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Stellt Euch Venedig vor, mein Herr Gelehrter«, erzählte Gamba, »als die Straßen der Stadt noch nicht gepflastert waren. Zwischen den Häusern wuchs überall Gras und um die marmornen Kirchen herum weideten die Herden der Diözese …«
Er hätte noch stundenlang weitergeredet, aber Galilei war schon aufgestanden. Er hatte sich längst verabschiedet, nur die immer neuen Erzählungen des von seinen Forschungen leidenschaftlich berichtenden Mannes hielten ihn ständig zurück. Jetzt aber verabschiedete er sich endgültig mit einer energischen Bewegung. Beim Gehen wechselte er noch einen verständnisvollen Blick mit Marina. Ihrer geheimen Verabredung nach wollten sie sich in einer Viertelstunde an der Rialtobrücke treffen.
Der Tag neigte sich dem Abend zu. Die Bevölkerung, die tagsüber vor der fast unerträglichen Hitze in das Dunkel der verhängten Zimmer flüchtete, kam hervor. An den Ufern lustwandelte eine lärmende, sich drängende Menge, an den Tischen vor der Battoria saßen Männer in Hemdsärmeln mit ihren Frauen, und an den Kleidern der Eltern hielten sich kleine Kinder fest. Auch Galilei nahm an einem solchen Tische Platz und wartete.
Seine Bekanntschaft mit Marina währte nun schon über zwei Wochen. In diesen zwei Wochen war er viermal von Padua nach Venedig herübergekommen. Jedesmal ging er zuerst zu Mazzoleni in das Arsenal und sah nach, wie seine Arbeit vor sich ging, dann besuchte er Sarpi in der Buchhandlung, sprach bei Sagredo vor und traf seine alten Freunde Zorzi, Magagnini und Boccalini. Mit jedem unterhielt er sich aber nur in Windeseile, überall saß er wie auf Nadeln. Er eilte zu dem Mädchen, um ihm all das Viele zu erzählen, was sich in seinem Herzen auftürmte. Wenn sie dann aber endlich zusammensaßen, war er wie gelähmt, und alles, was er hatte sagen wollen, blieb unausgesprochen. Dann sprach das Mädchen, und er hörte zu und hörte auch nicht zu. Er entzückte sich an dem lieblichen Ton ihrer Stimme und betrachtete verstohlen die berauschend begehrenswerten Linien ihres Körpers. Marina war einundzwanzig Jahre alt, wenn sie aber zu zweit zusammensaßen, sah es aus, als ob sie die Rollen vertauscht hätten: Marina war diejenige, die sicher auftrat, die die Führung hatte, und Galilei war der Schüchterne, der schamhaft Errötende, der fortwährend in Verlegenheit geriet. Auch mit dem Duzen hatte Marina begonnen, nicht er. Er getraute sich nicht, umsonst schwor er sich jedesmal von neuem, daß er Sagredos Rat befolgen wolle. Wenn aber dieses Wörtchen schon auf der Spitze seiner Zunge schwebte, schrak er immer wieder davor zurück. Es erschien ihm als unerhörte Kühnheit, als ein lebensgefährliches Wagnis. Marina aber versprach sich einmal, vielleicht zufällig, vielleicht absichtlich:
»Sag' … o tausendmal Verzeihung, mein Herr, zürnt nicht, daß ich mich versprochen habe …«
Da nahm er all seinen Mut zusammen.
»Doch, doch! Bleiben wir nur dabei. Sage mir nur ruhig du …«
Sein kühner Mut reichte sogar noch dazu aus, die Hand des Mädchens zu ergreifen, obwohl er auf eine abwehrende Bewegung schon gefaßt war. Aber Marina ließ seine Hand auf der ihren ruhen, als ob das für sie die natürlichste Sache von der Welt wäre. Seitdem griff er sofort nach der Hand des Mädchens, wenn sie allein waren. Das war aber auch das Äußerste, was er wagte. Seine Werbung bestand nur aus heißen Blicken, Seufzern und stammelnden Liebesschwüren.
