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Es hatte lange geregnet im Thal des Sacramento. Der Nordarm war über seine Ufer getreten, und der Klapperschlangenbach war unpassirbar. Die wenigen Felsbrocken, welche die sommerliche Furt von Simpsons Uebergang bezeichnet hatten, waren in einer weiten Wasserfläche verschwunden, die sich bis an die Hügel am Fuß des Hochgebirgs erstreckte. Die Post, die hinauf wollte, mußte bei Grangers Halt machen, die letzte Briefpost war in den »Tules« verloren gegeben worden, indem der reitende Briefträger sich durch Schwimmen rettete. »Ein Flächenraum so groß wie der Staat Massachusetts steht jetzt unter Wasser,« bemerkte mit nachdenklichem Localstolz die »Sierra Avalanche«.
Auch im Hügellande war das Wetter nicht besser. Der Schmutz lag tief auf der Bergstraße. Wagen, welche weder physische Kraft noch moralische Schelte von den üblen Wegen wegbringen konnte, auf die sie gerathen waren, versperrten das Geleis, und der Weg nach Simpsons Bar wurde durch zusammengebrochnes Zugvieh und schweres Fluchen bezeichnet. Und weiterhin hing, abgeschnitten und unzugänglich, verregnet und beklunkert, geschlagen von hohen Winden und bedroht von hohen Wassern, Simpsons Bar am heiligen Abend vor Weihnachten 1862 wie ein Schwalbennest an der felsigen Wand und den zersplitterten Kapitälen des Tafelbergs und erbebte im Sturme.
Als die Nacht sich auf die Ansiedelung herabsenkte, strahlten durch den Nebel einige Lichter aus den Fenstern von Hütten zu beiden Seiten der Landstraße, die jetzt der Länge und der Quere nach von ungebändigten Bächen durchfurcht und von räuberischen Winden überfegt war. Zum Glück waren die Meisten von der Bevölkerung in Thompsons Laden beisammen, wo sie sich um einen rothglühenden Ofen zusammendrängten, nach welchem sie schweigsam in einem gewissen allgemein angenommenen Sinne geselligen Verkehrs spuckten, der eine Unterhaltung vielleicht unnöthig machte. In der That waren die meisten Methoden der Unterhaltung in Simpsons Bar seit langer Zeit schon erschöpft: das Hochwasser hatte die regelmäßigen Beschäftigungen im Goldgraben und im Flusse gestört, und ein daraus folgender Mangel an Geld und Whiskey hatte den meisten unschicklichen Erholungen den Lebensnerv entzogen. Selbst Mr. Hamlin mußte die Schenkstube mit fünfzig Dollars in der Tasche verlassen, dem einzigen Betrag, den er wirklich zuletzt von den großen Summen ins Trockne brachte, welche er in erfolgreicher Ausübung seiner beschwerlichen Profession gewonnen hatte. »Wenn Eins mich bitten thäte,« bemerkte er etwas später, – »wenn Eins mich bitten thäte, ich sollte ihm ein hübsches Dörfel zeigen, wo eine abgedankte Spielratte, der's nicht auf Geld ankäme, öfters und frisch sich Bewegung machen könnte, so würde ich sagen: Simpsons Bar. Aber für einen jungen Mann mit starker Familie, von seinen Anstrengungen abhängt, lohnt sich's nicht.« Da Mr. Hamlins Familie hauptsächlich aus Erwachsenen weiblichen Geschlechts bestand, so wird diese Bemerkung hier mehr um die Breite seines Humors als um die genaue Ausdehnung seiner Verantwortlichkeiten zu zeigen angeführt.
Wie dem auch sei, die Leute, welche unbewußt zu Gegenständen dieser Satire wurden, saßen jenen Abend in der achtlosen Apathie, welche Trägheit und Mangel an Aufregung gebiert. Selbst das plötzliche Getrappel von Hufen vor der Thür weckte sie nicht. Dick Bullen allein hielt im Auskratzen seiner Pfeife inne und erhob seinen Kopf, aber kein Anderer von der Gruppe zeigte irgendwie, daß ihn der Mann, welcher eintrat, interessirte, oder daß er ihn erkannte.
