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Kapitel VII.
Meine Stellung in London

Nun waren meine Lehrjahre zu Ende. London zog mich unwiderstehlich an, ich weiß kaum warum. Es machte auf mich einen viel tieferen Eindruck als Newyork. Außerdem hatte ich Angst vor einem Malariarückfall, wenn ich in die Staaten zurückging. Ich beabsichtigte, auch den Einführungsbrief auszunutzen, den mir Carlyle an Froude gegeben hatte. Ich wollte abwarten, was sich daraus ergeben würde. Mein knabenhafter Entschluß, in jede Arbeit mein ganzes Herz zu legen, sie so gut zu machen, wie es nur ging, war noch von ungebrochener Kraft. Ich stellte es mir ebenso leicht vor, die Auster des Erfolges in London aufzumachen wie in Newyork. Ich hielt es für noch leichter sogar. Ich fuhr von Paris nach London, nahm mir ein Zimmer im Grosvenor Hotel, und am nächsten Morgen machte ich in Onslow Gardens Besuch. Froude war jedoch verreist und wurde erst in einem Monat in London erwartet. Ich wollte mir seine genaue Adresse aufschreiben, und das Mädchen bat mich ins Eßzimmer und brachte mir Schreibpapier. Die Einrichtung des Zimmers, die Bilder an den Wänden machten auf mich den Eindruck von Wohlhabenheit und künstlerischer Geschmacksicherheit, die alles übertraf, was ich in Newyork sah. Ich empfand es, wie recht Emerson hatte, als er sagte: »Das Los des Engländers ist noch immer das beste auf der Welt.« Vierzig Jahre sind seither vergangen, und hauptsächlich der Weltkrieg hat alles verändert. Das Leben in Newyork kommt einem heute luxuriöser vor als das in London, obwohl es an den verfeinerten Geschmack nicht heranreicht.

London selbst machte mir vieles beim Engländer klar. Es ist von einer gewaltigen Größe. Seine Energie ist grenzenlos. Es ist, trotz des elenden Klimas, gesund, sauber und gut mit Wasser versorgt. Aber es hat keinen Schwung. Man denke an Eastend, an die schmalen, häßlichen Straßen und die kriechenden Häuserklumpen, oder an Westend, das komfortabel, prätenziös und mit seiner Stuckkulisse von auffallender Vulgarität ist. Aber es gibt auch Parke mit schönen Rasen und geräumige Plätze, auf denen man einen Hauch von Natur erlebt, und hie und da ein vornehmes Haus, einen feingezeichneten Kirchturm oder eine abenteuerlich kühne Brücke.

Das schlimmste ist, daß es keinen Plan, keine allgemeine Idee gibt, der diese unermüdliche Aktivität untergeordnet wäre. Die Stadt ist von Bibern und nicht von Menschen gebaut, überall Fleiß und keine Intelligenz. Sie deprimiert den Geist. Ihr Rauch und Nebel sind ebenfalls charakteristisch, es gibt kein großzügiges Ideal; laß uns im Nebel leben, solange wir gut essen und ruhig schlafen. Aber es gibt auch keinen unnötigen Lärm. London ist die ruhigste aller Städte, und die Transportmittel sind billig und ausgezeichnet.

Nach der großen Feuersbrunst entwarf Wren den Plan eines neuen London. Die große Kathedrale, auf einem weiten, nach der Themse geöffneten Platz, sollte das Zentrum bilden. Drei große Boulevards sollten westwärts von St. Paul parallel zum Flusse laufen, hundertfünfzig Fuß breit in der Nähe der Kathedrale und sich verengend in das Land hinein; ungefähr jede halbe Meile sollte eine Pfarrkirche auf einem parkähnlichen Platze stehen, und so hätte man das Ufer, den Strand und die Oxford Street in den großzügigen Plan eingegliedert, aber die Architekten zogen es vor, zu bauen, wie ihre Väter gebaut hatten: ohne Plan und Ziel! Und hier haben wir das erbärmliche Ergebnis: enge, krumme Straßen im Herzen der Stadt ohne Gedanken, ohne Seele. London ist die häßlichste der großen Hauptstädte mit Ausnahme vielleicht von Berlin, und doch, wenn die Engländer Wren gefolgt hätten, wäre es vielleicht eine der schönsten geworden. Ich ging zurück nach dem Grosvenor Hotel und überlegte mir, ob ich Froude in die Sommerfrische folgen oder versuchen sollte, in London Arbeit zu bekommen. Ein Vorfall bestimmte meinen Entschluß.

Als ich einmal nach dem Mittagessen im Rauchsalon saß, wurde ich auf zwei Herren aufmerksam. Es war ein regnerischer Nachmittag, und die beiden verbrachten die Zeit im Wetten auf Fliegen, die auf den Fensterscheiben herumkrochen. Der eine sagte: »Ich wette fünfhundert, daß die eine in zwei Minuten höher kommt.« Darauf der andere: »Und ich wette tausend, daß meine zuerst nach oben gelangt.« Der jüngere Mann war vollkommen betrunken, und ich sah, daß sein älterer Freund versuchte, ihn zu verwirren, indem er drei oder vier verschiedene Wetten auf einmal vorschlug. Ich begann, sie genauer zu beobachten, und es wurde mir bald klar, daß der ältere den jüngeren betrog. Plötzlich hörte ich ihn zu meinem Staunen sagen: »Es sind an zehntausend, die du mir schuldig bist – eine ganze Menge für so ein idiotisches Spiel!« Der jüngere Mann nahm sich zusammen und bemerkte mit dem ganzen gewichtigen Ernst eines Besoffenen: »Nur fünf, Gerald, im Höchstfalle! Du hast die Tausende vergessen, die ich mit dem Brummer gewonnen habe!« – »Nein, nein, die habe ich mitgezählt«, erwiderte der Gauner. »Erinnerst du dich denn nicht? Es war ganz im Anfang, als ich dir zweitausend schuldig war.«

»Du bist verdammt schlau, Gerald«, sagte der Jüngling zögernd und dann mit plötzlichem Entschluß: »Ich gebe dir heute abend einen Wechsel.« Sein Freund nickte: »Also gut, alter Freund!«

Als die beiden das Zimmer verließen, ließ ich mir den Kellner kommen. »Wer sind denn diese Herren?« fragte ich. – »Der junge ist Lord C, Sohn des Earl of D. Der andere wohnt nicht bei uns. Er ist mit ihm befreundet und heißt, wenn ich nicht irre, Costello. Lord C. verträgt schon eine ganze Menge, er ist nicht oft so betrunken wie heute –.«

Lord C. hatte auf mich, ich weiß eigentlich nicht, warum, einen angenehmen Eindruck gemacht, und ich entschloß mich, ihm die Augen für die Tatsache zu öffnen, daß er gewonnen und nicht verloren hatte und keineswegs seinem Freund fünftausend Pfund schuldig war.

Ich setzte mich daher sofort hin, verfaßte einen genauen Bericht des Vorgefallenen und schickte ihn Lord C. aufs Zimmer. Am nächsten Morgen bekam ich einige Zeilen von ihm, in denen er mir in warmen Worten dankte und mich bat, ihn im Rauchzimmer zu treffen. Ich fand ihn merkwürdig großzügig und bereit, noch Entschuldigungen für den sogenannten Freund zu finden, der ihn so offensichtlich betrogen hatte. Ich war jedoch empört und bat ihn, meinen Brief so, wie er war, an seinen Freund zu schicken. Ich stand für jedes Wort ein, das ich geschrieben hatte. »Sehr gütig von Ihnen,« meinte Lord C., »ich werde es wohl tun. Halten Sie sich lange in London auf? Wollen Sie mit mir heute zu Mittag essen?« Ich sagte zu, und beim Mittagessen erzählte ich ihm, daß ich nach Salcombe gehen wollte, um Froude zu sehen. Er kannte Salcombe und sprach mit Bewunderung von den landschaftlichen Schönheiten der Devonküste und der ganzen Grafschaft. »Sie müssen mit dem Wagen hin,« sagte er mir, »das ist die beste Weise, unsere englische Landschaft kennenzulernen.«

Ich zuckte bedauernd die Achseln. »Ich bin nicht reich genug, um mir ein solches Vergnügen zu leisten. Ich muß bald an die Arbeit.«

Am nächsten Morgen sagte man mir, daß mich jemand am Hoteleingang erwarte. Ich fand dort einen Groom mit einem Dogcart, der mir einen Brief von Lord C. übergab. Lord C. bat mich, den Wagen zu benutzen, um nach Salcombe zu fahren. »Mein Groom kennt jeden Fußbreit des Bodens,« fügte er hinzu, »und ich werde ihn im Laufe des Monats nicht brauchen. Sie haben mir einen sehr großen Dienst geleistet, und ich hoffe, Sie erlauben mir, mich Ihnen auf diese Weise erkenntlich zu erzeigen. Ich bitte Sie nur eines, nichts über die Wettgeschichte zu erzählen.«

Aber es ist wohl nicht schlimm, wenn ich sie hier nach vierzig Jahren erwähne.

Am nächsten Tage, nachdem ich Lord C. für seine Güte gedankt hatte, machte ich mich auf den Weg nach Salcombe, und ungefähr vierzehn Tage später langte ich bei Froude in seinem Hause auf der vorspringenden Meeresklippe an. Ich wurde in ein entzückendes Zimmer geführt und händigte dem Diener den Brief Carlyles an Froude ein. In wenigen Minuten kam Froude mit dem Briefe in der Hand. Er war groß und schlank, hatte ein asketisches Gelehrtengesicht. »Ein außergewöhnlicher Brief«, begann er. »Wissen Sie denn, was Carlyle mir schreibt?«

»Nein, ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Ich steckte ihn in die Tasche, als er ihn mir gab, und als ich ihn herausholte, fand ich, daß er sich zugeklebt hatte, und ich wollte ihn nicht öffnen. Ich glaube jedoch, daß er sehr freundlich ist und mir mehr als gerecht wird.«

»Er ist verblüffend«, unterbrach mich Froude. »Carlyle bittet mich, Ihnen in Ihrem literarischen Streben zu helfen, und sagt, daß er von Ihnen mehr erwartet als von irgendeinem, den er seit der Trennung von Emerson getroffen habe. Ich wäre sehr stolz gewesen, wenn er das von mir gesagt hätte. Bitte, setzen Sie sich doch und erzählen Sie, wann Sie ihm begegnet sind. Ich habe ihn immer für den besten Kopf, den größten Mann unserer Zeit gehalten –«, und seine grauen Augen ruhten forschend auf mir.