»Reißt sie doch an Euch«, riet Sagredo, »und küßt sie kräftig auf den Mund.«
»Ja, aber wie …«
»Wie? Wißt Ihr denn nicht, wie man küssen muß? Das macht man so: man drückt seine Lippen auf die Lippen der Partnerin. Und …«
»Spottet nicht! Und was soll werden, wenn sie zornig wird?«
»Dann müßt Ihr sie mit weiteren Küssen versöhnen. Aber habt keine Angst, sie wird Euch nicht zürnen.«
Galileo blieb stumm. Dieser Ton verletzte ihn. Er hätte gern gesehen, wenn man zu ihm von Marina wie von einem unerreichbaren Wunder, wie von einem hauchzarten Traumgebilde an Unberührtheit gesprochen hätte. Ihm selbst erschien die Vergötterte ja so. Ihre Lippen, ihre kirschroten, vollen Lippen betrachtete er als heiliges Gebiet, das fremde Lippen noch nicht berührt hatten und seine Lippen in einer Himmel und Erde erschütternden seligen Sekunde das erste Mal berühren würden. Und wenn ihn seine Sehnsucht weiter trieb, schrak er vor diesem verzehrenden Traumgebilde zurück. Wie sollte er denn in seiner jetzigen bedrängten Lage heiraten? Und wenn er das Mädchen nicht heiraten konnte, was sollte dann werden? Bei solchen Erwägungen schüttelte er sich wild, um die Qualen unstillbaren Begehrens von sich abzuschütteln. Aber jetzt hatte er sich endgültig vorgenommen, das Mädchen zu küssen. Und heute sollte dieser Tag sein! Er malte sich das schon aus. Er stellte sich vor, wie er den rothaarigen Kopf an sich ziehen und seinen Mund auf diese herrlichen Lippen pressen wird. Dann würde sie sich sträuben und wehren, aber er würde stark und gewalttätig sein. Mit eisernen Armen würde er das Mädchen umfassen, zornig an sich pressen und weiter küssen. Von diesem Gedanken wurde er so erregt, daß er sich mit der Hand über das Gesicht wischen mußte.
Das Mädchen kam bald. Schon von weitem konnte man ihre schlanke Gestalt im dunkelblauen Kleide mit weißem Schleier erkennen, ihren an das sanfte Wiegen der Gondel erinnernden Gang, und als sie näher herankam, ihren von den Schritten erzitternden Busen. Ich werde sie küssen! – wiederholte er bei sich, fast geistesverwirrt, – ich werde sie küssen und werde mit einer listigen Bewegung zufällig ihre Brüste berühren, meine Hand aber sofort wieder wegreißen, damit sie sich nicht beleidigt fühlt; diese Stelle meiner Hand aber, die sie berührt hat, werde ich zu Hause lange streicheln …
Das Mädchen stand lächelnd vor ihm.
»Bin ich zu spät gekommen? Ich konnte mein Tuch nicht finden. Aber jetzt bin ich da. Wohin gehen wir?«
»Wohin du willst. Was hast du zu Hause gesagt? Wie lange hast du Zeit?«
»Ich habe gesagt, daß ich zu Cirinis gehe. Das sind Verwandte von uns, aber mein Herr Vater hörte gar nicht zu. Ich kann bleiben, solange ich will: der Magd habe ich Bescheid gesagt.«
»Schön, dann gehen wir vielleicht auf die Giudecca, wenn du Lust hast. Dort können wir in irgendeiner Gartenschenke zu Abend essen und plaudern.«
Sie wählten den Weg durch die Merceria. Das Gedränge war so groß, daß sie nur mit Mühe und Not vorwärtskamen, einander an der Hand haltend, manchmal getrennt, um sich dann wieder in der Menge zu finden. Fackeln beleuchteten mit tanzendem Lichtschein die Läden, die Straßen machten den Eindruck eines festlich bewegten Zuges, aber über den Fackeln in der Höhe des ersten Stockwerkes der Häuser saß schon dicke Finsternis. Sie strebten eilig vorwärts; in diesem Lärm und Gedränge sich zu unterhalten, war unmöglich. Als sie aus dem Bogen des Orologio heraustraten, atmeten sie befreit auf und verlangsamten ihre Schritte. Hier lohnte es sich stets, sich aufmerksam umzusehen. Fremde aus allen Teilen der Welt mischten sich hier in ihren eigentümlichen Trachten unter die Menge und zogen die Blicke auf sich. Da waren Männer aus Kreta in Sandalen aus rotem Leder und mit einer gefranzten roten Mütze auf dem Kopfe, hochgeschossene Deutsche in schlitzärmeligem Wams; hier gingen Araber, in den schneeweißen Burnus gehüllt, mit goldenen Gehängen in den Ohren, albanische Frauen mit einer aus goldenen Münzen zusammengesetzten Kette um den Hals; dort begegnete man Negern, wer weiß von welcher Küste Afrikas, mit einem roten oder grünen Fez auf dem Kraushaar. Aber nur als einzelne Farbpunkte tauchten sie alle in der überwiegenden Mehrheit der Einheimischen auf. Ab und zu rauschte ein Mädchen mit weißem Schleier an ihnen vorüber, das Galilei herausfordernd ansah, aber die Mundwinkel herabzog und weiterging, wenn es die Frau an seiner Seite erblickte.
