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Hoher Gerichtshof (so spricht vor der Ersten Strafkammer des Landgerichtes Berlin II ein Anwalt des Rechtes): fern ist mir die Absicht, das Ergebniß der langwierigen Beweisaufnahme umständlich zu kritisiren, fern sogar der Wunsch, mit Worten das Gewicht einzelner Zeugenaussagen zu mindern, durch das Gegengewicht meiner Rede die Wagschalen auf annähernd gleiche Höhe zu bringen und so zu bewirken, daß Ihnen ein den Schuldspruch hemmender Zweifel bleibe. Auch will ich Sie nicht ins dunkle Gebiet supranaturaler Bedürfnisse und supranormaler Fähigkeiten führen, nicht fragen, welchen Werth der preußische Staatsbürger dem Spiritismus, der Theosophie, allen wechselnden Formen okkultistischen Dranges beizumessen habe. Die Frage schon wäre Vermessenheit; und den Versuch, ihr in foro die Antwort zu finden, überlasse ich gern dem Höhenwahn der Juristen, die sich als Allverwalter fühlen. Nein: Anna Auguste Rothe, die Frau eines Kesselschmiedes, die hier vor Ihnen kauert, hat keinerlei mediale Gaben. Mit ihrer Zunge sprachen nie Luther, Zwingli, Flemming, die Kaiser Wilhelm und Friedrich. Keines Verstorbenen Geist hat sich je in ihr offenbart. Die Blumen, Früchte, Zweige, Christusbilder und anderen Gegenstände, die Geister ihr apportirt haben sollten, holte sie aus dem Unterrock. Daran ist nicht zu zweifeln: denn beeidete Aussagen haben festgestellt, daß die Angeklagte die in den Sitzungen verwendeten Blumen selbst eingekauft hat. Eben so wenig dürfen wir daran zweifeln, daß ihr Manager, der frühere Cognachändler und Reporter Max Jentsch (der das bessere Theil erwählte und dem nicht immer langen Arm der Gerechtigkeit entlief) die Sache als einträgliches Geschäft betrieb. Er fand eine hysterische Frau von leicht geschmälertem Bewußtsein, eine kränklich aussehende Frau, deren große, glühende Augen auf schwache Sinne wirken; und diese Frau war in der Welt der Okkultisten schon berühmt. Aus ihrem Mund sprechen, mit ihrer Hand schreiben erlauchte Geister; aus dem Schattenreich ruft sie Gestalten, in denen die Zuschauer theure Tote erkennen; auf ihr Haupt regnen Blüthen herab und ihr hagerer Finger greift Früchte, Blumen, Zweige aus leerer Luft. Das ist viel, ist mehr, als die berühmtesten Medien vermochten; Eusepia Paladino selbst scheint übertroffen. Die Nachfrage steigt: überall wünscht man, die Geheimkunst der neuen Seherin kennen zu lernen. Max Jentsch aus Zittau und Anna Rothe, geborene Zahl, aus Altenburg verbünden sich. Von den Spirituosen zum Spiritismus ist, so mögen Witzbolde denken, nur ein Schritt. Jentsch treibt das Handwerk ins Große und wird der Ausbeuter der Frau, die hier eine Ausbeuterin menschlicher Dummheit genannt worden ist. Reichthümer erwirbt sie nicht; aber ich will annehmen, daß sie sammt ihrem Ehemann ein bequemes Auskommen hatte. Kann man dem Ankläger mehr konzediren? Ich könnte mich auf die Gutachten der Sachverständigen stützen und das Moment der verminderten Zurechnungfähigkeit, da unser Gesetz es leider nicht kennt, wenigstens für das Strafmaß, vielleicht auch für die Strafart geltend machen. Auch diesen letzten Nothausgang bedrängter Vertheidiger wähle ich nicht. Vom Boden der Anklage aus, auf den ich mich furchtlos stelle, fordere ich die Freisprechung der Angeklagten Anna Rothe; fordere sie im Namen des Rechtes und reinster Vernunft.