Es war eine Gestalt, welche der Gesellschaft bekannt genug war und in Simpsons Bar als »Der Alte Mann« passirte. Ein Mann von vielleicht fünfzig Jahren, grauköpfig und dünnhaarig, aber von Gesichtsfarbe noch frisch und jung. Ein Gesicht voll stets bereites, aber nicht sehr starkes Mitgefühl mit einer chamäleonartigen Befähigung, die Schatten und Farben dicht aufeinander folgender Stimmungen und Empfindungen anzunehmen. Er hatte augenscheinlich soeben erst etliche vergnügte Gesellen verlassen und bemerkte zuerst nicht die Ernsthaftigkeit der Gruppe, sondern klappste scherzend den Nächsten auf die Schulter und warf sich dann in einen leeren Stuhl.
»Eben die schönste Geschichte gehört, Jungens! Ihr kennt doch Smiley da drüben – Jim Smiley – der lustigste Kerl in der ganzen Bar? Na denn, Jim erzählte eben die prächtigsten Sachen von –«
»Smiley, ist ein verdammter Schafskopf,« unterbrach ihn eine mürrische Stimme.
»Ein ganz verfluchtes Stinkthier,« fügte ein Andrer mit Grabestönen hinzu.
Ein Schweigen folgte auf diese positiven Behauptungen. Der Alte Mann sah sich rasch rings in der Gruppe um. Dann wechselte sein Gesicht langsam den Ausdruck. »Ja, 's ist wahr,« sagte er nachdenklich nach einer Pause. »Sicherlich eine Art Stinkthier und etwas von einem Schafskopf. Natürlich.« Er schwieg einen Augenblick, wie in schmerzliche Betrachtung des üblen Geruchs und der Dummheit des unbeliebten Smiley versunken. »Schreckbares Wetter, nicht?« setzte er hinzu, indem er jetzt ganz in der Strömung des vorherrschenden Gefühls schiffte. »Höllisch böse Zeitungsnachrichten über die Jungens und nichts von Geld zu sehen diese Jahreszeit. Und morgen haben wir Weihnachten.«
Bei dieser Ankündigung gab es eine Bewegung unter den Leuten, aber es war nicht klar, ob es Befriedigung oder Verdruß war. »Ja,« fuhr der Alte Mann in dem schwermüthigen Tone fort, den er in den letzten Augenblicken unbewußt sich zugelegt hatte, – »ja, Weihnachten, und heute haben wir heiligen Abend. Seht, Jungens, ich dachte da so – das heißt, ich hatte da so 'ne Idee – die mir eben durch den Kopf ging, wißt Ihr – daß Ihr am Ende heute Lust hättet, mit in mein Haus zu kommen und 'nen Tropfen zu trinken. Aber ich glaube jetzt, Ihr habt keine Lust nicht. Ist Euch vielleicht nicht so zu Muthe?« fügte er mit fragendem Mitgefühl hinzu, indem er seinen Gefährten in die Gesichter blickte.
»Na, ich weiß nicht,« erwiderte Tom Flynn mit einiger Heiterkeit. »Vielleicht haben wir Lust. Aber wie steht's mit Deiner Frau, Alter Mann? Was sagt sie dazu?«
Der Alte Mann zögerte. Seine eheliche Erfahrung war keine glückliche gewesen, und die Thatsache war in Simpsons Bar bekannt. Seine erste Frau, ein zartes, hübsches Weibchen, hatte schwer und geheim von dem eifersüchtigen Verdachte ihres Gemahls gelitten, bis er eines Tages die ganze Bar nach seinem Hause einlud, um ihre Untreue offenkundig zu machen. Als die Gesellschaft ankam, fand sie das schüchterne kleine Geschöpf ruhig mit den Pflichten ihrer Wirthschaft beschäftigt und zog beschämt und verlegen ab. Aber das feinfühlende Weib erholte sich nicht so leicht von dem Stoß dieser außerordentlichen Beleidigung. Nur schwer gelang es ihr, so viel Gemüthsruhe wiederzugewinnen, um ihren Liebhaber aus dem Verschluß, in dem er verborgen gewesen, herauszulassen und mit ihm zu entlaufen. Sie ließ einen Knaben von drei Jahren zum Trost für ihren beraubten Gatten zurück. Die gegenwärtige Frau des Alten Mannes war seine Köchin gewesen. Sie war groß, treu und zu Angriffen geneigt.
