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In diesem Bande, der meine Erinnerungen an Maupassant enthält, möchte ich eine andere Erfahrung aus dem französischen Leben erzählen. Ich fuhr eines Tages von London nach Paris. In dem Zuge in Calais traf ich einen jungen Deutschen, der einen französischen Mitreisenden etwas fragte und von ihm hochmütig angefahren wurde. Der Franzose erkannte offensichtlich seine Nationalität aus seinem schlechten Akzent und dem fehlerhaften Französisch. Empört über diese Ungezogenheit beantwortete ich die Frage, und bald freundete ich mich mit dem Deutschen an. Als wir Paris erreichten, sagte ich ihm, daß ich im Hôtel Meurice wohne, und am nächsten Tage suchte er mich auf, frühstückte mit mir, und wir fuhren zusammen nach dem Bois hinaus.
Es lag etwas naiv Jugendliches in dem Mann, das mich anzog. Wir waren kaum in die Avenue des Acacias eingefahren, als er mir erzählte, wie sehr ihm die französischen Frauen gefielen. Fünf Minuten später fuhr eine Viktoria an uns vorbei, in der ein sehr schönes Mädel neben einer älteren Frau saß. Mein Deutscher rief begeistert aus, das Mädel sei eine Schönheit, und fragte mich, ob es möglich wäre, einen solchen Stern kennenzulernen. Ich erwiderte ihm, daß nichts einfacher sei, denn es seien zwei Kokotten, und wenn er einige hundert Franken übrig habe, würde er willkommen sein. Ich gab ihm den Rat, das nächste Mal, sobald unsere Wagen aneinander vorbeifuhren, in den andern Wagen hineinzuspringen und den günstigen Augenblick beim Schopf zu fassen. Er hielt das für eine ganz unmögliche Heldentat. Und so sagte ich ihm, als wir das nächste Mal aneinander vorbeifuhren, er solle mir folgen, und sprang selbst in den Wagen.
Sofort schlug der Kutscher einen Seitenweg ein und fuhr schnell nach der Stadt zu. Ich legte den Arm um jede der Frauen und versprach ihnen, sie zum Essen ins Café Anglais einzuladen. Nachdem wir einige Minuten gesprochen hatten, flüsterte mir die Hübsche zu: »Du mußt wählen, mein Lieber!« Und als ich mich zu der älteren umdrehte, gab die mir zur Antwort: »Du wirst es nicht bereuen, wenn du mich wählst.« Ich weiß nicht, warum, aber ich zog den Arm, den ich um den Gürtel des hübschen Mädels gelegt hatte, sofort zurück und sagte: »Ich muß meinem Freunde gegenüber loyal sein, der dich gewählt hat.« Fünf Minuten später fuhren wir in ein Café in den Champs Elysées, und dort gesellte sich mein deutscher Freund hinzu, der seinen Ohren nicht trauen wollte, als ich ihm sagte, daß ich ihm das hübsche und lebhafte Mädel überließe. Um die lange Geschichte kurz zusammenzufassen: wir speisten zusammen und brachten dann die Frauen nach Hause. Mein Deutscher ging nach oben mit seiner Inamorata, und ich wurde in eine große Wohnung im ersten Stock geführt. Hier traf ich zu meiner Verblüffung ein vielleicht zwölfjähriges Mädel, das anscheinend eingeschlafen war. Sobald das Licht angedreht wurde, sprang die Kleine auf, anscheinend sehr verwirrt, und stürzte zur Tür. »Bleib doch da«, sagte ich, denn sie war sehr hübsch. Aber sie war schon lächelnd verschwunden. »Dein Kind?« fragte ich die Frau, die, wie es mir schien, nickte. Dieser Vorfall bestärkte meinen Entschluß. »Ich werde auf dem Sofa schlafen, oder wenn du willst, gehe ich in mein Hotel, und du kannst das Mädel bei dir behalten.« – »Nein, nein,« erwiderte die Frau, deren Name Jeanne d'Alberi war, »sie schläft nie hier, sie hat ihr eigenes Zimmer. Du hast so interessant gesprochen, und ich bin nicht ein bißchen schläfrig. Das Theater ist meine Leidenschaft – Du hast mir noch keinen einzigen Kuß gegeben.« Sie kam auf mich zu und hielt mir ihr Gesicht entgegen. – »Ich bin zum Küssen nicht aufgelegt. Ich bin schläfrig. Ich glaube, ich habe zuviel getrunken. Dieser Musigny war sehr stark.«
»Wie du willst«, sagte sie, und in zwei Minuten hatte sie mir ein Bett auf dem Sofa gerichtet. Ich zog meinen Anzug aus, und während ich sie noch im Badezimmer planschen hörte, war ich fest eingeschlafen.