»Der Sbirre faßt sie, wenn sie nicht acht gibt«, sagte Marina lachend.
»Wie bitte«, fragte Galileo verwundert.
»Den schlechten Mädchen ist es untersagt, einen weißen Schleier zu tragen. Es besteht ein Gesetz darüber. Trotzdem kaufen sie sich alle weiße Schleier.«
»Ich bemerke sie nie«, heuchelte Galileo, wie jeder Mann in seiner Lage.
»Es gibt ihrer unendlich viele«, fuhr Marina fort, »erst neulich sagte mir jemand, daß der Senat sie habe zählen lassen. Weißt du, wie viele hier in Venedig sind? Elftausend. Natürlich nur wegen der Fremden.«
Erstaunt blickte Galileo in das reine Antlitz des Mädchens. Er fand es beinahe rührend, daß ein so junges Geschöpf, das von der Liebe noch keine Ahnung haben konnte, so unbefangen wiederholte, was man unvorsichtigerweise vor ihm verlauten ließ. Inzwischen waren sie bei der Piazza angelangt. Zwischen den zwei Säulen hindurchschreitend, sagte Marina:
»Hier habe ich einmal als junges Mädchen gesehen, wie einer gehenkt wurde.«
»Wirklich? Das ist aber nichts für junge Mädchen.«
»Nein, wirklich nicht! Mich schauert es jetzt noch, wenn ich daran denke. Zwei Männer hat man gehenkt, weil sie Sodomiten waren.«
»Ich sage doch: Sodomiten.«
»Weißt du denn, was ein Sodomit ist?«
Marina lachte laut auf.
»Ich habe keine Ahnung, ich weiß nur, daß es eine häßliche, schwere Sünde ist, die mit dem Tode bestraft wird.«
Dankbar drückte Galileo die Hand des Mädchens, die er liebkosend fest in der seinen hielt. Er glaubte einen reinen Engel neben sich zu haben, der in bezaubernder, schneeweißer Unschuld keine Ahnung von dem hatte, was er sprach. Er wollte eben einen Gondoliere heranwinken, als ihm jemand von hinten auf die Schulter schlug. Er drehte sich um und erblickte Sagredo.
»Nehmt keine Gondel, hier ist meine! Kommt mit mir. Ich habe mich nämlich gelangweilt und beschlossen, in meinen Garten nach Murano zu fahren, ein wenig frische Luft zu genießen.«
»Gehen wir, gehen wir!« jauchzte Marina.
Unlustig zögerte Galileo. Ihm war es leid um das verheißungsvolle, vielversprechende Abendessen zu zweien, die vertrauten Gespräche und, durchfuhr es sein Herz, wenn sie zu dritt waren, konnte er das Mädchen nicht küssen. Da spürte er aber, wie Sagredo unauffällig seinen Arm drückte. Das war ein vertrauliches Zeichen, man konnte es nicht mißverstehen. Vielleicht hatte der gute Freund schon irgendeinen Gedanken, wie er ihm helfen wollte.
Plätschernde Ruderschläge bewegten die Gondel rasch vorwärts. Auf den unsichtbaren Gondeln schaukelten überall Lampen, als ob die Sterne des Kopernikus heruntergekommen wären, um hier herumzuschwimmen und über dem Kanal zu schweben. Der beleuchtete Kahn der Serenata schwamm irgendwo in der Richtung des Salute-Kanals, Stimmen in der Ferne sangen ein lockendes Liebeslied, und der leise Abendwind verstärkte manchmal die klingende Musik der Begleitung oder schwächte sie ab.