Ein Jahr lang und länger schon spricht man von dieser Sache. Seit dem Beginn der Hauptverhandlung hört man in vielen Gegenden unserer Intelligenzstadt überhaupt kaum noch von Anderem reden. In ganzen Stößen werden die Prozeßberichte verkauft. Nie, heißt es, habe sich ein »sensationellerer« Prozeß in den rothen Mauern von Altmoabit abgespielt. Ich muß gestehen, daß mir für die verheißene Sensation jedes Empfinden fehlt; daß ich nicht einmal zu erkennen vermag, wo sie eigentlich zu suchen sei. Sind die Thatsachen, die uns hier vorgeführt wurden, etwa neu, sind sie nicht vielmehr so typisch, so oft gesehen, daß der Kriminalist Mühe hat, ihnen noch gesammelte Aufmerksamkeit zuzuwenden? Mußten wir lange Lenztage hier verbringen, um zu erfahren, was wir erfuhren? Daß es Schlauköpfe giebt, die neben der graden Heerstraße ihre Geschäftchen machen? Daß übersinnlicher Drang manchmal in harte Thaler gemünzt wird? Selbst das »Kulturbild«, von dem Reportereifer so viel zu schwatzen weiß, dünkt mich nicht neu, verweilender Betrachtung nicht werth. Ja: unter uns leben Leute, denen die ratio, denen das vom Verstand Meßbare längst nicht mehr genügt und die jeden Spukglauben dem Positivismus vorziehen. In der Eisregion reinen Denkens erfröre ihr schlecht genährter Geist; im Fuselrausch entschlummert er wohlig. Das hätten wir gestern noch nicht gewußt? Typisch sind die Vorgänge, ohne die Spur individueller Differenzirung die Gestalten des Mediums, des Managers und ihrer Kundengemeinde; und typisch ist auch die Entschleierung des Schwindels. Das hysterische Weib wird von den lauten Erfolgen den Geboten der Vorsicht entfremdet und die Kriminalkommissare, die sich in die Sitzungen einschlichen, können den Blumenspuk leicht entlarven. So ungefähr war es immer; wirds immer sein. Neu ist nur Eins: der Versuch, die gelungene Spekulation auf die Ertragsfähigkeit blinden Glaubens als Betrug zu strafen. Neu und doch nicht in diesem Frühling erst ersonnen. Auch im Januar gabs eine »Sensation«; eine wirkliche sogar. Da saß in diesem Haus ein Kurpfuscher auf der Anklagebank. Wenn mir die Aufgabe zugefallen wäre, ihn zu vertheidigen, dann hätte ich meine ganze Kraft dafür eingesetzt, daß dieser Nardenkötter nur verurtheilt werde, weil er »ohne polizeiliche Erlaubniß Gifte oder Arzeneien, so weit der Handel mit ihnen nicht freigegeben ist, zubereitet, feilgehalten, verkauft« hatte. Paragraph 367 [3]; Geldstrafe bis zu einhundertfünfzig Mark oder Haft. Der Mann wurde des unlauteren Wettbewerbes und des Betruges schuldig gesprochen und auf Jahre ins Gefängniß gewiesen. Er habe mehr versprochen, als er leisten konnte. Das thut ein Wahlkandidat, ein Zeitungverleger, ein approbirter Arzt oder Bazarinhaber sicher nie; und nie hat einer meiner Kollegen einem Angeklagten gesagt: Wenn Sie mir Ihre Sache übertragen und den nöthigen Vorschuß geben, ist Ihre Freisprechung so gewiß wie das Amen in der Kirche. Nardenkötter sollte betrogen haben, weil er ohne ärztliche Kenntniß, meist, ohne die Kranken auch nur zu sehen, Rezepte verschrieb; und er konnte doch nachweisen, daß der Prozentsatz der von ihm erzielten Heilungen mindestens eben so groß war wie bei Durchschnittsdoktoren, konnte sich darauf berufen, daß er, wie ein richtiger Doktor... Der Herr Vorsitzende will mich unterbrechen. Und ich brauche über den Fall Nardenkötter auch nicht mehr zu sagen; ich erwähnte ihn nur, um zu zeigen, wohin die Reise gehen soll. Damals forderten Aerzte (nicht alle; so gering schätze ich den Stand nicht), jetzt fordern Vertreter okkulter Wissenschaft die strengste Strafe. In beiden Fällen regt sich die gekränkte Konkurrenz in heller Wuth. In beiden Fällen soll der Strafrichter leisten, was die Männer der Wissenschaft, die doch ein Monopol für sich heischen, nicht zu leisten vermochten: er soll des Aberglaubens altes Bett wegschaffen. Das aber kann niemals die Aufgabe des Strafrechtes sein; und würde ihm diese Aufgabe gestellt, es müßte, noch bei grausamster Härte, ohnmächtig versagen. Wer die Anklageschrift liest, mag sich nach Utopia träumen oder ins Zukunftland der Kommunisten, die sonst als Umsturzertrachter am Pranger stehen. Seit wann verbietet unsere Rechtsordnung die Ausnützung der Leichtgläubigkeit? Das Ziel der anerkannten sozialen Ordnung ist, Rechtsgüter zu schützen. Rechtsgüter, sagt Liszt, sind Lebensinteressen, Interessen des Einzelnen oder der Gemeinschaft. Ist Blindheit, Dummheit (nennen Sies, wie Sie wollen) ein Rechtsgut, ein Lebensinteresse des Einzelnen oder der Gemeinschaft? Wer einen Blinden zu Fall bringt, beschädigt, im Gebrauch der Glieder, in seiner Erwerbsfähigkeit verkürzt, tastet ein Rechtsgut an. Welches Rechtsgut aber ist verletzt, wenn der Blinde in den Glauben überredet wird, er habe sein Augenlicht wiedererlangt? Wenn eine Witwe, eine Waise aufathmend in die Zwangsvorstellung kriecht, sie stehe mit ihrem Mann, mit dem Vater, der Mutter in engem Rapport, höre die lange entbehrten Stimmen, empfange aus lieber Hand duftenden Gruß? Vielleicht fand des Priesters Wort taube Ohren. Vielleicht war der Glaube ans Himmelreich früh entwurzelt, die Hoffnung auf ein Wiedersehen am Thron des Herrn schon in der Kinderstube verblüht. Glaube ist persönlichster Besitz; und der Wahn, der uns thöricht dünkt, kann dem Nächsten ein starker Trost sein; der einzige, der ihn auf schwankem Grunde hält.