»Er ist mein Held gewesen, seitdem ich zuerst seine letzten Schriften und ›Helden und Heldenverehrung‹ gelesen hatte, als ich noch Cowboy in Westamerika war.«

»Cowboy?« erwiderte Froude verblüfft.

»Auf Carlyles Rat habe ich vier Jahre lang die deutschen Universitäten besucht und habe jetzt meine Ausbildung mit einem Jahre in Athen abgeschlossen.«

»Wie interessant«, meinte Froude, der offensichtlich nicht verstand, daß Abenteuer nur dem Abenteuerlichen begegnen. Wir sprachen länger als eine Stunde. Aber als er spät auf den Einfall kam, mich zum Essen einzuladen, sagte ich ihm, ich hätte mich in der nächstgelegenen Stadt mit einem Freunde zum Frühstück verabredet. Als wir uns trennten, versicherte er mir, er würde in ungefähr vierzehn Tagen nach London zurückkehren und dann ein Essen geben, zu dem er Chennery, den Herausgeber der »Times«, und andere wichtige Leute einladen wolle. Er beabsichtige sein Bestes zu tun, um Carlyles Wünschen zu entsprechen. Ich dankte ihm warm, betonte jedoch, daß ich ihm nicht die geringste Mühe verursachen möchte. Er fragte mich dann nach meinen literarischen Arbeiten, und ich zog ein schmales, gebundenes Buch aus der Tasche, in das ich mit meiner besten kalligraphischen Handschrift einige Gedichte, hauptsächlich Sonette, geschrieben hatte, und übergab es ihm.

Kurz darauf trennten wir uns, ich kehrte in meinen Gasthof zurück, und am nächsten Morgen fuhr ich auf einem anderen Wege nach London. Das englische Land gefiel mir sehr gut. Alles war nett und gut erhalten, aber die Landschaft hatte keinen großen Zug, ließ sich weder mit der Schönheit von Catskills, noch mit dem erschütternden Wunder von Ostfrankreich vergleichen, geschweige denn mit den Rocky Mountains.

Kaum hatte ich mich von Froude getrennt, als es mir klar wurde, daß ich ein Narr wäre, wenn ich mich auf seine Hilfe verlassen wollte. »Hilf dir selbst, mein Freund,« sagte ich mir, »wenn er dir hilft, dann umso besser, und wenn nicht, dann schadet es auch nichts.« Ich hatte noch einige hundert Pfund in der Tasche.

Als ich London erreichte, schickte ich den Groom mit dem Dogcart und dem Pferd zu Lord C. zurück und dankte ihm für die herrlichen Ferien und die köstliche Fahrt. Noch am selben Tage mietete ich mir Zimmer in der Nähe des Britischen Museums für ungefähr ein Pfund in der Woche, und dort packte ich meine Sachen aus. Ich verständigte den Portier im Grosvenor Hotel, daß ich mir meine Briefe dort einmal in der Woche abholen würde. Nach meiner Bekanntschaft mit Lord C. kam man mir im Hotel sehr höflich entgegen.

Einige Tage später sah ich in einer der Zeitungen eine Notiz über John Morley und »The Fortnightly Review«, die als »die literarischste aller unserer Revuen« bezeichnet wurde. Ich schrieb mir die Adresse in der Henrietta Street, Covent Garden, auf, und ohne Zeit zu verlieren, ging ich hin, obwohl es erst neun Uhr morgens war. Ich fand zu meinem Erstaunen, daß das Bureau eine Art von Laden des Verlages Chapman und Hall war. Der Verkäufer hinter dem Ladentisch erklärte mir, Herr Chapman käme gewöhnlich erst gegen elf, und fragte mich, ob ich warten wollte. Nichts war mir lieber, und so setzte ich mich hin und wartete.

Gegen halb elf kam Chapman an, ein gutaussehender Mann, nicht mehr ganz jung, mit dünnwerdendem Haar und einer Neigung zur Körperfülle. Ich stand sofort auf, sobald ich seinen Namen hörte, und er führte mich auf sein Zimmer im ersten Stock. Ich erzählte ihm, ich hätte eben Froude besucht, an den ich einen Empfehlungsbrief von Carlyle erhalten hätte.

Es machte augenscheinlich einen großen Eindruck auf ihn. Er bedauerte, daß er keine Arbeit für mich hatte. Aber als ich ihm davon sprach, daß ich für die »Fortnightly« arbeiten wollte, sagte er mir, ich sollte am Nachmittage zurückkommen und mit Escott sprechen, der an Stelle von John Morley das Blatt redigierte. Um vier Uhr kam ich zurück, und Chapman stellte mich T. H. S. Escott vor. Escott war ein gutaussehender, sehr gut gekleideter Mann, dessen herablassender Hochmut mir sofort seinen vollkommenen Mangel an Originalität preisgab. Aber ich nahm es bloß als eine unerwartete Schwierigkeit hin, die es zu überwinden galt. Escott war sehr neugierig, auf welche Weise ich Carlyle kennenlernte und was Froude mir gesagt hätte, aber zum Schluß wies er mich glatt ab.

»Ich habe nichts für Sie zu tun, es tut mir leid«, fertigte er mich kurz ab. – »Haben Sie nie Übersetzungen?« fragte ich. – »Selten,« erwiderte er, »aber ich werde mir Ihren Namen merken.« – »Geben Sie sich keine Mühe«, erwiderte ich. »Ich werde jeden Tag kommen, und wenn es nichts zu tun gibt, dann schadet es auch nichts. Ich werde jedoch zu Ihrer Verfügung sein, wenn Sie jemanden zum Korrekturlesen oder zur Durchsicht eines Artikels brauchen.« »Wie Sie wollen«, sagte er und zuckte verächtlich die Achseln.

Jeden Morgen fand ich mich in dem Laden ein. Wenn Chapman hereinkam, beantwortete er mit gewisser Verlegenheit meinen Gruß. Wenn Escott am Nachmittag kam, ging er in die Hinterräume oder auf sein Redaktionszimmer durch und tat so, als sähe er mich nicht. Ungefähr nach einer Woche bat mich Chapman auf sein Zimmer und sagte mir höflich, ich hätte wohl jetzt eingesehen, daß es für mich nichts zu tun gäbe. Wäre es da nicht besser, es wo anders zu versuchen, statt hier vergeblich herumzusitzen? Ich war sicher, daß die Anregung dazu von Escott kam.

»Ich hoffe, daß ich Sie nicht störe,« sagte ich, »ich werde wohl bald regelmäßige Arbeit bekommen, ich werde es Ihnen sagen, sobald es der Fall ist. Inzwischen haben Sie hoffentlich nichts dagegen, daß ich zu Ihrer Verfügung bin.«

»Nein, nein,« beeilte er sich zu sagen, »ich habe es nur Ihretwegen gesagt. Es tut mir leid, daß ich nichts für Sie zu tun habe.« Darauf lächelte ich und ging weg bis zum nächsten Tage, an dem ich mich wieder im Bureau einfand.

Inzwischen spannte ich eine neue Sehne auf meinen Bogen. Auf einer Eisenbahnreise hatte ich einen Anwalt namens A. R. Cluer kennengelernt, und als wir die Gleichartigkeit unseres Geschmacks und unserer Interessen entdeckten, freundeten wir uns bald an. Er wohnte in ›The Temple‹, und eines Tages fragte er mich, warum ich mich nicht bemühte, beim »Spectator« anzukommen. Er riet mir, Escott um eine Einführung an den Chefredakteur Hutton zu bitten. Aber ich wollte von Escott keine Gefälligkeit, und so entschloß ich mich, allein in das Bureau des »Spectator« zu gehen.

Ich sagte dem Redaktionsdiener, daß ich Herrn Hutton sprechen möchte. »Sind Sie bestellt?« fragte er. – »Nein«, erwiderte ich und nahm zugleich einen Sovereign heraus und legte ihn vor ihn hin. »Sagen Sie mir, wo Herr Hutton ist, und das Geld gehört Ihnen.«

»Im zweiten Stock,« flüsterte der Diener eilig, »aber Sie werden mich nicht verraten?«

»Nein, nein,« versicherte ich ihm, »ich gehe sofort nach oben, und Sie brauchen mich hier gar nicht gesehen zu haben.«

Als ich im zweiten Stocke angelangt war, klopfte ich an die Tür. Keine Antwort! Eine Minute später klopfte ich lauter. »Herein«, hörte ich und öffnete die Tür. An dem Tisch saß ein großer, dicker Mann mit dem Rücken zu mir, im Korrekturlesen versunken. Er war anscheinend sehr kurzsichtig, da er die Manuskripte fast mit der Nase berührte. Ich stand einige Augenblicke schweigend da, sah mir den Raum mit den großen Bücherschränken an, und dann räusperte ich mich laut. Der große Mann ließ sein Glas auf den Tisch fallen und drehte sich so verblüfft um, daß er fast alle Höflichkeit vergaß.

»Großer Gott,« rief er aus, »wer sind Sie denn? Wie sind Sie denn da hereingekommen?«

»Mein Name wird Ihnen nicht viel sagen, Herr Hutton,« erwiderte ich lächelnd, »und ich will Sie auch nicht bemühen. Ich will arbeiten, ich glaube, daß ich schreiben kann – –.«

»Wir haben zu viele Menschen, die schreiben,« stieß er hervor, »wir können kaum Arbeit für die finden, die wir kennen.«

»Lücken gibt es überall«, erwiderte ich. »Wenn ich mich nun besser bewährte als die Leute, die Sie haben, wäre es ja in Ihrem Interesse, mich zu verwenden.«

»Meiner Seel',« rief er aus, »glauben Sie denn, daß Sie besser schreiben als wir alle?«

»Nein, nein,« berichtigte ich, »aber es gibt gewisse Themen, die ich besser kenne als irgendein Engländer. Sie werden es am besten beurteilen können. Nach den ersten zehn Zeilen eines Artikels werden Sie wissen, ob ich bloß eingebildet bin oder ob Sie mich brauchen können.«

»Das stimmt«, erwiderte er, stand auf und ging an den Bücherschrank heran. »Wissen Sie etwas über Rußland?«

»Ich war mit General Skobelieff bei Plewna.«

»Du meine Zeit!« rief er wieder aus. »Hier ist ein Buch über Rußland und den Krieg, das Sie interessieren wird.« Und er händigte mir einen Band ein. »Wissen Sie etwas Genaueres über die Vereinigten Staaten?« fuhr er fort und kramte weiter in den Büchern.