»Heute nachmittag habe ich einen Verwandten von Paolo Veronese gesprochen«, unterbrach Sagredo das Schweigen, »und habe interessante Sachen von ihm gehört. So erzählte er, daß man Paolo einmal vor das Inquisitionsgericht gestellt habe. Man hatte bei ihm für die Kirche San Giovanni e Paolo ein Altarbild bestellt und war sich darüber einig geworden, daß dieses Bild das Gastmahl des Pharisäers darstellen sollte. Veronese malte das Bild auch. Man nahm es ihm ab und bezahlte es. Einige Geistliche aber erhoben Einspruch. An der festlich gedeckten Tafel nimmt nämlich auch ein Narr teil, der mit einem Papageien spielt. Außerdem ein Apostel, der, nachdem er es sich hat wohlschmecken lassen, mit der Gabel in den Zähnen herumstochert. Das brachte die Gestrengen der Kirche in Harnisch. Sie zeigten den Maler an. Das Verfahren wurde eingeleitet, und das Inquisitionsgericht verhörte Meister Paolo. Wißt Ihr, was der Alte geantwortet hat? Daß dem Maler dieselbe Freiheit gebührt wie dem Narren. Auf einen Künstler können die für einen normalen Menschen geltenden Gesetze keine Anwendung finden. Das gefällt mir wirklich ausgezeichnet!«
»Und was war das Ende?« fragte Galilei, die Hand des Mädchens in der seinen.
»Die Inquisition verpflichtete Veronese, das Bild zu ändern. Aber er kümmerte sich überhaupt nicht mehr um das Bild.«
»Hervorragend!« entgegnete Galileo. »Ich könnte das gleich von mir aus noch ergänzen. Man müßte nicht nur den Künstler mit dem Narren unter einen Hut stecken, sondern auch den Gelehrten. Ich selbst gelte ja als ein Narr. Meine Kollegen in Padua halten mich auch dafür. Das ist aber durchaus natürlich: ich denke mit meinem Gehirn und behaupte Sachen, die sie nicht verstehen.«
»Was zum Beispiel?« erkundigte sich Marina neugierig.
»Ich behaupte zum Beispiel, daß sich die Sonne nicht um die Erde dreht.«
»Dieser Galileo ist wirklich ein Narr!«
Marina lachte gutgelaunt und streichelte zärtlich das Gesicht des Gelehrten. Galileo wurde ganz heiß vor Seligkeit bei dieser Berührung. Auch er lachte und tat so, als ob er einen guten Scherz gemacht hätte. Ganz verschwommen tauchte in ihm der vorwurfsvolle Gedanke an Kopernikus und Kepler auf, aber er kümmerte sich weiter nicht darum. Die Liebkosung dieser Mädchenhand war jetzt das ganze Universum wert!
Es war ein recht langer Weg bis zur Insel Murano, aber endlich kamen sie doch an. Die Gondel fuhr am Fondamento dei Vetrai entlang bis in die Mitte der Insel. An der Brücke stiegen sie aus, die Gondolieri leuchteten ihnen mit Fackeln in dem Dunkel, und einer lief voraus, um die Dienerschaft der Villa von der Ankunft des Herrn zu verständigen. Als sie dann dort anlangten, erwartete sie bereits überall Fackellicht. Beim Scheine der Fackeln konnte man sich vom Park zwar kein richtiges Bild machen, aber verschwommen sah man die regelmäßig beschnittenen Sträucher und in ihrer Rundung die weißen Marmorstatuen leuchten. Die Luft war ölig schwer vom würzigen Duft der Blumen. Die Villa konnte man gut und gern auch als einen kleinen Palast ansprechen. Das Personal lief hin und her, um Ordnung zu schaffen und überall Lichter anzustecken. Der Hausherr führte seine Gäste zu einer offenen Terrasse.
»Nehmt einstweilen Platz. Ich möchte mich entschuldigen, denn ich muß mich um das Abendessen kümmern. Es tut mir leid, daß ich meine Gäste allein lassen muß; aber es wird eine gute Viertelstunde dauern, ehe ich alles erledigt habe.«
Heiße Dankbarkeit erfüllte Galileos Herz. Sagredo entfernte sich. Nur eine kleine Öllampe leuchtete in einer Ecke der Terrasse, sonst umgab sie tiefe Finsternis. Sie saßen nebeneinander auf einer Holzbank, die mit weichen Kissen belegt war. Ihre Hände fanden sich bald. Sie schwiegen. Aus dem Schilf tönte der eintönige, an die Unendlichkeit gemahnende Chorgesang der Frösche. Und der schwere Duft der Blumen hatte Galileos Kopf benebelt wie starker Wein. Ganz vorsichtig bemühte er sich, ein wenig näher zu rücken, sorgsam darauf achtend, daß das Knacken der Bank oder sonst ein Geräusch seinen Annäherungsversuch nicht verrate. Er fühlte, daß er das Mädchen jetzt küssen müßte, wenn er den Mut dazu fände. Er zitterte und zauderte. Er beschloß, sich noch einige Sekunden Aufschub zu gewähren. Langsam wollte er noch bis zehn zählen und dann mochte kommen, was da kommen wollte. Ganz langsam zählte er. Als er bei acht angelangt war, fühlte er plötzlich, daß ihn etwas am Ohr kitzelte, Marinas Parfüm schlug an seine Nase, und plötzlich ruhte Marinas Kopf an seiner Schulter. Freudig erschrocken konnte er kaum glauben, daß das wahr sein sollte, was er mit seinen Sinnen verspürte. Vorsichtig wendete er seinen Kopf, und als sein Mund ihre Lippen berührte, fühlte er, daß sie sehnsüchtig seinen Kuß erwartet hatte. Ein wildes Jauchzen brach aus ihm hervor, er umschlang die Schultern des Mädchens und preßte es an sich.