Ich wurde plötzlich durch eine der stärksten Glücksensationen aufgeweckt, die ich je empfunden hatte. Ich weiß nicht, wie Jeanne es gemacht hatte, aber das Übel war geschehen, wenn es ein Übel war, und das Lustgefühl war zu stark, als daß ich darauf verzichtet hätte .. Nicht einmal Topsy hat mir je eine solche Intensität der Freude gegeben. Ich nahm sie in die Arme und küßte sie immer wieder in leidenschaftlichem Staunen. »Jetzt küßt du mich,« sagte sie und schürzte die Lippen, »aber du wolltest mir nicht glauben, als ich dir im Wagen sagte, du würdest es nicht bereuen, wenn du mich wählst. – Meine Freundin hat nichts als ihr hübsches Gesicht«, fügte sie verächtlich hinzu.
»Du bist ein Wunder«, rief ich aus, hob sie auf die Arme und trug sie ins Bett. »Das Mädel war nicht deine Tochter,« sagte ich, »du hast nie ein Kind gehabt.« Sie nickte lächelnd. »Ich war so einsam, und Lisette war so hübsch und so vergnügt, daß ich sie vor Jahren adoptierte, als sie erst ein Jahr alt war. Ich mache schon eine ganze Weile dieses Spiel mit, wie du siehst«, fügte sie ruhig lächelnd hinzu.
Ich weiß nicht warum, aber alles, was Jeanne sagte, steigerte mein Interesse an ihr. Sie hatte Geist und Persönlichkeit, obwohl sie keineswegs hübsch war, und sie sprach nicht nur ein ausgezeichnetes Französisch, sondern kannte auch alle gesellschaftlichen Gebräuche. Als ich ihr zahlen wollte, weigerte sie sich, Geld anzunehmen, sagte mir, sie brauchte nichts, hätte sich gefreut, mich kennenzulernen, und würde mich gern »als Freund – und Liebhaber«, wie sie lächelnd hinzufügte, wiedersehen. Einige Tage später gab ich ein Frühstück in meinem Hotel und hatte Jules Claretie vom Théâtre Français und einen berühmten Komiker eingeladen, und Jeanne spielte in überraschender Weise die Gastgeberin. Alle waren von ihr begeistert. Sie sagte jedem das richtige Wort und zeigte mehr als Takt im Umgang mit Menschen. Sie sagte mir später, sie würde nie meine Güte vergessen, mit der ich sie als Gleichgestellte behandelte. Ich habe später herausgefunden, daß sie die Tochter eines französischen Generals war und Vater und Mutter in demselben Jahre verloren hatte. Eine jüngere Schwester, an der sie sehr hing, hatte eine Liebesenttäuschung erlebt und sich durch Narkotika zugrunde gerichtet, und nach ihrem Tode hatte sich Jeanne entschlossen, Geld zu verdienen.
Sie verheimlichte nicht die Tatsache, daß sie zwei Freunde besaß, einen Deputierten, der sie alle vierzehn Tage aufsuchte und ihr zwanzigtausend Franken jährlich gab, und einen alten Senator, der von Zeit zu Zeit kam, ihr fünfzigtausend Franken jährlich aussetzte und ihr oft noch höhere Summen auf einmal gab. »Er ist ein lieber Kerl, und ich habe eine große Dankesschuld ihm gegenüber«, sagte sie. »Ich versichere dir, daß, als ich mit Adèle im Bois spazierenfuhr, es um ihretwillen und nicht um meinetwillen geschah, aber es gefiel mir, daß du in den Wagen sprangst und mich wähltest.«
Ich glaube, es war bei diesem Frühstück, als Claretie uns die Geschichte von Aimée Desclée erzählte, die ich hier wohl anführen kann, da Aimée Desclée in mancherlei Hinsicht vielleicht die bezauberndste Schauspielerin war, die ich je auf einer Bühne sah.