Ehe er antworten konnte, hob Joe Dimmick mit großer Entschiedenheit hervor, daß es »des Alten Mannes Haus« sei, und daß – hier rief er die göttliche Macht zum Zeugen – er in solch einem Falle jeden, der ihm beliebe, einladen würde, selbst wenn er damit sein ewiges Heil in Gefahr bringen sollte. Die Mächte der Hölle, so bemerkte er ferner, würden vergebens gegen ihn kämpfen. Alles dies wurde mit einer Feinheit und Kraft der Sprache vorgetragen, die in dieser nothwendigen Uebersetzung verloren gegangen sind.
»Natürlich. Gewiß. Das ist's,« sagte der Alte Mann mit einem Stirnrunzeln voll Gleichempfinden. »Da liegt nichts im Wege. Es ist mein eignes Haus, jede Sparre dran von mir gebaut. Fürchtet Euch nicht vor ihr, Jungens. Sie wird vielleicht ein Bischen derb losbelfern – wie's Weiber machen – aber sie wird schon zahm werden.« Heimlich baute der Alte Mann auf die Aufregung durch Schnaps und die Macht eines muthigen Beispiels als Stützen für solch einen Fall.
Bis jetzt hatte Dick Bullen, das Orakel und der Führer von Simpsons Bar, noch nicht gesprochen. Er nahm jetzt seine Pfeife aus den Lippen. »Alter Mann, wie geht's mit der Gesundheit Deines Johnny. Scheint mir, daß er nicht so munter aussah das letzte Mal, wo ich ihn am Uferfelsen die Chinesen unten mit Steinen schmeißen sah. Schien mir nicht viel Theilnahme daran zu empfinden. Wurde da gestern ein Haufen von ihnen, der im Flusse ersoffen war, hier angespült, und ich hatte da meine Gedanken wegen Johnny, und wie sie ihm fehlen würden. Jetzt könnte es sein, daß wir im Wege wären, wenn er krank wäre.«
Der Vater, offenbar gerührt nicht blos von diesem pathetischen Bilde der Einbuße Johnnys, sondern auch von dem rücksichtsvollen Zartgefühl des Redners, beeilte sich, ihm zu versichern, daß Johnny sich besser befinde, und daß »ein Bischen Spaß ihn aufheitern würde«. Worauf Dick aufstand, sich schüttelte und sagte: »Ich bin parat. Geh voraus, Alter Mann, hierhin!« Damit ging er mit einem Sprung und einem charakteristischen Juchzer selbst voraus in die Nacht. Als er durch das äußere Gemach schritt, griff er vom Herde ein hellflammendes Scheit. Dies wurde von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft wiederholt, die dicht auf- und nebeneinander folgten, und bevor der erstaunte Besitzer von Thompsons Laden die Absicht seiner Gäste gewahr geworden, war das Zimmer verlassen.
Die Nacht war pechdunkel. Im ersten Windstoß erloschen ihre extemporirten Fackeln, und nur ihre rothen Brände, die in der Finsterniß wie betrunkne Irrlichter herumtanzten und vorüberhuschten, zeigten an, wo sie sich befanden. Ihr Weg führte die Fichtenschlucht hinauf, an deren oberem Ende eine breite, niedrige, mit Baumrinde gedeckte Hütte sich im Berghange barg. Sie war die Wohnstätte des Alten Mannes und der Eingang zu dem Stollen, in dem er arbeitete, wenn er überhaupt arbeitete. Hier hielt die Menge einen Augenblick inne, aus zarter Rücksicht auf ihren Wirth, welcher hinter ihnen herkeuchte.