»Du kannst nicht küssen«, flüsterte mit unterdrücktem sinnlichen Lachen das Mädchen.
Sie nahm den Kopf des Mannes in ihre Hände. Mit der einen ergriff sie das bärtige Kinn, mit der anderen fuhr sie in sein dichtes Haar. So hielt sie den Kopf des Mannes zwischen ihren beiden Händen wie eine Frucht, von der sie essen wollte. Langsam legte sie ihre Lippen auf die Lippen des Mannes. Mit einer Bewegung ihres Kopfes bohrte sie sich förmlich in ihn hinein. Aber Galileo sagte diese Rolle nicht zu. Er wollte das Mädchen übertrumpfen, um nicht als einfältig zu gelten. Er löste sich aus der Umarmung des Mädchens und versuchte es dann von neuem an sich zu ziehen. Und während sein Blut in wildem Glücksgefühl aufbrauste, tauchte in irgendeinem Winkel seines Gehirns halb unbewußt der Schrecken auf: woher kann das Mädchen so küssen? Ist das Entsetzliche denn möglich, daß ihren Mund schon der Mund eines anderen Mannes berührt hat? So küßten sie sich zornig und wild, als ob sie einander nicht beglücken, sondern, kämpfenden Raubtieren gleich, sich quälen wollten. Und sie ließen erst dann voneinander, als sie die nahenden Schritte Sagredos vernahmen.
»Richte schnell dein Haar!« flüsterte das Mädchen hastig.
Unwillkürlich griff Galileo an seinen Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch seine dichte Mähne. Wieder der Schrecken: die Ecke, wo sie saßen, war völlig dunkel, und das Mädchen konnte nicht sehen, ob seine Haare zerzaust waren. Daß sie soviel Erfahrung haben sollte, war bei einem so jungen Geschöpf doch unmöglich. Hatte sie einen so scharfen Verstand? Wie konnte sie nach diesen Küssen an so etwas denken? Alles das blitzte aber nur ganz verschwommen durch seine Gedanken, die Fragen waren in seinem Bewußtsein nicht klar umrissen. Ganz benommen ging er hinter Sagredo her. Der führte sie in ein kleines Zimmer, das sonst nicht als Speisezimmer diente. Es schien eher ein Gemach zu sein, das nachmittags abgedunkelt wurde, damit der Herr des Hauses sich bequem auf der breiten Ottomane seiner Nachmittagsruhe hingeben konnte.
»Ich ließ hier decken«, sagte Sagredo leichthin, »weil die anderen Zimmer nicht ganz in Ordnung sind, und auf der Terrasse kann man sich leider nicht aufhalten. Zu Tausenden würden die Insekten in den Lichtkreis strömen. Aus dem nahen Schilf kommen auch unzählige Moskitos.«
Obwohl das Abendessen unvorbereitet war, fehlten Fisch, Obst und vor allen Dingen schwerer Wein nicht. Eifrig aßen und tranken sie, die Unterhaltung verlief um so stockender. Sagredo kehrte zu dem Thema zurück, das ihn gerade heute zu beschäftigen schien, zu den Malern. Er erzählte noch mehr von Veronese und dann von Tintoretto und seinen mehrfachen Darstellungen des Abendmahls.