»Ich bin auf einer Universität im Westen gewesen,« erwiderte ich, »und habe als amerikanischer Anwalt praktiziert.«

»Wirklich?« rief er aus. »Hier haben Sie ein Buch von Freeman über Amerika, das Sie vielleicht amüsieren wird. Scheuen Sie sich nicht, die Wahrheit zu sagen,« fuhr er fort, »selbst wenn Sie ihm widersprechen müssen.«

»Ich danke Ihnen von Herzen,« erwiderte ich, »ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich will nichts weiter als die Gelegenheit, zu zeigen, was ich kann.« Und ich ging sofort weg, nicht ohne vorher ein gütiges Leuchten in den forschenden Augen entdeckt zu haben, die mir zeigten, daß Richard Holt Hutton einer dieser wirklich vornehmen Menschen war, die mit der Schroffheit ihrer Manieren die wahre Güte ihrer Natur maskieren oder vielleicht schützen wollen.

Als ich herunterkam, zeigte ich dem Diener die Bücher zum Beweise, daß er keine Unannehmlichkeiten haben würde, dankte ihm nochmals und ging dann zu Cluer. Als Cluer die Bücher sah und hörte, daß ich mit Hutton gesprochen hatte, rief er aus: »Ich weiß nicht, wie Sie es fertiggekriegt haben, ich habe die ersten Ehren in Oxford gewonnen, und ich schrieb ihm, aber ich bekam ihn nicht einmal zu sehen. Wie haben Sie es angestellt?«

Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte ich es ihm, und wir diskutierten über die Bücher. Ich befolgte jedoch Cluers Rat nicht und machte mich nicht gleich an die Arbeit. Ich setzte mich zuerst hin und dachte nach. Seit meiner Rückkehr nach London waren viele Tage verflossen, und ich hatte bis jetzt noch nicht die leiseste Hoffnung auf Erfolg. Was sollte ich denn tun? Es mußte bald etwas geschehen.

Ich sah sofort ein, daß ich das Ziel kennen mußte, das zu erreichen galt. Um R. H. Hutton zu gewinnen, mußte ich ihn erst gründlich kennenlernen. Ich ging daher am nächsten Morgen ins Britische Museum und ließ mir alle seine Bücher geben. Ich bekam mehr als ein Dutzend gewichtiger Bände und las sie in den nächsten zwei Tagen durch. Jetzt sah ich die Seele R. H. Huttons klar vor mir als eine sehr kleine Einheit, ein sanft frommes Gemüt von tiefer Religiosität. »Er wird sich freuen, wenn ich Freeman herunterreiße,« sagte ich mir, »denn er weiß, daß Freeman eingebildet, aufdringlich und aggressiv ist. Ich werde Hutton das bieten, was ihm gefällt.«

Ich ging nach Hause und gab mir alle Mühe, um über das russische Buch eine erschöpfende Besprechung zu schreiben. Dann las ich sehr sorgfältig den Freeman durch, und als ich fand, daß er wirklich der Typus eines arroganten, pompösen Pedanten war, der Bildung mit Weisheit verwechselte, ließ ich mich gehen und schrieb eine ehrliche, aber absprechende Kritik seines tatsächlich belanglosen Buches. Ich schloß meine Besprechung mit den Worten: »Ähnlich wie Malebranche alle Dinge in Gott münden sah, so sieht Freeman alles in dem dicken, breithüftigen, aggressiven Teutonen enden.«

Ich hatte mir in meiner ersten Woche in London noch einen Freund gewonnen, der mir viel helfen sollte, Ehrwürden John Verschoyle, der damals Kurat in der Marylebone-Kirche war. Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn traf, aber bald entdeckte ich in ihm eines der verblüffendsten literarischen Talente jener Zeit; mit einer poetischen Begabung, die fast an Swinburne heranreichte.

Verschoyle stammte aus guter Familie, war vom Trinity College in Dublin nach Cambridge gekommen, wo er mit siebzehn Jahren griechische Gedichte für das Jahrbuch der Universität schrieb. Auch seine englischen Gedichte fand ich wunderbar. Er hatte ein seltenes lyrisches Talent. Obwohl er nur vielleicht einen Zoll größer war als ich, maß er fünfzig Zoll im Brustumfang und war verblüffend kräftig. Ich nannte ihn das »zu einer Fregatte zusammengeschrumpfte Linienschiff«. Er sah ausgezeichnet aus, eine hohe Stirn, gutgeschnittene Züge, langer, blonder Schnurrbart. Unter allen Menschen, die ich in meinem Leben getroffen hatte, hätte man von ihm am ehesten etwas Großes, wenigstens auf literarischem Gebiete, erwartet. Und doch hatte er es zu nichts gebracht und starb frühzeitig im besten Lebensalter.

Er besuchte mich gerade, als ich meine beiden Besprechungen beendet hatte, und ich gab sie ihm natürlich zum Lesen. Er kannte Huttons Werke. »Ein orthodoxer Anglikaner,« sagte er über ihn, »der Newman über alles bewundert!« Er erklärte gleich, daß Hutton den Artikel über Rußland sicher nehmen würde, denn es sei neu und unerwartet, daß Rußland Zeichen revolutionären Geistes zu zeigen beginne.

»Ich bitte Sie um Ihre Kritik«, drang ich in ihn. »Zeigen Sie mir die Fehler. Ich bin im Deutschen heimischer als im Englischen.« Er lächelte: »Hier ist ein Satz, der es beweist, und hier, glaube ich, noch einer!« Bald stritten wir uns heftig herum, aber er überzeugte mich schnell, daß meine Selbstzweifel berechtigt waren. Die Art und Weise, wie er mit mir die beiden Artikel durchging, war der beste Unterricht im Englischen, der mir je zuteil wurde. Von diesem Tage an hatte ich jahrelang die Bibel und Swift auf meinem Nachttisch liegen, und in dieser ganzen Zeit nahm ich kein deutsches Buch zur Hand, nicht einmal meinen geliebten Heine oder Schopenhauer. Ich hatte Jahre gebraucht, um Deutsch zu lernen, aber es kostete mich doppelt soviel Zeit, um mein Hirn von jeder Spur dieser Sprache zu säubern. Kein Schriftsteller sollte je versuchen, zwei Sprachen zu meistern. Ich schrieb die kleinen Aufsätze noch einmal um und schickte sie dann zu Hutton.

Am nächsten Tage war ich wieder auf meinem Posten in der »Fortnightly«, und als ich Chapman sagte, daß ich für den »Spectator« arbeitete, lachte er und beglückwünschte mich, und einen oder zwei Tage später ließ er mich kommen und gab mir einige Bücher mit der Bitte um Meinungsäußerung. »Meredith ist unser Lektor,« sagte er, »aber er braucht Wochen, um seine Meinung zu formulieren, und ich möchte über diese Bücher sobald wie möglich Bescheid wissen.«

Meine Gelegenheit war gekommen. Ich dankte ihm, ging geradewegs nach Hause, setzte mich sofort hin und las die Bücher sorgfältig durch. Es nahm mir den ganzen Tag in Anspruch, und ich schrieb meine Besprechung bis spät in die Nacht hinein. Am nächsten Morgen ging ich zu Verschoyle hin, der die Aufsätze richtig fand und auf einen beträchtlichen Fortschritt in meinem Englisch hinwies. »Die kurzen Sätze sind ganz richtig. Sie dürfen nur nicht stereotyp werden. Sie müssen sie oft variieren.«

Ich dankte ihm und brachte die Besprechungen zu Chapman. Er war sehr erstaunt. »Ich dachte, Sie würden sie eine Woche behalten. Ich wollte Sie nicht so hetzen.« – »Es schadet nichts«, erwiderte ich. »Das eine Buch können Sie mit gewissen Veränderungen veröffentlichen. Das andere ist ganz kindisch.«

»Ich bin vollkommen Ihrer Meinung. Nehmen Sie, bitte, diesen Zettel zum Kassierer mit, und er wird Ihnen zwei Guineen für Ihre Besprechungen geben.«

»Nein, nein,« rief ich aus, »ich bin tief in Ihrer Schuld, weil Sie sich von mir so oft belästigen ließen. Bitte, verfügen Sie über mich, so oft Sie wollen. Es freut mich, Ihnen einen Dienst erweisen zu können.« Chapman lächelte mir freundlich zu, und von diesem Tage an gab er mir jede Woche Bücher zur Besprechung und fragte mich fast jeden Tag um meine Meinung auf diesem oder jenem literarischen Gebiete. Er muß auch mit Escott über mich gesprochen haben, denn eines Nachmittags ließ mich Escott in das Bureau der »Fortnightly Review« kommen und gab mir einen deutschen Artikel zur Besprechung.

»Soll ich ihn übersetzen?« fragte ich. – »Nur wenn er auffallend gut ist«, erwiderte er. Am nächsten Tage hatte er meine schriftliche Besprechung.

Etwas später gab er mir einen italienischen Artikel zum Übersetzen, und kurz darauf beklagte er sich, daß seine Arbeit an der »World« ihm viel Zeit in Anspruch nehme, und gab mir die halbe »Fortnightly Review« zum Korrigieren. Als er fand, daß ich es mit der größten Sorgfalt und Schnelligkeit tat, wies er mir einen Platz in seinem eigenen Zimmer an, und bald spielte ich bei ihm Sekretär und Faktotum.

Die Beharrlichkeit, die in der Bibel Gott gewann, brachte mir auch in London einen Erfolg.

Aber obwohl ein Monat seit meiner Rückkehr aus Salcombe vergangen war, hatte ich nichts von Froude gehört und, was noch seltsamer war, auch nichts vom »Spectator«. Ich konnte nur meine Seele mit Geduld wappnen.