»Vielleicht thätet Ihr gut, hier eine Secunde außen zu warten, während ich hineingehe und nachsehe, ob Alles richtig ist,« sagte der Alte Mann mit einer Gleichgültigkeit, die zu fühlen er weit entfernt war. Diese Andeutung wurde dankbar aufgenommen, die Thür öffnete sich und schloß sich hinter dem Wirthe, und die Menge lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, duckte sich unter die Traufen, wartete und lauschte.
Ein paar Augenblicke ließ sich nichts hören als das Tröpfeln des Wassers aus den Traufen, und das Peitschen und Rauschen der mit dem Winde kämpfenden Zweige über ihnen. Dann wurden die Leute unruhig, und geflüsterte Vermuthungen und Befürchtungen gingen von Einem zum Andern. »Rechne, sie hat ihm auf den ersten Riß ein Loch in den Kopf geschlagen.« – »Sperrte ihn in den Stollen und verbarrikadirte ihn da wahrscheinlich.« – »Schmiß ihn hin und sitzt jetzt auf ihm.« – »Kocht vermuthlich etwas, um uns damit zu beschütten; weg von der Thür, Jungens!« Dann aber klirrte der Riegel, die Thür ging langsam auf, und eine Stimme sagte: »Kommt herein aus der Nässe.«
Die Stimme war weder die des Alten Mannes noch die seiner Frau. Es war die Stimme eines kleinen Knaben, deren schwacher Discant durch jene unnatürliche Heiserkeit gebrochen war, die nur herumschweifendes Leben und die Gewohnheit frühreifen Strebens, sich geltend zu machen, hervorrufen kann. Es war das Gesicht eines kleinen Knaben, welches nach den ihren aufblickte – ein Gesicht, das hübsch und selbst fein hätte aussehen können, wenn es nicht von innen durch schlimmes Wissen und von außen durch Schmutz und harte Erfahrung verdunkelt gewesen wäre. Er hatte eine Wolldecke über seine Schultern geworfen und war augenscheinlich soeben aus seinem Bette aufgestanden.
»Kommt 'rein,« wiederholte er, »und macht keinen Spectakel nicht. Der Alte Mann ist da drinnen und red't mit Muttern,« fuhr er fort, indem er auf ein anstoßendes Gemach zeigte, welches eine Küche zu sein schien, und aus welchem die Stimme des Alten Mannes im Tone der Abbitte sich hören ließ. »Laß mich gehen,« fügte er kläglich hinzu, indem er sich an Dick Bullen wendete, welcher ihn mitsammt der Decke in die Höhe gehoben hatte und so that, als ob er ihn ins Feuer werfen wollte, »laß mich los, Du verdammter alter Narr, hörst Du?«
Auf diese Weise beschworen, ließ Dick Bullen Johnny mit einem halbverhaltnen Lachen auf den Boden nieder, während die Leute ruhig eintraten und sich um einen langen Tisch von rohen Bretern reihten, welcher die Mitte der Stube einnahm. Johnny schritt dann würdevoll auf einen Eßschrank zu und nahm verschiedene Gegenstände heraus, die er auf die Tafel setzte. »Da ist Whiskey. Und Zwieback. Und Pöcklinge. Und Käse.« Er that einen Biß in den letzteren auf seinem Wege nach dem Tische. »Und Zucker.« Er knipp en route mit einer kleinen und sehr schmutzigen Hand einen Mund voll davon ab. »Und Toback. Da sind auch Backäpfel auf dem Simse, aber ich mag keine. Aepfel treiben den Bauch auf. Na,« so schloß er, »nu trantscht 'rein und fürchtet Euch nicht. Ich mache mir aus der Alten nichts. Sie gehört nicht zu mir. Sela.«
Er war nach der Schwelle eines kleinen Gemachs gegangen, das kaum größer als ein Schrank und von dem Hauptzimmer abgetheilt war, und in dessen düsterem Hintergrunde sich ein kleines Bett befand. Er stand da einen Augenblick still, blickte die Gesellschaft an, während seine bloßen Füße unter der Decke hervorguckten, und nickte.
»Hallo, Johnny! Du willst doch nicht wieder ins Nest kriechen, was?« sagte Dick.