»Ich lernte sie kennen,« erzählte Claretie, »als ich noch ganz jung in Paris war und gerade eine Stellung als Theaterkritiker beim ›Figaro‹ bekam. Ich verliebte mich in sie und machte ihr den Hof, wie es eben junge Männer zu tun pflegen. Eines Tages sagte sie mir, sie wollte zur Bühne gehen und – denken Sie sich – die Phaedra spielen. Als ich ihr sagte, daß sie erst lernen müßte, überhaupt auf der Bühne zu gehen, und monatelang auf die kleinste Rolle warten, lachte sie mich aus und sagte mir, daß, ebenso wie es Männer gibt, die zu Generälen und nicht zu Subalternen geboren sind, auch sie es nicht nötig hätte eine Lehrzeit durchzumachen. Als Theaterkritiker kannte ich die meisten Theaterdirektoren, und seltsamerweise traf ich einige Tage später einen Mann, der ein Theater gepachtet hatte und dessen Hauptdarstellerin plötzlich Bronchitis, wenn ich mich nicht irre, bekam. Ich sagte ihm, ich kenne eine Frau, die geeignet sei, ihre Stelle einzunehmen, und die sicherlich eine große Sensation hervorrufen würde. Ich stellte ihm Aimée vor, sie machte einen guten Eindruck auf ihn, und schließlich willigte er ein, sie die Phaedra spielen zu lassen, um ihr die Gelegenheit zum Debut zu geben.
Am Abend der Vorstellung war das Theater gedrängt voll, und Aimée erschien mit einem schrecklichen Lampenfieber. Ich habe noch nie ein solches Fiasko erlebt. Man konnte kaum ein Wort verstehen und nach fünf Minuten mußte sie unter höhnischen Zurufen des Publikums von der Bühne fliehen. Der Vorhang senkte sich, und die halb lachenden, halb zornigen Zuschauer konnten nur dadurch besänftigt werden, daß sie ihr Eintrittsgeld zurückbekamen. Meine ganzen Ersparnisse gingen drauf.
Meine Kollegen in der Presse machten sich selbstverständlich über meine Liebesverblendung lustig. Einige sagten, daß ein hübsches Gesicht noch immer keine große Schauspielerin ausmacht, die anderen machten Anspielungen, daß das Mädchen versteckte Reize haben müsse, kurz und gut, ich wurde von allen Seiten verspottet.
»Ich sah nichts mehr von Aimée. Ungefähr ein Jahr später hörte ich, daß sie mit einem Komiker, in den sie sich irrsinnig verliebte, nach Italien durchgebrannt sei. Dann hörten wir, daß er sie in Venedig ohne einen Sou verlassen hatte, und einige Monate später bekam ich von ihr einen kurzen Brief, in dem sie mich bat, sie aufzusuchen. Sie hatte etwas seltsam Faszinierendes. Als sie ins Zimmer trat, verschlug es mir den Atem. Sie hatte ihre ganze Schönheit verloren und war um zehn Jahre älter geworden. »Was ist denn geschehen?« drängte es sich mir auf die Lippen.
»Wie Dante«, erwiderte sie, »bin ich in der Hölle gewesen.«
»Sie haben schlimme Zeiten durchgemacht?« fuhr ich albern fort. Sie nickte, und dann: »Wissen Sie, warum ich Sie zu mir bitten ließ?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich will, daß Sie mir noch einmal eine Gelegenheit verschaffen wie damals.«
»Unmöglich,« erwiderte ich, »jeder lachte mich damals aus, und jetzt kennt man Sie überall. Ich könnte es nicht tun, auch wenn ich wollte.«
»Jetzt werden sie nicht mehr lachen«, erwiderte sie. »Ich kenne Ihre Güte und Zuneigung zu mir. Ich weiß, daß Sie mir helfen werden, und ich werde Ihnen ewig dankbar sein. Wir müssen immer Freunde sein.« Und sie streckte mir beide Hände entgegen. Ihre Stimme hatte einen wunderbaren Klang, und ihre Persönlichkeit übte auf mich dieselbe bezaubernde Wirkung aus wie immer. Ich hörte mich plötzlich sagen: »Ich will mein Bestes tun.« Und als sie mir dankte, lächelnd, die Augen ungeweinter Tränen voll, wußte ich, daß ich alles tun würde, was in meiner Macht stand, und mehr.
Seltsamerweise kam einen Monat später ein Theateragent zu mir, ebenso wie der andere vor Jahren gekommen war. Er hatte ein Theater und eine Truppe, aber die Hauptdarstellerin, die er brauchte, war nach Amerika gegangen und hatte ihn im Stich gelassen. Er fragte mich, ob ich eine Schauspielerin kannte, die die Hauptrolle übernehmen würde.