Inzwischen sah ich Verschoyle fast jeden Tag, und durch ihn lernte ich die englische Poesie und auch eine Reihe lebender englischer Dichter kennen. Er stellte mich Dr. Westland Marston und seinem blinden Sohne Phillip vor. Die beiden lebten in Euston Road, und trotz ihrer jetzigen Armut sah man, daß sie früher reich gewesen waren. Ein Kreis bekannter Menschen verkehrte in ihrem Hause. Verschoyle erzählte mir, wie unglücklich das Schicksal von Phillip Marston war. Er war mit einem sehr hübschen Mädel Mary Nesbitt (der Schwester von E. Nesbitt) verlobt gewesen, und als er eines Morgens in ihr Zimmer ging, um sie zu wecken, fand er sie tot. Der schwere Schlag hat ihn fast zugrunde gerichtet.

Einige Jahre später starb – fast ebenso plötzlich – sein liebster Freund Oliver Maddox Brown. Drei oder vier Jahre später wurde seine Schwester Cicely, die am Vorabend ganz gesund war, am nächsten Morgen tot im Bett gefunden. Seine zweite Schwester Eleanor starb im folgenden Jahre 1879, und sein bester Freund, der Dichter Arthur O'Shaughnessy, zwei Jahre später. Im Jahre 1882 bekam James Thomson, der Autor der »Stadt der furchtbaren Nacht«, einen Anfall in Phillips Zimmer, wurde ins Spital gebracht und starb dort. Und in demselben Jahre starb sein angebeteter Held und Freund Rossetti in Birchington. Es sah so aus, als ob das Schicksal ihn zum Prügelknaben auserkoren hätte, und ich bekam die Angst, daß das Mißgeschick sich an die Fußtapfen begabter Menschen heftet, während das Glück sie flieht. Phillip Marston hatte ein schönes Gesicht mit einer hohen Stirn und kastanienbraunem Haar. Seinen Augen sah man die Blindheit nicht an, sie waren sehr ausdrucksvoll. Ich stimmte sofort in Verschoyles Urteil ein, der Phil Marston für einen der gütigsten und selbstlosesten Menschen hielt. Wir verbrachten den ganzen Nachmittag zusammen, und bevor wir weggingen, bat mich Phillip, sooft es mir Freude machte, wiederzukommen. Einige Tage später besuchte ich ihn und blieb stundenlang bei ihm. Er hatte an mir Gefallen gefunden, weil ich fast ebenso pessimistisch war wie er. »Bei Verschoyle erstaunt mich sein christlicher Glaube. Ich habe keinen Glauben – gar keinen –, ich kann es mir nicht vorstellen, daß irgend jemand auch den leisesten Glauben an die Zukunft haben kann, und ich fühle, daß Sie mit mir übereinstimmen.«

»Ja, vollkommen«, erwiderte ich und zitierte:

»Nur ein ewiger Schlaf
Mitten im ewigen Dunkel.«

Er beugte tief den Kopf mit unsagbarer Trauer: »Tot, damit ist alles erledigt, wie Browning sagt: ›Es gibt keine Hoffnung für die Überlebenden – keine!‹«

»Ich bin dessen nicht ganz sicher«, unterbrach ich ihn. »Es scheint mir, daß die klügsten aller Männer auch die gütigsten sind, und aus dieser Tatsache schöpfte ich die Hoffnung, daß wir Sterblichen in Zukunft allmählich zu einer verstehenden Liebe zueinander gelangen werden und so dieses Erdenwallen zu einem duftenden Weg unsagbarer Freude gestalten –.« – »Je schöner er wird, desto schwerer wird es sein, ihn zu verlassen.«

»Glauben Sie wirklich?« fragte ich. »Wenn wir viel von Liebe und Leben getrunken haben, werden wir imstande sein, dem Tode entgegenzugehen wie einer, der vom Tisch aufsteht – gesättigt!«

Es war die liebe Amy Lewy, die ich um jene Zeit kennenlernte und die meinen Gedanken vollkommen zum Ausdruck brachte, obwohl sie selbst ebenso hoffnungslos gestimmt war wie Marston:

»Wer kündet das Geheimnis, das im Dasein ruht?
Lob kann ich Gott nicht, noch dem Schicksal singen
In Weh und Elend. Und im Herzen klingen
Flüsternd keine Stimmen: Siehe – alles gut!
Doch seh' ich Schönheit noch in Sommertagen
Und in den Menschen, die da Güte in sich tragen.«

»Schön, wunderschön,« wiederholte er, als ich die sechs Zeilen rezitiert hatte, »und wahr, aber es bringt uns nicht viel weiter.« Phillip Marston war jenseits allen Trostes. Der Schmerz schloß sich um ihn fest wie ein Kleid an, aber sein Mitleid und sein Mitgefühl mit menschlicher Trauer war unerschöpflich.

Etwas später gab er mir seine Gedichte. »Sie sind auch über die Ewigkeit des Schlafes geschrieben«, sagte er. Und in dem Buche fand ich das Sonett, das er seiner Liebsten Mary Nesbitt gewidmet hatte. Ich halte es für eine der ehrlichsten und edelsten englischen Elegien, obwohl sie von einer so tiefen Trauer erfüllt ist.

Das Schicksal hat von uns mich vorbestimmt,
Den Kelch zu trinken, bittres Brot zu essen.
Würd' nicht dein Antlitz feucht von meinen Tränen,
Die deinen netzten meines nun. Wenn ich
Allein nicht ging', so müßt' dein Geist jetzt kennen
Mein Einsamsein. Und wandert' nicht mein Fuß
Den schweren, steilen Pfad, so deiner müßte
Statt meines bluten, klagen du um mich.
So find' ich tiefen Trost, zu denken
An deinen ew'gen Schlaf, zu wissen
Ungetrübt dein Aug', wenn meins auch weint.
Und trink' ich dieses bittren Kelches Neige,
Ruft's seine einst'ge Süße mir zurück,
Daß dir ward Frieden, mir unsterblich Leid.

(It must have been for one of us, my own,
To drink this cup and eat this bitter bread.
Had not my tears upon thy face been shed,
Thy tears had dropped on mine; if I alone
Did not walk now, thy spirit would have known
My loneliness; and did my feet not tread
This weary path and steep, thy feet had bled
For mine, and thy mouth had for mine made moan.
And so it comforts me, yea, not in vain,
To think of thine eternity of sleep;
To know thine eyes are tearless though mine weep;
And when this cup's last bitterness I drain,
One thought shall still its primal sweetness keep –
Thou had'st the peace, and I, the undying pain. –)

Um diese Zeit lernte ich auch Mary Robinson und ihre Schwester kennen, aber wir haben uns aus irgendeinem Grunde nicht sehr gut verstanden. Sie lachte einmal über etwas, was ich gesagt hatte, und verstimmte mich dadurch. Ich war vielleicht zu jung, um ihre ganze Bedeutung zu verstehen, und bald heiratete sie einen französischen Professor und ging nach Paris, und ich habe sie aus den Augen verloren und bedauere, sie nicht näher kennengelernt zu haben. Ich glaube, es war Francis Adam, der Dichter des »Heeres der Nacht«, der mich den Robinsons vorstellte. Ich werde später noch mehr über ihn erzählen, ich will hier nur einfügen, daß Verschoyle und die Marstons, Amy Lewy, die Robinsons und Francis Adam mir die Augen für die Tatsache öffneten, daß London zu jener Zeit – und eigentlich zu allen Zeiten dank einem gütigen Geschick – ein Nest voller Singvögel ist, mit einer Fülle begabter und hervorragender Männer und Frauen, die meistens der Poesie als der edelsten aller Künste ihr Leben gewidmet haben.

Mein größter Fehler im Leben und auch als Kritiker, auf den auch Shaw hingewiesen hatte, war meine Bewunderung der großen Männer, die mich die anderen, die den höchsten Maßstäben nicht genügten, gering achten ließ. Marston wie auch Amy Lewy interessierten mich durch die ergreifende Tragik ihres Geschicks und ihrer unendlichen Leiden. Aber erst später sah ich ein, daß auch ihre dichterische Leistung, wenn nicht von höchster Art, so doch von wirklichem Werte und außergewöhnlicher Bedeutung war.

Nach seinem frühzeitigen Tode am 14. Februar 1887 erzählten sich die Menschen, daß der arme Marston die Nächte vertrank, usw. Diese Narren! die nicht einmal dem Blinden verzeihen konnten, daß er die Nacht zum Tage machte. Wenn er im Wein die traurigen, einsamen Gedanken ertränkte, warum sollte er nicht trinken? Ich verdanke dem lieben Phil Marston Stunden unvergeßlichen Beisammenseins, von köstlichem, allumfassendem Mitgefühl getragen, und England darf seine edle Kunst nie vergessen.

Um diese Zeit bekam ich eines Morgens einen Brief, der mich erstaunte. Mein Name auf dem Umschlag war mit so winzigen Buchstaben geschrieben, daß ich ihn kaum lesen konnte. Aber als ich ihn öffnete, fielen zwei Bürstenabzüge heraus, endlich die Artikel vom »Spectator«, begleitet von einem Brief von Hutton in winziger Schrift.

»Sie hatten vollkommen recht,« begann er, »Ihre Besprechungen rechtfertigen Sie. Die eine über Freeman ist ein Juwel, und die über das russische Buch zwingt zum Nachdenken und mag vielleicht eine Diskussion herbeiführen. Ich schicke Ihnen von beiden Bürstenabzüge und wäre sehr froh, wenn Sie sie mir nach der Korrektur selbst bringen würden. Ich möchte noch gern andere Arbeiten von Ihnen haben. Ihr sehr ergebener R. H. Hutton.

Endlich war die Tür eingedrückt. Ich saß eine Weile wie verzaubert da, dann breitete ich die Korrekturen aus und versuchte, sie zu lesen, als ob ein Fremder es geschrieben hätte. Die Besprechung über das russische Buch war sicherlich die bessere von beiden. Aber es war die Besprechung über Freeman, auf Huttons Kopf und Herz abgezielt, mit der ich den Sieg davongetragen hatte. Das gab mir genug Stoff zum Nachdenken. Ich begann zu begreifen, daß niemand über seine eigene Nase hinauszusehen vermag.