»Ja, das will ich,« erwiderte Johnny entschieden.
»Ei, was ist denn los, alter Kerl?«
»Ich bin krank.«
»Von was krank?«
»Ich habe das Fieber gekriegt. Und Frostbeulen. Und Rheumatiz,« erwiderte Johnny und verschwand drinnen. Nach einem Augenblick Pause fügte er im Dunkeln, augenscheinlich unter der Bettdecke hinzu: »Und Lebern!«
Es gab ein verlegenes Schweigen. Die Leute sahen sich und das Feuer an. Selbst vor dem appetitweckenden Bankett wollte es ihnen scheinen, als könnten sie wieder der Abhängigkeit von Thompsons Laden verfallen, als die Stimme des Alten Mannes, unvorsichtig laut geworden, im Tone der Entschuldigung aus der Küche kam.
»Gewiß! So ist es. Natürlich sind's solche. Ein Haufe von faulen versoffnen Bummlern, und der Dick Bullens da, das ist der ordinärste von allen. Hatten so wenig Verstand im Kopfe, daß sie mit 'rum kamen, wo wir Krankheit im Hause und nichts zu essen haben. Da hast Du, was ich sagte. Bullen, sagt' ich, Du mußt toll und voll oder ein Narr sein, sagt' ich, an so was zu denken. Staples, sagte ich, bist Du ein Mensch, Staples, daß Du mir die Hölle unters Dach bringen willst, wo lauter Kranke herumliegen? Aber sie wollten kommen – durchaus kommen. Das ist's, was Du von solchem Pack Dir erwarten mußt, wie es um die Bar herumliegt.«
Ein Ausbruch von Lachen folgte von Seiten der Leute dieser unglücklichen Auseinandersetzung. Ob es in der Küche gehört wurde, oder ob die zornige Lebensgefährtin des Alten Mannes damals gerade alle andern Weisen ihrer verachtungsvollen Entrüstung erschöpft hatte, kann ich nicht sagen. Aber plötzlich wurde eine Hinterthür mit großer Heftigkeit zugeschlagen. Noch ein Augenblick, und der Alte Mann erschien wieder; er wußte glücklicherweise nichts von der Ursache des eben stattgehabten Ausbruchs von Heiterkeit und lächelte zuthulich.
»Meine Alte dachte, sie wollte auf 'nen Sprung zu Mrs. Mac Fadden zu einem gemüthlichen Besuch hinüber,« erklärte er mit vergnügter Gleichgültigkeit, als er einen Sitz an der Tafel einnahm.
Seltsam genug bedurfte es dieses unerwarteten Ereignisses, um die Verlegenheit zu zerstreuen, welche die Gesellschaft zu empfinden begann, und mit ihrem Wirthe kehrte ihre natürliche Dreistigkeit zurück. Ich habe nicht die Absicht, die Tafelscenen dieses Abends zu schildern. Der wißbegierige Leser wird die Versicherung annehmen, daß die Unterhaltung etwas später am Abend sich durch dieselbe geistige Erhöhung, dieselbe vorsichtige Rücksichtnahme, dasselbe wählerische Zartgefühl, dieselbe rednerische Präcision und denselben logischen und fließenden Redegang charakterisirte, welche ähnliche Versammlungen des männlichen Geschlechts in civilisirten Oertlichkeiten und unter günstigeren Auspizien auszeichnen. Man zerschlug keine Gläser, weil es keine gab, kein Schnaps wurde nutzlos auf Diele und Tisch vergossen, weil diese Waare jetzt selten war.