Ohne zu zögern nahm ich ihn zu Aimée Desclée mit.
Er kannte die ganze Geschichte ihres ersten Fiaskos, aber auf dem Wege zu ihr versicherte ich ihm, daß sie sich geändert habe, bat ihn, sich auf sein eigenes Urteil zu verlassen, und es geschah auch, was ich erwartete. Er wurde durch ihren persönlichen Magnetismus aus seinem seelischen Gleichgewicht gebracht, und er ließ die Phaedra für sie spielen, unter der Bedingung, daß man ihren wirklichen Namen erst später erfahren sollte.
Wir schlugen nun die große Trommel und taten alles, was wir konnten, aber das Haus war fast leer. Als Aimée Desclée auf die Bühne kam, noch bevor sie den Mund auftat, bebte ich vor Erwartung, und ihre ersten Worte überwältigten uns. Gegen Ende des ersten Aktes ging ich hinaus, schickte einigen meiner Kollegen ein paar Zeilen mit der Bitte, zu kommen, um sie zu hören, aber als ich ins Theater zurückkehrte, fand ich es voll. Paris hatte bereits auf irgendeine magische Weise von dem Ereignis Wind bekommen, und in einer Stunde wußte jeder, daß eine große Schauspielerin entdeckt worden war. Ich glaube, daß sie die größte Schauspielerin war, die ich je gesehen habe«, fügte Claretie hinzu.
Claretie hatte die Geschichte herrlich und mit einer gewissen Zurückhaltung erzählt, und doch gelang es Jeanne zu meiner Verblüffung, die Wirkung noch zu steigern. »Ich habe sie etwas später in ›Frou-frou‹ gesehen,« sagte sie, »und ich bin mit Ihnen einig, daß sie nicht nur eine große Schauspielerin, sondern auch eine große Frau war. Sie hatte Töne in ihrer Stimme, die einem das Herz zerrissen. Es war ihr eigenes Seelenleid, das ihr diese Macht gab. Dumas-fils war klug, als er sie zu seiner Heldin wählte.«
Dieses Frühstück zeigte mir, daß Jeanne in ihrer Art eine erstaunliche Frau war. Sie war außerordentlich belesen, beherrschte die ganze leichte französische Literatur und hatte über Flaubert und Zola, Daudet und Maupassant sogar etwas Neues zu sagen, prägte Sätze von einleuchtender Schärfe ... Sie kannte Paris auch in allen seinen Höhen und Tiefen, war ein herrlicher Kamerad für einen Schriftsteller und eine unvergleichliche Geliebte.
Ich versuchte, mir über ihre Zauberwirkung klar zu werden. So oft ich mit ihr zusammen war, fand ich bei ihr dieselbe diabolische Gewalt. Ich geriet immer mehr unter ihren Bann, versuchte jedoch aus lauter Angst von Zeit zu Zeit ihr Geld zu geben und mich von ihr loszureißen, aber sie lehnte das Geld ab, obwohl sie immer gern meine Einladungen zu Mittag- oder Abendessen annahm, bei denen sie Schauspieler, Schauspielerinnen und Schriftsteller traf.
Eines Tages machten wir einen langen Ausflug nach Fontainebleau, aßen dort und kehrten nach Paris zurück. Ich wollte sie küssen, aber sie drehte sich um. Schließlich sagte ich aus reinem Trotz: »Ich werde bald nach London an meine Arbeit zurückkehren müssen.«
Jeanne sah mich an. »Ich wollte etwas anderes vorschlagen,« sagte sie, »ich habe einen kleinen Besitz in der Nähe von Algier, sonnengebadet zwischen Bergen und See, ganz wunderbar. Du hättest da Ponies zum Ausreiten und könntest dich nur dem Bücherschreiben widmen und den ganzen Journalismus ein für allemal an den Nagel hängen.«
»Es könnte ein Mißerfolg werden,« sagte ich, »und ich habe zu wenig Geld, um den Versuch zu wagen.«
»Ich habe mehr Geld, als du glaubst«, bemerkte sie ruhig. »Ich habe dreihunderttausend Franken erspart, habe das Haus, die Farm und –«
»Ich kann doch nicht von deinem Gelde leben«, unterbrach ich sie schroff. – »Warum nicht?« erwiderte sie. »Wir könnten heiraten und ein herrliches Leben führen.«
Ich fuhr zusammen, welch eine Aussicht! Die Erfahrungen der letzten Monate gingen mir durch den Sinn. Ich hatte einmal Jeanne ertappt, als sie sich gerade das Gesicht gewaschen hatte. Sie hatte keine Augenbrauen, sie malte sie sich und dunkelte auch ihre hellen Wimpern nach. Sie heiraten? Ich mußte innerlich lachen. Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf.