Beim Durchlesen der Artikel bemerkte ich kleine Unebenheiten in Rhythmus und Tonfall und setzte mich hin, um sie auf einem andern Blatt niederzuschreiben. Ich wollte Verschoyle die jungfräulichen Korrekturen zeigen und ihn um seine Meinung bitten. Während ich arbeitete, brachte mir die Mittagspost einen Brief von Froude, der sein langes Schweigen entschuldigte. Aber er wollte das Essen, das er mir zu Ehren gab, möglichst erfolgreich gestalten und wollte warten, bis gewisse Leute wieder in der Stadt waren. Er sei nun froh, mich für einen nun festgesetzten Abend einladen zu können, und er wolle meine so beachtenswerten Gedichte bis dahin noch bei sich behalten. »Sie haben mir bewiesen,« schloß er, »daß Carlyles Urteil über Sie gerechtfertigt ist.«

Nichts konnte schmeichelhafter sein, aber meine Diskussionen mit Verschoyle und die Einsicht in sein und Marstons Schaffen hatten meinen Glauben an meine Eignung als lyrischer Dichter erschüttert. Ich hatte trotzdem in letzter Zeit hie und da ein Sonett geschrieben, das mir gefiel – die Einbildung stirbt nicht auf einen Schlag.

An diesem Nachmittage nahm ich die Korrekturen zu Verschoyle, der Hutton seltsamerweise darin zustimmte, daß die Freemanbesprechung die bessere der beiden sei, und er schlug nur eine einzige Änderung vor, die ich mir bereits aufgezeichnet hatte. Sicherlich war seine kritische Begabung in der Prosa nicht so unbeirrbar wie in der Poesie, oder er war vielleicht nicht so interessiert, denn ich hatte ungefähr vierzig Stellen korrigiert.

Am nächsten Tage nahm ich die höchst sorgfältig korrigierten Abzüge zu Hutton mit, und es kam zu einem entzückenden Gespräch. »Schreiben Sie, über was Sie wollen,« sagte er, »nur lassen Sie es mich vorher wissen, welches Thema Sie gewählt haben, damit wir beide nicht auf dasselbe stoßen. Lassen Sie es mich immer am Montagmorgen wissen, ja? Ihr Englisch gefällt mir. Es ist einfach und doch rhythmisch. Das Verblüffende jedoch sind Ihre Kenntnisse. Sie werden sich schon einen Namen machen. Ich wundere mich, daß man Sie noch nicht kennt. Heutzutage pflegt man sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen –«, und er lachte gutmütig.

»Im Gegenteil,« rief ich aus, »wir werden noch große Reflektoren im Hintergrunde aufpflanzen und uns einen Ausrufer vor dem Zelt mieten, um unsere Leuchtkraft anzupreisen ...«

Hutton machte das viel Spaß, aber ich vergaß nicht, daß ich mir noch sein Herz gewinnen mußte, und als eine Pause kam, fügte ich ruhig ein: »Ich frage mich, Herr Hutton, ob Sie mir bei einer Sache helfen können. Ich habe Carlyle gut gekannt, aber ich bewundere auch Kardinal Newman in großem Maße, obwohl ich nie die Freude hatte, ihn kennenzulernen. Wäre es zuviel verlangt, wenn ich Sie um eine Einführung zu ihm bitten würde?« Er versprach, mir sofort zu helfen, »obwohl ich ihn nicht sehr genau kenne«, fügte er nachdenklich hinzu. »Ich kann Ihnen trotzdem eine Zeile geben. Aber wie seltsam, daß Sie Newman bewundern!«

»Der größte aller Väter,« rief ich begeistert aus, »der sanfteste aller Heiligen.«

»Ausgezeichnet,« sagte Hutton, »das könnte seine Grabschrift sein. Bei Ihrer Zungenfertigkeit brauchen Sie keine Einführung. Ich will nur Ihre Worte über ihn zitieren, und er wird froh sein, Sie zu sehen – ›der größte aller Väter‹ – das kann stimmen, aber ist nicht der heilige Franz von Assisi der sanfteste aller Heiligen?« Ich nickte lächelnd. Hutton hatte recht. Ich wollte seine Güte jedoch nicht übermäßig in Anspruch nehmen und empfahl mich mit dem Gefühl, daß ich mir in dem lieben Holt Hutton einen Freund gewonnen hatte.

Um diese Zeit schrieb ich einen Artikel im »Spectator«, dem ich die Bekanntschaft und Achtung, wenn nicht sogar Freundschaft des T. P. O'Connor verdanke. O'Connor war Mitglied des Parlaments, ein sehr kluger und angenehmer Ire, der eine große Stellung unter den zeitgenössischen Journalisten einnahm. Er kannte die meisten berühmten Männer seiner Zeit. Aber er hat kaum etwas über die führenden Persönlichkeiten geschrieben, da ihm die zweit- und drittklassigen Menschen besser gefielen. Soweit ich weiß, hat er sich nicht einmal die Mühe gegeben, irgendeinen großen Mann in den Wendungen seines Charakters oder den Besonderheiten seines Wesens zu begreifen, um zu dem Kern der Persönlichkeit zu gelangen. Er hatte für die Menge über ihre Götter geschrieben, über Hall Caine und Gosse, Marie Corelli und Arnold Bennett, Conrad und Gilbert Frankau, und er wurde durch eine große Popularität belohnt. Im Anfang der achtziger Jahre war er noch jung, besaß angenehme Umgangsformen, und um seinen Kopf flimmerte schon der Glanz künftiger Möglichkeiten.

Nun kam das Diner bei Froude heran, das für mich zu einer peinlichen, lähmenden Niederlage werden sollte. Vor dem Essen stellte mir Froude Chennery, den Herausgeber der »Times«, vor, und bei Tisch setzte er mich zu seiner Linken. Gegen Schluß des Essens machte er mich mit einer Reihe von Gästen bekannt und erwähnte, daß Carlyle mich bei ihm mit der Bitte eingeführt hatte, mir in meiner literarischen Laufbahn zu helfen; und dabei zitierte er Carlyles schmeichelhafte Äußerung. Von sich aus fügte Froude hinzu, daß er meine Gedichte gelesen hätte und nun Carlyles Empfehlung vollkommen gerechtfertigt finde. Dann las er eines meiner Sonette und ließ seine Gäste urteilen. »Herr Harris sagt mir eben, daß er begonnen hätte, für den ›Spectator‹ zu schreiben, und die meisten von uns wissen, welch ein guter und scharfer Kritiker Herr Hutton ist.«

Ich war im siebenten Himmel. Fast jeder trank mir zu und wünschte mir Glück mit der bezaubernden englischen Bonhomie, die einen so wenig kostet und so rasch die Herzen gewinnt.

Als wir aufstanden, um in den Salon zum Kaffee zu gehen, schlüpfte ich in die Halle hinaus, um mir mein letztes Sonett aus meinem Überrock zu holen. Ich dachte, daß man mich bitten würde, etwas vorzulesen, und ich wollte mich im besten Lichte zeigen. Wie leicht verdrehen einem die Schmeicheleien den Kopf, wenn man siebenundzwanzig Jahre alt ist!

Als ich die Salontür öffnen wollte, traf ich auf Widerstand, denn ein breitschultriger Mann stand gegen sie gelehnt. Aus Angst, ihn zu stoßen, wartete ich eine Weile ab und hörte plötzlich, wie er den Mann, der neben ihm stand, fragte, ob ihm das Gedicht gefallen habe.

»Warum fragen Sie gerade mich danach?« erwiderte sein Freund mit dünner Stimme.

»Weil Sie ein Dichter sind und es wissen müssen«, sagte der Große. – »Wenn Sie mich nach meiner Meinung fragen,« unterbrach ihn die dünne Stimme, »so kann ich nur sagen, daß das Sonett, das wir hörten, nicht schlecht war. Es zeigte eine wirkliche Kenntnis der poetischen Form und ein echtes Gefühl. Aber es hat keine neue musikalische Qualität, keine einzige neue Kadenz in sich.«

»Also kein Dichter?« fragte der Große.

»Meiner Ansicht nach nicht«, war die Antwort.

Im nächsten Augenblick gingen die beiden von der Tür weg, und ich trat ein. Mit einem Blick überzeugte ich mich, daß mein strenger Kritiker Austin Dobson war, sicherlich ein Kenner der poetischen Technik. Aber die Verurteilung brauchte nicht durch Autorität bestärkt zu sein. Sie traf mich ins Herz, weil ich fühlte, daß sie richtig war. »Keine neue musikalische Qualität, keine einzige neue Kadenz!« Also kein Dichter, ein geschickter Imitator – ich war vom Fieberfrost der Selbstverachtung geschüttelt.

Plötzlich winkte mich Froude herbei. »Ich möchte Sie unserem besten Verleger, Herrn Charles Longman, vorstellen, und ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß er eingewilligt hat, Ihre Gedichte sofort herauszubringen, und ich werde die Vorrede schreiben.«

Ich verstand sofort, daß der »gute, sanfte Froude«, wie Carlyle ihn nannte, aus purer Herzensgüte handelte. Ich wußte auch, daß eine Vorrede aus seiner Feder meinen Weg zum Ruhm um mindestens zehn Jahre abkürzen würde, aber ich war zu tief getroffen, zu niedergeschlagen, um eine solche Hilfe annehmen zu können.

»Es ist sehr, sehr lieb von Ihnen, Herr Froude, und ich weiß nicht, wie ich Ihnen und auch Herrn Longman dafür danken soll. Aber ich verdiene diese Ehre nicht. Meine Gedichte sind nicht gut genug – – –«

»Das Urteil müssen Sie uns schon überlassen«, sagte Froude, durch meine unerwartete Weigerung ein wenig verstimmt.

»Ach nein, meine Gedichte sind wirklich nicht gut genug, ich weiß es. Bitte, bitte, geben Sie sie mir zurück.« Er hob die Augenbrauen und händigte mir das Büchlein ein. Ich dankte ihm noch einmal. Aber ich weiß nicht mehr, wie ich das Zimmer verlassen habe. Ich wollte allein sein. Ich wollte weg von diesen gütigen, ermutigenden, falschen Augen. Ich mußte allein sein. – Ich war bis in die tiefste Seele über das Übermaß meiner Einbildung beschämt.

Ich nahm mir einen Wagen nach Hause und setzte mich hin, um die Gedichte zu lesen. Einige waren schlecht, und ich verbrannte sie sofort. Aber drei oder vier schienen mir nach wiederholtem Durchlesen gut genug, und ich beschloß, sie zu behalten. Ich fand keinen Schlaf. Schließlich hörte ich wie im Fieber den Milchmann mit den Kannen klappern und wußte, daß es sieben Uhr morgens war. Ich hatte den kostbaren Schlaf einer Nacht verloren. Ich stürzte aus dem Bett und verbrannte die letzten vier Sonette. Dann legte ich mich wieder zurück und schlief den Schlaf des Gerechten bis zur Mittagszeit. Ich erwachte mit dem vollen Bewußtsein, daß ich kein Dichter war. Nie wieder wollte ich auch nur eine Zeile eines Gedichtes schreiben, nie! Prosa war das einzige, was ich erreichen konnte, und so mußte ich versuchen, Prosa, so gut es ging, zu schreiben, und die Poesie begabteren Sängern überlassen.