Ihn hätte man mit noch größerem Rechte vor das Inquisitionsgericht stellen müssen. Sein Lieblingsgedanke war nämlich, den Apostel Johannes so zu malen, daß er, während die anderen sich unterhalten, seinen Kopf auf den Arm fallen läßt und einschläft. »Es sollte mich wirklich wundern, wenn sich Monsignore Offredi, der päpstliche Nuntius, darob nicht erzürnen würde. Der Evangelist Johannes, der Liebling Christi, schläft ein am letzten Abend, den sie zusammen verbringen? Mir gefällt das aber ganz ausgezeichnet! Johannes ist im Vergleich zu den anderen noch ein Kind. Das Mahl zieht sich in die Länge und den Jungen befällt der Schlaf. Das hat doch Poesie, so entzückend ist es.«
»Seht, seht«, meinte Galileo zerstreut, während er unter dem Tisch vorsichtig mit seinem Fuß nach dem Fuße des Mädchens tastete, »Ihr könnt Euch also doch begeistern.«
»Sicher, nach meiner Art. Denn ich denke daran, wie spaßig es wäre, hinter Johannes' Rücken ein riesiges Buch zu Boden fallen zu lassen. Wie erschrocken würde der Arme hochfahren von diesem Knall …«
Marina lachte laut und erwiderte das Spiel mit dem Fuße. Aber Galileo schüttelte den Kopf.
»Weckt den Schlafenden nicht, gnädigster Herr. Und denkt daran, was für ein Mahl dieses war. Seit Bestehen der Welt das größte und tragischste. Unser Glaube fand an diesem Tisch seine Krönung.«
»So ein guter Katholik seid Ihr?« fragte Sagredo neugierig.
»Ja, das kann ich nicht leugnen. Ich lebe ein heidnisches Leben, aber mein Glaube ist rein. Seid Ihr nicht gläubig?«
»Ich weiß nicht, ich bin nicht klug genug, um mir in religiösen Dingen eine Meinung bilden zu können. Vielleicht bin ich in meinem Alter einmal so klug.«
»Der Mensch glaubt nicht mit dem Verstand«, sagte Galilei, »sondern mit dem Herzen. Mit unserem Verstand können wir nur denken. Mit unserem Herzen nur glauben. An Gott. Und an die Menschen, die wir lieben.«
Darauf erwiderte Sagredo nichts. Das Abendessen nahm still seinen Fortgang. Sagredo schenkte fleißig Wein nach. Dann rauchten sie ihre Pfeifen an. Zwei Diener trugen den Tisch hinaus und auf den Vorschlag des Hausherrn streckten sich alle drei auf der Ottomane aus. Im Zimmer brannte nur eine kleine Öllampe. Neben der Ottomane stand auf einem Tischchen der Wein. Aber sie tranken nicht mehr. Galileo faßte gleich nach der Hand des Mädchens, das den Druck erwiderte.
Sie sprachen zerstreut und in langen Pausen. Galileo achtete weder auf das, was er hörte, noch was er sagte; er dachte nur darüber nach, wie man Sagredo bitten könnte, sie wieder eine Weile allein zu lassen. Diese Bitte war aber gar nicht notwendig. Als Galileo und Marina gerade einmal miteinander sprachen, entfernte er sich unbeachtet. Zunächst bemerkten sie es gar nicht, mit einem Male kam ihnen aber zum Bewußtsein, daß sie allein waren. Galileo umarmte Marina und begann sie von neuem zu küssen. Sie küßten sich durstig und berauschten sich an ihrem eigenen Genuß. Zwischendurch holten sie tief Atem, um dann wieder von neuem zu beginnen. Vielleicht waren so fünf Minuten vergangen, vielleicht eine halbe Stunde. Da sagte Marina:
»Wo bleibt bloß dieser Sagredo? Es wäre vielleicht doch gut, du sähest einmal nach, was mit ihm los ist. So ist die Sache doch sehr auffällig.«
Galileo gehorchte. Im dunklen Nebenzimmer war niemand. Auch auf der Terrasse niemand, nur ein Diener saß auf der Treppe. Als er den Gast erblickte, sprang er hoch.
»Wo ist dein Herr?«
»Mein Herr läßt ausrichten, daß er die Unterhaltung Eurer Gnaden nicht stören wollte und nach Venedig zurückgefahren ist.«
»Wohin?«
»Nach Venedig zurück. Die Gondel wird er wieder herschicken.«
Da stand auch schon Marina an der Schwelle. Sie sagte:
»Wirst du Bescheid geben, wenn die Gondel zurück ist?«
»Ja, so lautete der Befehl meines Herrn.«
»Gut. Melde uns, wenn die Gondel wieder hier ist.«
Sie kehrten in das Zimmer zurück und nahmen ihren Platz auf der Ottomane wieder ein. Sie küßten sich. Lange, unstillbar. Und Galileo fragte zum ersten Male:
»Liebst du mich?«
»Ich liebe dich«, erwiderte Marina heiter und streichelte ihm über das Haar.