Es war nahezu Mitternacht, als die Festlichkeiten unterbrochen wurden. »Horch!« sagte Dick Bullen, indem er seine Hand emporhielt. Es war die klägliche Stimme Johnnys aus seinem anstoßenden Verschlag: »O Vatchen!«
Der Alte Mann stand hastig auf und verschwand im Verschlage. Bald nachher erschien er wieder. »Sein Rheumatiz wird wieder schlimmer,« erklärte er, »und er will, ich soll ihn reiben.« Er hob das Whiskeyfäßchen vom Tische und schüttelte es. Es war leer. Dick Bullen setzte seinen Zinnbecher mit einem verlegenen Lachen hin. Dasselbe thaten die Andern. Der Alte Mann prüfte ihren Inhalt und sagte hoffnungsvoll: »Ich rechne, das ist genug. Er braucht nicht viel. Ihr bleibt alle miteinander noch ein Weilchen, dann bin ich wieder da.« Darauf verschwand er mit einem alten Flanellhemd und dem Whiskey in dem Verschlage. Die Thür schloß nur unvollständig, und der folgende Dialog war deutlich hörbar:
»Nu Söhnchen, wo thut's am mehrsten weh?«
»Manchmal da oben und manchmal hier unten. Aber am schlimmsten ist's von hierher zu hierher. Reibe hier, Vatchen.«
Ein Schweigen schien ein tüchtiges Reiben anzudeuten. Dann sagte Johnny:
»Macht Euch draußen wohl recht lustig, Vatchen?«
»Ja, Söhnchen.«
»Morgen ist Weihnachten, nicht wahr?«
»Ja, Söhnchen. Wie fühlst Du Dich jetzt?«
»Besser. Reib' ein Bischen weiter unten. Was ist denn eigentlich Weihnachten? Was ist da denn Alles los?«
»O 's ist ein Tag.«
Diese erschöpfende Definition befriedigte offenbar; denn es folgte ein Weilchen schweigsamen Reibens. Bald nachher sagte Johnny:
»Mutter sagt, daß überall anderswo als hier alle Leute allen Leuten zu Weihnachten was schenken, und dann ging sie gerade auf Dich los. Sie sagt, es gäbe 'nen Mann, den sie Sante Claus nennen thäten, kein weißer Mann, weißt Du, sondern so 'ne Art Chineser. Der kommt in der Nacht vor Weihnachten durch die Feueresse 'runter und giebt den Kindern was – solchen Jungen wie ich. Steckt's ihnen in die Stiefeln! Das war's, was sie mir weismachen wollte. Sanft jetzt, Vatchen, wo reibst Du nur hin – das ist ja 'ne Meile weit von der Stelle. – Sie machte sich das blos zurechte, nicht wahr, um mich und Dich zu ärgern? – Reib nicht da ... Au, Vatchen!«
Bei der großen Stille, die auf das Haus gefallen zu sein schien, war das Aechzen der nahen Fichten und das Tröpfeln von den Nadeln draußen sehr deutlich zu hören. Auch Johnnys Stimme wurde leiser, als er fortfuhr: »Mach's nicht mehr; denn es wird rasch besser bei mir. Was treiben die Jungens draußen?«
Der Alte Mann öffnete die Thür ein Stück und guckte durch die Lücke. Seine Gäste saßen da gemüthlich genug, auf dem Tische lagen ein paar Silbermünzen und eine magere Buckskinbörse. »Sie wetten um was – ein oder das andere Spielchen. Ganz in der Ordnung,« erwiderte er Johnny und begann wieder zu reiben.
»Ich möchte auch dabei sein und ein bißchen Geld gewinnen,« sagte Johnny nachdenklich nach einer Pause.
Der Alte Mann wiederholte geläufig, was offenbar eine ihm zur Gewohnheit gewordene Formel war, nämlich, wenn Johnny warten wollte, bis er im Stollen auf reiches Erz stieße, so würde er Geld die schwere Menge haben u.dgl.
»Ja,« sagte Johnny, »das thust Du aber nicht. Und ob Du's heraushackst oder ich's gewinne, ist ungefähr egal. 's nichts als Glück. Aber 's ist doch höllisch curios mit Weihnachten – nicht wahr? Warum nennt man's nur Weihnachten?«
Vielleicht mit einer gewissen instinctmäßigen Rücksicht darauf, daß seine Gäste ihn hören möchten, oder infolge eines dunkeln Gefühls, daß er nicht das Richtige wisse, war die Antwort des Alten Mannes so leise, daß sie über das Gemach hinaus nicht zu hören war.