Der Tag brachte mir erneute Hoffnung. Schließlich hatte ich in diesem Monat eine Menge geleistet. Ich hatte nun eine dauernde Arbeit am »Spectator«. Hutton zahlte mir drei Pfund für jeden Artikel, und ich gab mir Mühe, mindestens einen in der Woche und oft sogar zwei zu schreiben. Escott gab mir immer mehr Arbeit an der »Fortnightly«, und als ich ihm erzählte, daß Froude mir zu Ehren ein Essen veranstaltet hatte, lud er mich zu sich nach Brompton ein, und ich lernte dort seine Frau und seine hübsche Tochter kennen. Chapman lud mich auch in sein Haus in Overton Square ein, und ich traf dort eine ganze Anzahl mehr oder weniger interessanter Menschen.

Erste Liebe

Wie zieht die Liebe zuerst in das Herz eines Menschen? Romanschreiber sind sich alle einig, daß die Liebe wie eine Göttin in blendendem Licht, im Zauber der Musik oder der Umgebung erscheint, jedenfalls immer sieghaft, immer gekrönt. Ich jedoch »erzähle schlicht und ungefärbt den Hergang«. Die Liebe überfiel mich in diesen ersten Monaten in London auf eine höchst prosaische Weise, und doch will ich mit Shakespeare schwören, daß

... meine Liebe mir so reich
Als jede, die man fälscht mit Lug-Vergleich.

Ich verdiente ungefähr fünf oder sechs Pfund wöchentlich und lebte ruhig in Bloomsbury in der Nähe des Britischen Museums. Ich mußte jemanden in derselben Gegend aufsuchen, der einen Artikel an die »Fortnightly« eingeschickt hatte. Ich wurde von einem schmutzigen Hausmädchen in den Salon der Pension gebeten, in dem die Betreffende wohnte, und bekam den Bescheid, daß die Dame bald herunterkommen würde.

Während ich wartete, wurde ein Mädchen hereingelassen und ebenfalls gebeten, zu warten. Als sie in das Zimmer trat, stockte mein Atem. Jede Einzelheit ihrer Erscheinung in diesem starken Licht ist meinem Gedächtnis eingeprägt, selbst die genaue Nuance ihres blauen Mantels. Sie war ziemlich groß, ungefähr fünf Fuß fünf, und hatte einen seltsam schönen Gang, der mich an die baskischen oder spanischen Frauen erinnerte, die eher schwimmen als gehen, eine Folge wohl, wie ich fand, der Gewohnheit, kurze, gleichmäßige Schritte von den Hüften aus zu nehmen. Ihre Augen begegneten meinem Blick und schweiften an mir vorbei. Sie hatte lange, haselnußbraune Augen unter einer schönen, breiten Stirn, ein eher rundes Gesicht, gutgeschnittene Lippen, ein festes, jedoch schmales Kinn und eine Mähne kastanienbraunen Haares, von Goldsträhnen erhellt. Sie war gut, obwohl nicht auffallend gekleidet. Der lange, blaue Mantel und ihre offensichtliche Selbstsicherheit gaben ihr eher den Anschein einer Gouvernante. Ich entschloß mich, sie anzusprechen. »Das Warten ist eine mühsame Sache«, begann ich lächelnd. – »Es hängt davon ab, wo und mit wem«, erwiderte sie mit einem Anflug von Koketterie, jedoch ohne eine Spur eines englischen Akzentes. – »Sind Sie Engländerin?« stieß ich impulsiv hervor. – »Halb amerikanisch, halb englisch«, erwiderte sie lächelnd. Ihr Lächeln erhellte ihr Gesicht auf eine zauberhafte Weise. Es war, als ob man aus einem abgeschlossenen Zimmer in lauter Sonnenschein käme. »Ganz mein Fall,« rief ich aus, »nur statt englisch hätten Sie halb wallisisch sagen können.« – »Seltsam,« lachte sie auf, »um in meinem Falle ganz genau zu sein, hätten Sie halb irisch sagen sollen.«

»Wir wollen uns an unsere amerikanischen Hälften halten,« sagte ich, »dann werden Sie nichts Seltsames daran finden, wenn ich mich vorstelle. Ich bin Frank Harris und versuche mich hier in London als Schriftsteller durchzusetzen.«

»Und mein Name ist Laura Clapton.« Noch einige Fragen, und in fünf Minuten hatte ich herausgefunden, daß sie mit ihrem Vater und ihrer Mutter in der Gower Street lebte, daß ihr Vater Börsenmakler sei und daß ich sie an irgendeinem Nachmittag besuchen könnte. Ich hatte noch Zeit, ihr zu versprechen, daß ich am nächsten Nachmittage kommen würde, und ihr zu erzählen, daß ich für die »Fortnightly Review« und den »Spectator« arbeite, hauptsächlich dank meiner Kenntnis der verschiedenen Länder und Sprachen.

»Ich spreche auch einige fremde Sprachen«, meinte Laura.

Ich stellte mit Entzücken fest, daß ihr Akzent im Deutschen, Französischen, Italienischen und Spanischen ebensogut war wie im Englischen und daß sie über eine außerordentliche Beherrschung der Sprachen verfügte. »Ich habe mit meiner Mutter zwei Jahre in jedem Lande verbracht«, erklärte sie. Am nächsten Tage suchte ich sie auf und wurde ihrer kleinen, rundlichen Mutter vorgestellt. Sie war häßlich, hatte eine Stupsnase und kleine, graublaue Augen. Aber trotz dieses runden Gesichts und dieser Gestalt hatte die kleine, dicke Frau eine gewisse Würde in sich oder, besser gesagt, eine Herrschsucht mit Heftigkeit getönt. Als ich später Königin Victoria traf, wurde ich unwiderstehlich an Frau Clapton erinnert.

Als Herr Clapton ins Zimmer trat, merkte ich, wem seine Tochter ihr gutes Aussehen verdankte. Clapton war ein hübscher Ire, etwa fünf Fuß elf groß, der seine fünfzig Jahre nur durch die Körperfülle und das ergrauende Haar verriet. Er hatte ausgezeichnet geschnittene Züge, wunderschöne, haselnußbraune Augen und eine liebenswürdige und anziehende Persönlichkeit. Ich konnte es begreifen, daß die Senatorentochter sich prompt in ihn verliebte, als er mit fünfundzwanzig Jahren nach Memphis in Tennessee kam. Aber er war ihr untreu gewesen, und die stolze Südländerin konnte es ihm nicht verzeihen und hatte auch die einzige Tochter auf ihre Seite gezogen, obwohl die Familie nach außen hin ihre Anhänglichkeit betonte. Die ganze Situation wurde mir an diesem ersten Abend klar, und ich empfand sofort eine Vorliebe für den gutaussehenden, leichtsinnigen Vater, der wahrscheinlich aus Gewohnheit, um der alten Liebe und wohl auch um des Stolzes in die Schönheit und Klugheit seiner Tochter willen den Anschein guter Beziehungen zu seiner wenig reizvollen Frau aufrechterhielt; die Tochter war zweifellos klug, und ihr Äußeres gefiel mir immer besser. Wie sie sich so im Raume bewegte, ihren Hut abnahm und sich hinsetzte, machte sich der ganze Zauber ihrer schönen Gestalt bemerkbar. Ich glaube, daß die Abneigung der Mutter gegen mich von Anfang an fast ebenso groß war wie die Vorliebe des Vaters. Ich fand, daß Laura das Theater liebte, sich zur Schauspielerin ausbilden wollte, jedoch nur durch die alberne Eitelkeit und den Geburtsstolz der Mutter daran gehindert wurde, zur Bühne zu gehen. Ich verschaffte ihr natürlich Theaterbilletts, und wir freundeten uns bald an. Ungefähr einen Monat später wollte der Vater die Weihnachtstage in Brighton verbringen. Es paßte mir ausgezeichnet. Ich kannte Brighton gut, und so fuhren wir Anfang der Woche hin und wohnten im Albion Hotel. Morgens pflegten wir alle auf einen Spaziergang zu gehen, aber die dicke Mutter kehrte bald mit ihrem Gatten ins Hotel zurück und überließ Laura und mich unserm Schicksal. Zwei Vorfälle aus diesen ersten Tagen sind mir in Erinnerung geblieben. Ich hatte mit einem gewissen Schwung über Hendrik Conscience, den belgischen Schriftsteller, im »Spectator« geschrieben und las den Artikel Laura eines Nachmittags vor. »Sie lesen wunderbar«, sagte sie, »und schreiben einen herrlichen Stil. Sie werden ein großer Schriftsteller werden.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ein guter Sprecher vielleicht«, sagte ich, denn damals dachte ich schon an die parlamentarische Laufbahn.

Ich hielt mich nicht für ein Genie, aber ich war sicher, daß ich ein ausgezeichneter Redner sein könnte und vertraute ihr meinen Ehrgeiz an. Sie war aufgestanden, und als ich mich gleichfalls erhob und das Papier in die Tasche schob, wiederholte ich leidenschaftlich die letzten Worte meines Artikels. Ihre Augen waren auf gleicher Höhe mit den meinen, und ich glaube, daß die Leidenschaft in meiner Stimme sie bewegte, denn ihr Blick gab sich mir. Im nächsten Augenblick schlang ich meine Arme um sie, und unsere Lippen trafen sich.

Sie küßte mich ohne Scheu und Zurückhaltung. Ich konnte nicht den Gedanken loswerden: sie mußte schon oft ihre Lippen gegeben haben; sie sieht zu gut aus, als daß man sie in Ruhe gelassen hätte. Der Gedanke machte mich kühn. »Wie schön Sie sind«, sagte ich und legte den Arm um ihre Hüften. Sie lächelte, zog sich jedoch ein wenig zurück. »Schmeichler!« – »Nein, nein,« fuhr ich fort, »keine Spur von Schmeichelei. Mir ist es so ernst, daß ich vollkommen wahrhaftig bin. Sie haben eine wunderschöne Gestalt. Ich liebe und bewundere kleine Brüste ebenso, wie ich schwere Hüften liebe und bewundere«, und meine Hände legten sich wieder um ihren Leib.