»Warum liebst du mich? Was liebst du an mir?«
»Ich weiß nicht, du bist sehr lieb und so spaßig. Und kindlich. Mir ist, als wärest du mein Sohn.«
Abermals küßten sie sich. Dann wieder Frage und Antwort:
»Liebst du mich?«
»Ich liebe dich.«
Die Zeit hörte auf zu sein, und sie fielen mit ihren Küssen in die Ewigkeit. Das Klopfen des Dieners schreckte sie auf.
»Ich melde Euer Gnaden, daß die Gondel wieder zurück ist.«
»Es ist gut«, erwiderte Galileo schnell und ein wenig heiser, »geh und setze dich hinein, wir kommen sofort nach.«
Der Diener ging. Noch fünf Minuten für Küsse hatte Galileo dieser Nacht abgezwungen. Jetzt umarmte er das Mädchen schon stürmisch. Ihre Körper berührten sich von Kopf bis zu Fuß und umschlangen sich. Dem Manne pochte das Herz so wild, daß er zu ersticken glaubte. Das Blut schoß ihm in den Kopf … er vergaß alles um sich herum. Mit dem zwiespältigen Gefühl der Seligkeit und des Entsetzens nahm er wahr, daß er keinen Widerstand fand. Und die Glückseligkeit wurde zu einem sinnenverzehrenden Taumel, das Entsetzen verwandelte sich in Schmerz über die fürchterliche Enttäuschung, während ihre Vereinigung sich vollzog.
Dann saß Galileo am Rande der Ottomane. Dämmriges Licht erfüllte das Gemach. Schwer atmend lag Marina. Er suchte nach Worten: wie sollte er ihr sagen, was für ein fürchterlicher Zusammenbruch dies für seine Seele, für seinen Glauben, für seine Liebe war und daß sie sich nie mehr sehen würden? Und schon hatte er seine Lippen zu leisen und düsteren Worten geöffnet, da begann Marina zu sprechen, während sie nach seiner Hand griff:
»Ich bin dir unendlich dankbar!« sagte sie herzlich. »Du weißt gar nicht, wie gut du mir tust, wenn du mich lieb hast.«
Überrascht wandte sich Galilei zu ihr.
»Ja«, fuhr Marina fort, »ich kann mir vorstellen, daß du mich nicht für unschuldig hieltest. Aber der Sturz in den Abgrund, vor dem ich stand, wäre viel fürchterlicher gewesen. Weißt du, der Mann, den ich liebte, war gezwungen, reich zu heiraten. Mein Vater ist arm, ich aber gehe in die Gesellschaft. Man braucht Kleider, Schuhe und allerlei andere Sachen. Wenn ich jemanden geliebt hätte, hätte ich die Sorgen und die Qualen der Schulden gerne ertragen. Aber ich hatte niemanden. Und da wollte mich eine Frau überreden, eine gewisse Frau Manetti …«
»Frau Manetti?« schrie Galilei auf, »das ist doch eine berufsmäßige Kupplerin!«
»Ja, das ist sie. Sie wollte mich überreden. Sie versprach mir das Blaue vom Himmel herunter. Ich fing schon an, schwach zu werden, aber ich konnte es nicht. Es gibt nichts Fürchterlicheres, als jemanden ohne Liebe zu umarmen. Ihr Männer könnt euch das gar nicht vorstellen. Aber wie gesagt, ich war schon wankelmütig geworden. Es hätte nicht mehr viel dazu gefehlt. Und dann kamst du. Siehst du, und du hast mich gerettet. Ich habe mich in dich verliebt, und das gibt mir Kraft. Ich weiß, du bist arm, aber das schadet nichts. Ich werde schon irgendwie durchkommen. Nur liebe mich! Nicht wahr, du wirst mich liebhaben?«
Galileo nickte nur stumm.
»Küsse mich!« bat Marina.
Aber er küßte sie nicht.
»Wer war das, der dich verlassen und eine andere geheiratet hat? Antworte mir, ich will alles wissen.«
Marina zögerte, aber er bestand hartnäckig auf seiner Frage. Und er erfuhr alles. Marina hatte mit achtzehn Jahren ihre erste Liebschaft mit ihrem Vetter, ohne jegliche Liebe, aus Spielerei, aus Neugierde und weil es die Freundinnen ebenso machten. Das währte ein Jahr lang. Dann kam der andere, Benedetto Tessuti. In den verliebte sie sich. Der Vetter fand inzwischen den Tod durch Ertrinken. Das war das Ganze.