Gelehrten Richtern brauche ich, so lange nach Charcot, nicht noch von der Bedeutung der Suggestion und Autosuggestion zu sprechen; und ich bin entschlossen, Alles zu meiden, was meine Rede mit dem Bleigewicht wissenschaftlicher und scheinwissenschaftlicher Argumente befrachten, dem Ruf nach Gerechtigkeit die Resonanz hemmen könnte. Nur warnen will ich, vor dem ersten, dem entscheidenden Schritt auf einem Wege warnen, dessen Ende Sie, gerade Sie mit Entsetzen sähen. Hinter dem Richter, der im Namen Gottes, im Namen des Königs Recht spricht, stehen Andere, denen der Glaube an Gott und König Wahn ist, eitler, längst veralteter Wahn, der nur in lichtlosen Hirnzellen noch nistet. Die horchen auf Ihren Spruch. Weiß der Prediger, daß es ein Auferstehen im Jenseits giebt, weiß nicht mancher Talarträger, daß seine Verheißung sich nie erfüllen kann? Und wenn die Gottlosen mit derber Faust nun einen Prediger packten, ihm bewiesen, aus Reden, aus Briefen meinetwegen, daß er die Seligkeit, die seine Lippe preist, nicht glaubt, daß er die Oblate, die er als den Leib des Heilands dem Gläubigen reicht, beim Bäcker bestellt und gekauft hat, in Massen, ums billiger zu haben: ist der »Entlarvte« dann ein Betrüger? Denken Sie an den großen Glaubenskomplex unserer katholischen Mitbürger, an die Wunderkraft der Gnadenbilder, Reliquien, Heiligen Röcke, an Alles, was der akatholische Sinn Aberwitz schilt. Ist hier Betrug? Man könnte einwenden, in diesen Fällen fehle der »rechtswidrige Vermögensvortheil«, den das Gesetz als Thatbestandsmerkmal verlangt. Fehlt er aber wirklich? Ohne die alte Glaubensschatzkammer keine Kirche; ohne Kirche keine Pfründe. Der Vermögensvortheil, den die Vorspiegelung falscher Thatsachen gewährt, ließe sich in jedem der angedeuteten Fälle leicht nachweisen. Nur eben: rechtswidrig wäre er nicht; denn mit unserer Gesellschaftordnung wurde das Recht geboren, das transszendente Sehnen menschlicher Schwachheit zu stillen, dem überlebenden Glauben an supranaturale Kräfte Nahrung zu bieten, – auch gegen Entgelt.
Von diesem Recht hat die Angeklagte auf ihre Weise Gebrauch gemacht. Ob sie im Trance-Zustand selbst glaubte, was ihr Mund sprach, ob sie immer bewußt log: ich frage nicht danach, frage hier auch den Minister nicht, ob er stets Wahrheit kündet, nicht den Heerführer, ob er in vollem Bewußtsein nicht oft mit falschen Thatsachen Vorstellungen erregt, die ihm selbst oder der von ihm vertretenen Sache nützlich werden können. Frau Anna Rothe hat kein Rechtsgut verletzt, das Vermögen keines Anderen beschädigt. Was sie gab, war die zwei oder drei Mark reichlich werth, für die der Einlaß ins Sitzungzimmer zu kaufen war; wie viele Illusionen haben wir Alle schon wesentlich theurer bezahlt! Was ists denn, das wir in Domen, in Wahlversammlungen und Schauspielhäusern suchen? Die Wenigsten glauben dem Pfarrer aufs Wort, lauschen der tönenden Kandidatenrede wie Heil bringender Botschaft, halten die geschminkte Dame da oben für Maria Stuart. Und doch weht von der Kanzel, von der Tribüne und Bühne tröstend ein frommer Schauder herab und dennoch schluchzt im Saal die Menge gebildeter Bürger, wenn Maria aufs Schaffot geführt wird. Die schwache Möglichkeit holder oder kräftig aufrüttelnder Illusion wiegt unsere Bedrängniß gern mit Gold auf; diese Möglichkeit ist ihr so theuer, daß der höchste Preis nicht zu hoch schien: wir schufen, wir stützen mit aller Kraft den Glauben an ein Recht, das uns mehr sein solle als der Ausdruck willkürlich herrschender Gewalt. Und genau die selbe Möglichkeit suchte und fand die Gemeinde bei Frau Anna Rothe. Vor Ihnen sitzt eine Frau, die ihre Kunden »reell« mit Illusionen bedient hat; keine Betrügerin: eine Gestalt, wie sie im trüben Zwielicht unserer Heuchelkultur in hundertfacher Differenzirung zu finden sind. Am hellen Tag erst schwindet der letzte Spuk. Noch nicht... Ich bitte um Ihren Spruch.