»Ihr Wort gefällt mir,« sagte sie, »daß Ihnen so ernst ist, daß Sie vollkommen wahrhaftig sind. Tiefe Liebe und Wahrheit gehen ja immer Hand in Hand, nicht wahr?« – »Immer«, erwiderte ich. Ihre scharfen Ohren hatten Schritte aufgefangen, und sie drehte sich um. Aber die Berührung jagte mir Schauer ein, und ich schlang noch einmal meine Arme um sie. Sie entwand sich mir mit unendlicher Biegsamkeit, und ihre gekräuselten Lippen und zusammengezogenen Brauen waren ein einziger Vorwurf für meine Kühnheit. Jedoch der Finger auf den Lippen war nur eine Warnung, und ihre Augen leuchteten. Sie war mir nicht im mindesten böse. Im nächsten Augenblick stand die Mutter im Zimmer.

Das Verhältnis vom Vater zur Mutter erfüllte mich mit Mitgefühl für das Mädchen. Ich empfand es in den Knochen, daß der Vater besonders bei Zahlung der Wochenrechnungen sich oft an sie gewandt haben mußte. Sie war in weltlicher Weisheit geschult und hatte sich doch den geistigen Enthusiasmus erhalten. Die Schwierigkeiten, die ich bei ihr vermutete, machten sie mir noch teurer.

Am Heiligen Abend saßen wir wieder allein im Salon. Nach dem ersten Kuß hatte ich sie selbstverständlich immer geküßt, sooft sich die Gelegenheit bot. Nun küßte ich sie, bis ihre Lippen glühten. Sie zuckte zurück. »Wie seltsam du küßt«, sagte sie mit versonnenen Augen.

Ich liebte ihre Offenheit und glaubte richtig in ihrer Seele zu lesen. Sie war noch Jungfrau, jedoch der Augenblick des Nachgebens lag nicht fern. Ich beschloß, mich ihrer würdig zu zeigen.

»Höre, Laura, ich möchte mit dir von Seele zu Seele sprechen. Ich liebe, ich begehre dich. Gib mir sechs Monate oder im Höchstfalle ein Jahr Zeit, und ich werde mir in London Stellung und Vermögen gewinnen. Ich habe manches in vier Monaten geleistet. Ich werde in einem Jahr vollkommen siegen. Gib mir das eine Jahr, willst du? Und in einem Jahre bitte ich dich, meine Frau zu werden.«

»Ich liebe dich«, erwiderte sie, »und glaube an dich. Ich werde warten, du kannst dessen sicher sein.« Unser Kuß war wie ein Gelübde, wie jeder Kuß der Liebenden, deren Seelen beim Begegnen der Lippen ineinander münden.

Der Verlauf dieser Weihnachtsferien ist schnell erzählt. Ich fühlte, daß Laura nicht viel Vertrauen in meine Versicherungen eines herrlichen und schnellen Aufstieges setzte. Sie hatte von ihrem Vater zu oft ähnliche Hoffnungen gehört und sah sie sich zu schnell verflüchtigen. Ich hörte von ihr zum ersten Male den amerikanischen Ausdruck für diese Luftschlösser, »heiße Luft« werden sie genannt. Wie sollte sie den Unterschied zwischen einem Spieler und einem Arbeiter kennen, dessen Selbstvertrauen in so vielen und verschiedenen Erfahrungen verwurzelt ist.

Ich entschloß mich, sobald wie möglich nach London zurückzukehren, und mit dem Optimismus der ersten Liebe hoffte ich, Laura dort fast jeden Tag zu treffen. Am zweiten Januar zahlte ich die Hotelrechnung, die jedoch zu meiner Verblüffung fast mein ganzes erspartes Geld verschlang. Clapton hatte in seinem Schlafzimmer Sekt getrunken, aber das machte keinen Eindruck auf mich. Ich hatte die schönste Zeit meines Daseins erlebt, und ein Lächeln auf Lauras Lippen, ein zustimmender Blick ihrer Augen bedeuteten mir mehr als ein Vermögen.

Kurz vor dem Mittagessen bat mich der Vater, mit ihm einen Spaziergang zu machen. Sobald wir allein waren, begann er, mir für die Feiertage zu danken. »Ich hätte es nie zugelassen, daß Sie die Rechnung bezahlen, aber ich hatte eben Pech mit meiner Wechselstube. Ich habe erfahren, daß mein Partner in meiner Abwesenheit durchgebrannt ist und das ganze Geld mitgenommen hat. Ich brauche nur eine kleine Summe für die laufenden Ausgaben – eintausend würden mir genügen ...«

Ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen. Ich wollte ihm die Demütigung der Bitte ersparen. Ich unterbrach ihn. »Ich würde sie Ihnen von Herzen gern gegeben haben, aber durch diese Ferien bin ich auch aufs Trockene gesetzt. Ich muß zurückgehen, um zu arbeiten. Und eine solche Summe kann ich nicht schnell zusammenbringen. Ich wiederhole Ihnen, was ich schon zu Laura gesagt habe: Geben Sie mir ein Jahr, und ich bin des Sieges gewiß.«

Sein Blick sagte genug. Die herrlichen, langen, haselnußbraunen Augen waren hart wie Knöpfe. »Es schadet nichts,« meinte er, »es hat nichts zu bedeuten.« In zehn Minuten waren wir wieder im Hotel, und ich glaube nicht, daß er mit mir an diesem Tage mehr als zehn Worte wechselte. Offensichtlich hielt auch der Vater nicht viel von mir.

Als wir London erreichten, fuhr ich Claptons erst nach der Gower Street; aber ihre Zimmer waren noch nicht fertig. Der Vater sprach mit der Vermieterin, kam dann in die Halle zurück und erzählte uns mit gespielter Empörung, daß sie die Anweisungen in seinem Telegramm nicht befolgt hätte, daß ihre Zimmer jedoch in einigen Stunden in Ordnung sein würden. »Herr Harris wird sich vielleicht bis dahin eurer annehmen,« fügte er hinzu, »ich habe zu tun –.« Diese vagen Dispositionen bestätigten meinen Verdacht gegen die unverantwortliche Art Claptons und steigerten mein Mitgefühl mit dem königlichen Mädel. Ich war nur zu froh, mich nützlich machen zu können. Ich fuhr die Damen erst zu mir nach Hause, um das Gepäck abzuladen. Obwohl ich nicht telegraphiert hatte, waren meine Zimmer in Ordnung, sauber und gelüftet, wir tranken Tee zusammen, und später führte ich sie in das gute böhmische Restaurant von Kettner, wo wir Abendbrot aßen. Gegen elf Uhr brachte ich sie nach Hause und bekam im Korridor einen langen Kuß von Laura. Ich fühlte mich vollkommen belohnt. Sobald ich allein war und mir die Ereignisse des Tages überlegte, wie es meine Gewohnheit war, sah ich, daß ich keine Zeit zu verlieren hatte. »Wenn du das Mädel willst,« sagte ich mir, »mußt du schnell eine Stellung gewinnen.« Ich empfand es klar, daß sich jetzt Vater und Mutter gegen mich verbinden würden. Sie würden mir vielleicht die kalte Schulter zeigen, um mich sogar von den Besuchen abzuschrecken. Außerdem durfte ich weder Zeit noch Energie an das Hofmachen verlieren. Ich mußte mich sofort und ohne jede Störung an die Arbeit machen. In dieser Nacht schrieb ich an Laura, daß ich sie drei Monate lang nicht sehen würde, und erklärte ihr meine Gründe. Ich wollte sie nach Ablauf des Jahres bitten, mich zu heiraten. Sie antwortete mir, daß sie es verstünde und warten wolle. Meine Wahl fiel auf sie mit einer so absoluten Sicherheit, daß ich es als selbstverständlich annahm, daß auch sie mit derselben vollkommenen Gewißheit gewählt hatte. Und doch fühlte ich, daß ich so schnell wie möglich Erfolg haben mußte, und zwar keinen geringen.

Am nächsten Morgen ging ich zu dem Verleger Chapman und fragte ihn, was er mir für ein Buch über meine Erfahrungen als Cowboy in Westamerika geben würde. Er antwortete mir, er könnte mir hundert Pfund geben, »aber nur, weil ich Sie kenne,« fügte er hinzu, »denn gewöhnlich erwarten wir, daß der Autor uns hilft, sein erstes Buch herauszubringen.« In einer halben Stunde war ich um eine Erfahrung über Verlegergewohnheiten reicher und hatte allen Grund, Byrons kaustische Antwort an Murray, der ihm eine Bibel statt eines Schecks schickte, zu wiederholen. Byron sandte das Buch mit einer einzigen Veränderung zurück. In dem Satz: »Nun war Barrabas aber ein Räuber«, ersetzte er das Wort »Räuber« durch »Verleger«.

Also keine Hoffnung, sich mit einem Buch ein Vermögen zu machen. Fünf Tage in jeder Woche verbrachte ich einmal auf dieser, einmal auf jener Spur. Aber das geschäftliche Leben in London war besser organisiert als das in den Vereinigten Staaten, und immer wieder erwies sich der erhoffte Weg als eine Sackgasse. Als ungefähr ein Monat in lauter Enttäuschungen verging, versuchte ich, eine Stellung bei einem Makler auf der Börse zu bekommen. Ich erfuhr, daß nur ein Angestellter in jedem Geschäft zur Börse zugelassen wird und es mich mindestens ein Jahr harter Arbeit kosten müßte, diese privilegierte Stellung zu erringen. Außerdem stellte sich heraus, daß mit Ausnahme eines deutschen Juden kein Börsenmakler auf meine Dienste zu reflektieren schien.

Aber dieser Makler verlangte, daß ich für ihn viele deutsche Briefe schreibe, was ich auch gern in den Überstunden gemacht hätte. Er bot mir jedoch nur drei Pfund in der Woche, und ich zögerte, anzunehmen. An meinem Geburtstage, dem 14. Februar, entschloß ich mich, auf Kleins Angebot einzugehen, und schrieb ihm, daß ich zu ihm kommen würde, sobald ich einiges für mich erledigt hätte, sicherlich innerhalb einer Woche.