»Ich war dir doch eine gute Geliebte, nicht wahr?« fragte sie.
»Die beste, die man sich vorstellen kann,« erwiderte ich, »keiner könnte es leugnen, und obendrein noch ein ausgezeichneter Kamerad. Aber ich möchte mehr vom Leben sehen und von der Welt, bevor ich mich in Ruhe niederlasse, und ich hatte beschlossen, alle zwanzig Jahre einmal um die Welt zu reisen. Ich möchte noch eine Anzahl fremder Sprachen lernen –«
»Du könntest das alles ruhig tun«, drang sie in mich ein. »Ich werde dich nicht daran hindern. Ich möchte mir mein Heim sehr schön gestalten. Ich will dich als Gatten und Kameraden haben. Aber du könntest für einen Winter oder Sommer weggehen und um die Welt reisen, wenn du nur zu mir zurückkommst. Und du wirst zurückkommen, ich weiß es. Du willst dir einen großen Ruf als Schriftsteller machen, und ich bin sicher, daß es dir gelingt. Aber das bedeutet Jahre harter Arbeit, sorgenfreie Jahre«, wiederholte sie. Ich lächelte, schüttelte jedoch den Kopf.
Einen oder zwei Tage später sagte sie: »Ich werde Lisette in die Schule schicken müssen, wenn wir nicht zusammen nach dem Süden gehen. Sie wird ein großes Mädel und ist köstlich hübsch. Du solltest sie in ihrem Bad sehen.«
»Mit Freuden«, erwiderte ich, ohne mir etwas dabei zu denken.
Am nächsten Abend, als wir hereinkamen, führte mich Jeanne nach oben und öffnete die Tür. Lisette stand im Bad, ein Idealbild mädchenhafter Schönheit, verblüffend köstlich und biegsam. Sie drehte uns sofort den Rücken zu und griff nach dem Badelaken, aber Jeanne hielt sie zurück. »Sei nicht albern, Kind. Frank wird dich nicht aufessen, und ich habe ihm schon gesagt, wie hübsch du gebaut bist.«
Das Mädel hob die tiefen, unentzifferbaren Augen zu ihr empor und stand da – das köstlichste Bild, mit den knabenhaften Hüften, den knospenden Brüsten, den kleinen Füßen und Händen, eine vollkommene Tanagrastatuette im weißesten Fleisch. Ich fühlte, wie mein Mund austrocknete und die Pulse in meinen Schläfen hämmerten – was sollte das bedeuten? Was beabsichtigte Jeanne damit? Im nächsten Moment hob Jeanne das Kind aus dem Bad, hüllte es in das Laken ein und sagte: »Trockne dich ab und komm herunter, Kleines, wir wollen bald essen.«
Als wir nach unten kamen, fragte sie: »Gehst du nun mit uns nach Algier?« – »Und wenn ich nun Lisette begehren würde?« fragte ich unumwunden. Jeanne zuckte die Achseln. »Es wird sicherlich mehrere Lisettes in deinem Leben geben,« sagte sie ernst, »aber nur eine Jeanne, hoffe ich.« Und ihr Blick blieb auf mir haften. »Du bist ein Wunder!« erwiderte ich.
In dieser Nacht ging ich ins Hotel zurück und wußte, daß ich eine der größten Versuchungen meines Lebens zu bekämpfen hatte. Es war Shakespeares Wort, das mich rettete. Ich konnte nicht »zum Fächer werden und zum Blasebalg, die lüsterne Zigeun'rin abzukühlen«. Und doch war die Versuchung groß, denn Jeanne war ein sehr interessanter Kamerad und eine köstliche Geliebte. Ich wollte wissen, warum ihre Wahl auf mich gefallen war. »Weiß man denn, warum einem ein Mann gefällt und ein anderer einen abstößt? Du gefällst mir physisch, interessierst mich geistig – ich weiß, daß du gütig und arbeitsam bist. Ich glaube, wir könnten eine fast ideale Existenz führen, und ich habe genug von Paris und fühle mich einsam ohne ein Ziel oder einen Zweck im Leben.«
»Und Lisette?« fragte ich.
