das sich hintersinnt habe und daheim nimmer halten lasse.
In der Stube bricht die Kranke todmüd zusammen, aber aus ihren Augen leuchtet der Irrsinn. Sie betten sie auf die Ofenbank, und Männer, aus der Nähe noch herbeigeholt, übernehmen für die Nacht die Hut bei dem unglücklichen Meidle, an dessen Seite stumm und still die Mutter sich niedersetzt.
Die Buren, so wachen sollen, spielen Karten am Stubentisch. Gen Mitternacht erhebt sich das kranke Meidle von der Ofenbank, schreitet vor zu den Spielern und ruft: »Jesus, Maria und Josef! Was tut ihr? Beten müßt ihr und nit spielen, wenn ein Mensch so unglücklich ist wie ich!«
Und sie beten mit dem Meidle, die braven Spieler, bis es ruhig wird. Und so wachen und beten und spielen sie eine Nacht, einen Tag und noch eine Nacht.
Am Morgen des dritten Tages aber führen sie die Kranke hinab ins Tal und auf die Bahn und dorthin, wo auch die Walburg gewesen.
In der Irrenanstalt traf ich am letzten Februartag des Jahres 1894 die Afra und den braven Bürgermeister. Sie hatten das Meidle eben »abgeliefert«, und die Mutter erzählte mir ihr Leid und das Leid ihrer Kinder so anschaulich, so kindlich und so ergeben in ihr hartes Geschick, daß ich mein eigenes Elend vergaß, solange die kleine, alte Frau vor mir stand.
Sie kam mir aber in diesem Augenblick groß vor und stark wie eine Tanne, welche der Sturm schüttelt, die aber nicht bricht, sondern unentwegt immer wieder ihre Aeste gen Himmel richtet.
»Zwei Kinder hab' ich jetzt hierherbringen müssen. Es hätt' mir nit weher getan, wenn sie gestorben wären, Aber man muß es halt nehmen, wie Gott es schickt« – so schloß sie ihre Rede, als ich am Tore von Illenau von ihr Abschied nahm.