Um diese Zeit nahm mein Einfluß am »Spectator« zu. Jeden Sonnabend und Sonntag schrieb ich zwei Artikel, die immer gedruckt wurden. Eines Tages stellte mich Hutton Meredith Townsend, seinem Kompagnon, vor und sagte ihm, es würde ihn freuen, wenn mich Townsend an seiner Stelle in den Ferien beschäftigen wollte.

»Er kann eine Anzahl von Sprachen,« sagte Hutton, »und er liest die Korrekturen so sorgfältig wie ein geborener Korrektor.« Townsend versicherte mich seines Wohlwollens, und während Hutton verreist war, ruhte auf mir ein gut Teil der redaktionellen Tätigkeit, und ich lernte Townsend genau kennen. In mancher Hinsicht war er die Ergänzung von Hutton. Er hatte viele Jahre im Orient verbracht und war ein ziemlich gründlicher Kenner von China. In demselben Maße, in dem Hutton religiös war, ging Townsend auf Erfolg aus. Hutton glaubte aus tiefster Seele, daß die Menschheit sich zu einer göttlichen Erfüllung entwickelte. Townsend war sicher, daß der Mensch in Bausch und Bogen schlecht ist und ein schlechtes Ende finden muß. Aber die beiden Männer zusammen entsprachen dem englischen Ideal, das zugleich sentimental und praktisch ist, und so wuchs die Macht, der Einfluß und das Vermögen der Zeitung trotz der Tatsache, das keiner der beiden Herausgeber, über gewisse flüchtige französische Kenntnisse hinaus, eine Ahnung vom modernen Europa oder Amerika oder der modernen Kunst und Literatur hatte. Sie brauchten mich wirklich, und wenn ich ein oder zwei Jahre früher bei ihnen gearbeitet oder es ein oder zwei Jahre länger dort ausgehalten hätte, wäre ich ihr Kompagnon geworden und hätte dem Blatt einen größeren Erfolg verschafft. Aber als Hutton mich fragte, ob ich mit fünfundzwanzig Pfund für meine redaktionelle Arbeit zufrieden wäre, erwiderte ich ihm lächelnd, daß ich seine Anerkennung verlange und die sechs Pfund, die ich wöchentlich durch meine Artikel verdiente, mir vollkommen genügten. Ich wußte schon, wie man es anstellen soll, um zu gewinnen, obwohl ich noch keine Ahnung hatte, wann ich mich endlich durchsetzen würde. Die Gelegenheit kam wie immer im letzten Augenblick.

Eines Tages war ich im Bureau der »Fortnightly«, als Escott, der die Treppe heraufkam, Chapman im Korridor traf. Ich hörte ihn laut sagen: »Ich denke, daß Ihr Protegé die Redaktion der ›Evening News‹ bekommen wird. Ich gab ihm einen warmen Empfehlungsbrief an Coleridge Kennard, den Bankier, der das Blatt finanziert.«

Als er ins Zimmer trat, berichtete ich ihm über das Ergebnis der Mission, mit der er mich betraut hatte. Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand die Frage »die Wohnverhältnisse der Armen«. Lord Salisbury hatte einen Artikel im »Nineteenth Century Magazine« geschrieben, in dem er für die Besserung der bestehenden Verhältnisse eintrat, und Escott, von dem radikalen Führer Joseph Chamberlain aufgehetzt, hatte Archibald Forbes, den berühmten Kriegskorrespondenten, nach Hatfield geschickt, um zu berichten, was Lord Salisbury auf seinem eigenen Gute zur Unterbringung der Armen getan hatte. Forbes hatte einen höchst sensationellen Bericht geschrieben. Bei der Schilderung der Häuser in dem Dorfe von Hatfield spritzte Vitriol an Stelle von Tinte aus seiner Feder. Ich erinnerte mich an die Beschreibung eines Zimmers, in dem »trüber Schmutz während der Mahlzeiten auf den Tisch tropfte«. Der ganze Artikel war ein wütender Angriff auf Salisbury und seine selbstsüchtige Politik. Escott bekam es mit der Angst, und als ich darauf hinwies, daß die antithetische Rhetorik die Darstellung von Forbes nur schwächte, fragte er mich, ob ich nach Hatfield gehen würde, um Forbes' Bericht nachzuprüfen. »Ich habe mit Herrn Chamberlain über Sie und Ihre Artikel im ›Spectator‹ gesprochen, und er hofft, daß Sie die Arbeit übernehmen werden.«

Ich ging sofort nach Hatfield mit Forbes' Artikel in der Tasche. Schon am ersten Morgen fand ich, daß das Haus, in dem »der trübe Schmutz tropfte«, überhaupt nicht Lord Salisbury gehörte, sondern einem führenden Radikalen im Dorfe. Gegen Abend schrieb ich, daß von den dreißig Häusern, die Forbes besichtigt hatte, nur eines Lord Salisbury gehörte.

Ich sprach dann bei Lord Salisburys Agenten vor und sagte ihm, daß ich geschickt wurde, um die Wahrheit nachzuprüfen. Er war ein glühender Bewunderer von Lord Salisbury, den er für den besten Grundbesitzer in England hielt.

»Lord Salisbury ist nicht reich, wie Sie wissen,« begann er, »aber sobald er zu Titel und Besitz kam, untersuchte er jedes der sechshundert Häuser« (ich bin mir der Zahl nicht mehr sicher) »auf seinem Gute. Er fand, daß vierhundert umbaubedürftig waren, er konnte aber nicht mehr als nur dreißig jährlich umbauen. An demselben Abend schrieb er mir, er könnte keine Miete für die umzubauenden vierhundert Häuser annehmen und würde nach dem Umbau nur drei Prozent der Kosten als Miete einfordern. Ich werde Ihnen eines oder zwei der Häuser zeigen, die noch umgebaut werden sollen. Ich selbst würde mich nicht scheuen, dort zu wohnen.«

Ich zeigte ihm darauf Archibald Forbes' Artikel, ohne ihm den Namen des Autors zu verraten. »Lüge!« rief er empört aus, »alles Lüge und Verleumdung. Wenn nur alle Aristokraten ihre Pächter und Untergebenen so behandeln würden wie Lord Salisbury, würde man keinen einzigen Radikalen in England haben.« Und ich mußte ihm beinah zustimmen.

Ich berichtete nun über meine Nachforschungen Escott, und er sagte: »Sie müssen es Chamberlain erzählen. Er wird furchtbar enttäuscht sein, denn er selbst hat Forbes herausgegriffen. Aber ich bin Ihnen unerhört verbunden – lassen Sie mich wenigstens Ihre Ausgaben bezahlen. Ich kriege sie von Joseph zurück«, fügte er lachend hinzu. »Sagen wir: zwanzig Pfund.«

»Sagen Sie nichts,« erwiderte ich, »sondern geben Sie mir einen Empfehlungsbrief an die ›Evening News‹, und wir werden quitt sein.«

»Aus vollstem Herzen«, meinte Escott. »Ich geb' Ihnen den besten Brief, den ich schreiben kann, und einen guten Tip noch obendrein. Bitten Sie Hutton vom ›Spectator‹, er solle Ihnen Ihre redaktionellen Fähigkeiten bescheinigen, und suchen Sie Lord Folkestone auf. Denn obwohl Kennard zahlt, ist Folkestone der Herr im Hause. Kennard möchte Baronet werden, und Lord Folkestone kann es ihm ohne weiteres verschaffen.« Ich befolgte sofort Escotts Rat. Hutton gab mir einen herrlichen Brief, in dem er erklärte, er hätte mich öfters in der Redaktion verwendet und wüßte kaum, wie er mich nach Verdienst loben sollte. Am selben Abend schickte ich die beiden Empfehlungen ab. Zwei Tage später bekam ich einen Brief von Lord Folkestone, in dem er sagte, daß Kennard verreist sei, aber ich könnte ihn im Bureau der »Evening News« am nächsten Morgen aufsuchen, und er würde mir die Redaktion zeigen. Ich nahm die Einladung sofort an und stürzte dann zu Escott hin, um mich nach Folkestone zu erkundigen.

Ich erfuhr, daß er nach dem Tode seines Vaters Earl of Radnor werden würde mit einem Einkommen von mindestens hundertfünfzigtausend Pfund jährlich. »Der älteste Sohn wird aus Höflichkeit Lord Folkestone genannt, weil ihm fast die ganze Stadt gehört. Und dieser Lord Folkestone hat Henry Chaplins Schwester geheiratet, die sehr musikalisch ist. Sie hat eine eigene Kapelle aus jungen Damen zusammengestellt, bei der auch ihre Tochter spielt. Radnor ist schon alt, und so muß Folkestone bald die Erbschaft antreten. Er hat irgendeinen Posten bei Hofe gehabt ...«, usw.

Bald sollte ich Lord Folkestone näher kennenlernen.

Der Zufall hat kaum irgendeine Rolle in meinem Leben gespielt, eigentlich könnte nur ein Ereignis, das in jene Zeit fiel, so bezeichnet werden. Als ich eines Abends von Escott zurückkam, sagte ich dem Kutscher, mich durch den Strand und am Lyzeumtheater vorbei zu fahren, denn ich interessierte mich damals sehr für die Vorstellungen von Irving. Während ich mir die Plakate ansah, strömte die Masse der Theaterbesucher an mir vorbei, und als ich mich umdrehte, sah ich gerade, wie ein junger Mann aus der Droschke sprang und Laura Clapton und ihrer Mutter beim Aussteigen half. Er war im Smoking, sah jedoch unmißverständlich amerikanisch aus, vielleicht dreiunddreißig Jahre alt, mittelgroß, breitschultrig – ein wirklich schöner Mann. Er interessierte sich anscheinend sehr für Laura, denn er sprach mit ihr, während er ihrer Mutter beim Aussteigen half, und Laura antwortete ihm mit offensichtlicher Sympathie.

Einen Augenblick lang – es war nur ein wilder Impuls – dachte ich daran, sie zu stellen, und dann überschwemmte mich eine Welle des Stolzes. Da sie nicht einmal drei Monate auf mich warten konnte, wollte ich nicht eingreifen. Ich trat einen Schritt zurück und sah mit Wut im Herzen zu, wie sie im Theater verschwanden –

Wie weit war die Bekanntschaft gediehen? Nicht sehr weit – aber –

War auch Laura, die Königin unter Frauen, eine bloße Beute der Gelegenheit? Dann würde ich nur für meine Arbeit leben und für nichts mehr –

Aber die Enttäuschung war so bitter wie der Tod.


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