»Hast du Geld von ihnen bekommen? Antworte! Ich will die Wahrheit wissen.«
»Aber mein Herz, dieser Tessuti war doch ein genau so armer Teufel wie du. Wofür hältst du mich? Mit solchen Fragen bedrängst du mich? Und in dieser Nacht? Jetzt hast du mir weh getan, wo ich doch so lieb und gut zu dir bin. Ich bin dir böse.«
Sie wandte sich ab. Galileo nahm in der Dämmerung die herrlichen Linien ihrer Gestalt wahr. Was weiß dieses Mädchen von dem, was in ihm vergeht? Die Arme kann doch nichts dafür, daß so ein verrückter Mathematiker gekommen ist, der sie auf seinen geheiligten Thron setzen wollte, um sie auf den Knien anzubeten. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Die erste große Liebe seines Lebens wähnte er zu finden und fand statt dessen ein Verhältnis. Ein anderer Mann wäre an die Decke gesprungen vor Freude, daß es ihm gelungen war, ein solch auffallend schönes Mädchen zu erobern, und er saß mit blutendem Herzen da und seufzte! Und während er den Verlust seines herrlichen Traumes beweinte, mußte er dieses Mädchen auch noch bemitleiden. Wie rührend war sie in ihrer kindlichen Dankbarkeit, jemanden lieben zu dürfen.
Zärtlich berührte er ihre Hand.
»Sei nicht böse, Marina.«
»Ich bin dir nicht böse«, antwortete das Mädchen sofort versöhnt und liebenswürdig, »versprich mir, daß du mir nie mehr weh tun wirst!«
»Ich verspreche es dir. Ich tue dir nie mehr weh. Du verdienst das auch nicht. Du bist gut und lieb.«
»Küsse mich.«
Sie umschlangen sich abermals, jetzt aber schon so, als ob sie seit Jahren zueinander gehörten.
Draußen wurde es langsam hell. Als sie durch den Garten gingen, blickten sie entzückt um sich. Gepflegte Wege, kunstvoll angelegte Blumenbeete, schattenspendende Bäume in der zwitschernden taufrischen Kühle des Morgens. Die berühmten Gärten von Murano schenkten ihrem Hochzeitsfest den ersten Sonnenaufgang. Fröhlicher lauter Vogelgesang begleitete sie bis zur Brücke. Dort fanden sie die wartende Gondel.
Zur linken Hand ging die Sonne auf. Als sie am Friedhof vorüber waren, entfaltete sich vor ihren Augen das im Glanze der Morgensonne gebadete Wunder Venedig. Die gelbroten Sonnenstrahlen bemalten die Mauern des Dogenpalastes, ließen die Spitze des Campanile, die Goldornamente des Orologio und die grüne Halbkugel der Markuskirche erglänzen. Als ob sie in die flimmernde Goldstadt des Märchens gekommen wären, aus dem geheimnisvollen, schwülen und betörenden Dunkel der Liebe, das in der Ferne vieler Jahre hinter ihnen zurückblieb. Dann bogen sie in den Canale grande ein und fuhren dem bezaubernden Lichtstrahl des Morgens entgegen. Aus purem Golde waren sie alle beide, zwei arme Teufel in der reichen, prächtigen Gondel.
An der Ecke des Cà d'Oro stiegen sie aus. Galileo raffte sein ganzes Geld zusammen und gab es lässig den Ruderern. Die zogen schläfrig ihre Mützen und verbeugten sich untertänig.
»Bleibe du hier zurück«, sagte Marina, »ich gehe jetzt allein zum Tor. Wenn zufällig jemand aus dem Fenster sieht, soll er mich nicht mit dir zusammen sehen. Bleibst du heute noch in Venedig?«
»Heute geht es nicht. Ich habe Stunden zu geben. Aber abends kann ich zurückkommen. Um neun Uhr kann ich dich am Rialto erwarten.«
»Ich werde dort sein. Küsse mich nicht, es ist schon hell.«
Die schlanke, wiegende Gestalt verschwand zwischen den Häusern. Mit gelassenem Frohmut sah ihr Galilei nach und stellte sich die Schöne in seinen Armen vor. Dann ging auch er mit langsamen Schritten, die in der morgendlichen Stille sonderbar hohl auf dem Pflaster klangen, seiner Wege. Er griff in seine Taschen.
»Es blieb mir nichts«, dachte er, »nur Kopernikus.«