»Oh, die Lisettes sind für später!« lächelte sie. »Bevor sie herangewachsen ist, wirst du eine arabische Schönheit mit einer noch köstlicheren Gestalt finden. Es ist der Künstler in dir, der auf die Anziehungskraft der plastischen Schönheit so stark reagiert. Ich habe das sofort gemerkt, ich kann mich ja selbst nicht hübsch machen, aber ich weiß, daß ich dir mehr Freude geben kann als jede andere Frau; und ich bin sicher, daß du immer zu mir zurückkehren wirst.«
Sie hatte recht. Aber die Frage war, ob ich auch wirklich mit Jeanne würde arbeiten können. Ich fühlte mich bereits müder, als ich es seit Jahren gewesen war. In dieser Nacht beobachtete ich mein Gesicht im Spiegel, sah, daß meine Züge spitz waren und daß ich meine gesunde Gesichtsfarbe verloren hatte. Ich sah grau und erschöpft aus. Wenn schon ein Monat diese Wirkung hatte, wie würde es in einem oder in zehn Jahren sein? Ich konnte meine Augen nicht vor der Wahrheit verschließen. Ich würde erledigt sein. Ich wollte mir noch eine herrliche Nacht gönnen, wollte noch Lisette küssen und dann in den Zug nach Calais steigen, um meine Arbeit in London zu beginnen.
Und so geschah es. Ich lud eine Anzahl interessanter Journalisten und Schauspieler zu einem großen Frühstück ein, machte Jeanne zum Mittelpunkt des Festes und kehrte dann in ihr Haus zum Essen zurück. Während sie sich umzog und zurechtmachte, nahm ich Lisette in die Arme, küßte sie mit heißen Lippen, legte die Hand um ihre knospenden Brüste, bis sie ihre Arme um meinen Nacken schlang und mich ebenso warm küßte.
Sie erzählte mir dann über sich selbst mit vollkommener Offenheit. Zum ersten Male hörte ich die Wahrheit über die Empfindungen eines jungen Mädchens, und ihr Mut bezauberte mich. Sie war wirklich köstlich. Als ich sie küßte, legte sie die Hand auf meinem Kopf, um mich zurückzuhalten. »Du bist lieb,« sagte sie mit einem seltsamen Ernst, »ich möchte, daß du immer bei uns bleibst. Willst du es tun?« Ich verschloß ihr mit einem Kuß die Lippen.
Als Jeanne zurückkam, gingen wir in das Eßzimmer, Lisette ging nach oben, und ich blieb die Nacht bei Jeanne. Es war ein unvergeßlicher Abend und eine der schönsten Nächte meines Lebens.
Am nächsten Tage ließ ich Jeanne einen Brief zurück, der ihr dankte und ihr, so gut es ging, meinen Wunsch erklärte, meine Arbeit zu vollenden. Ich legte fünftausend Franken für sie und Lisette ein, alles, was ich damals entbehren konnte. Dann stieg ich in den Zug und war vor Anbruch der Dunkelheit in meinem Heim in Kensington-Gore. Ich hatte gesiegt, aber das war auch alles, was ich sagen konnte. Und ich war nicht sehr stolz auf mich selbst. Monatelang lag mir die Versuchung im Blut und wurde immer quälender, bis ich plötzlich von einem Schauspieler des Palais Royal hörte, daß Jeanne Paris verlassen hatte und nach Algier gegangen sei. »Wir vermissen sie alle«, fügte er hinzu.
Ich habe seit jener Zeit weder von ihr noch von Lisette etwas gehört, aber sie hatte mich gelehrt, welche unerhörten Eigenschaften manche Französinnen als Geliebte besitzen.
So oft ich seit jener Zeit auf irrsinnige, unvernünftige Eifersucht traf, kam mir die Erinnerung an Jeanne in den Sinn. Sie lehrte mich, daß eine Frau lieben und dem Mann den höchsten Genuß vermitteln und doch ohne Eifersucht auf seine ästhetischen, leichteren Verliebtheiten sein kann. Die Treue des Herzens und der Seele und die geistige Gemeinschaft bedeutet manchen seltenen Frauen mehr als alles andere.