»Ja,« sagte Johnny mit einer leisen Abnahme des Interesses, »ich habe von dem schon gehört. Da, das wird genug sein, Vatchen. Es thut mir nicht halb so weh mehr als vorher. Jetzt wickle mich in die Decke hier recht fest ein. So. Nun,« fügte er mit halbersticktem Flüstern hinzu, »setze Dich hier neben mich, bis ich einschlafe.« Um sich des Gehorsams zu versichern, machte er die eine Hand von der Decke los und erfaßte den Aermel seines Vaters, worauf er sich wieder zum Einschlafen zurechtlegte.
Einige Augenblicke wartete der Alte Mann geduldig. Dann machte die ungewöhnliche Stille des Hauses seine Neugier rege, und ohne sich von dem Bette wegzubewegen, öffnete er vorsichtig die Thür mit seiner freien Hand und sah in das Hauptzimmer hinein. Zu seiner unendlichen Ueberraschung war es dunkel und verlassen. Aber eben da brach ein verkohlender Klotz auf dem Herde zusammen, und bei der aufzüngelnden Flamme sah er die Gestalt Dick Bullens vor den verlöschenden Kohlen sitzen.
»Hollah!«
Dick fuhr zusammen, erhob sich und kam etwas unsicher auf den Beinen auf ihn zu.
»Wo sind die Jungens?«
»Die Schlucht hinaufgegangen, ein kleiner Spaziergang. Sie kommen in einer Minute zurück, um mich abzuholen. Ich warte auf sie. Was stierst mich so an, Alter Mann?« setzte er mit gezwungnem Lachen hinzu, »Du denkst wohl, ich bin betrunken?«
Man hätte dem Alten Manne diese Vermuthung verzeihen können; denn Dicks Augen waren feucht und sein Gesicht geröthet. Er schwankte und taumelte zurück nach dem Kamin, gähnte, schüttelte sich, knöpfte seinen Rock zu und lachte. »Dazu ist der Schnaps nicht reichlich genug vorhanden, Alter Mann. Nu steh nur nicht auf,« fuhr er fort, als der Alte Mann eine Bewegung machte, als ob er seinen Aermel von Johnnys Hand lösen wollte. »Kümmre Dich nicht um das, was vorgeht. Bleib sitzen, wo Du bist, ich gehe gleich. He, da sind sie.«
Man hörte ein leises Pochen an der Thür. Dick Bullen öffnete sie rasch, nickte seinem Wirthe »Gute Nacht« zu und verschwand. Der Alte Mann würde ihm nachgefolgt sein, wenn die Hand nicht gewesen wäre, welche unbewußt immer noch seinen Aermel festhielt. Er hätte sie leicht losmachen können; sie war klein, schwach und abgezehrt. Aber vielleicht gerade weil sie klein, schwach und abgezehrt war, änderte er seinen Vorsatz und legte, indem er seinen Stuhl näher an das Bett zog, seinen Kopf auf dasselbe. In dieser vertheidigungslosen Lage überfiel ihn die Gewalt seiner vorherigen Leistungen im Trinken. Das Zimmer flickerte und schwand vor seinen Augen, erschien wieder, schwand abermals, erlosch und verließ ihn – eingeschlafen.
Inzwischen trat Dick Bullen, indem er die Thür schloß, seinen Kameraden entgegen.
»Bist Du bereit?« fragte Staples.
»Bereit,« sagte Dick, »welche Zeit ist es?«
»Zwölfe vorbei,« war die Antwort.
»Kannst Du's fertig kriegen? Es sind beinahe fünfzig Meilen, die Tour hin und zurück.«
»Ich denke,« erwiderte Dick kurz.
»Wo ist die Stute?«
»Bill und Jack halten mit ihr am Kreuzwege.«
»Sie mögen noch eine Minute warten,« sagte Dick.
Er drehte sich um und trat leise wieder in das Haus. Beim Lichte der im Erlöschen flackernden Kerze und des absterbenden Feuers sah er, daß die Thür des kleinen Gemachs offen stand. Er schritt auf den Zehen hin und sah hinein. Der Alte Mann war in seinen Stuhl zurückgefallen und schnarchte, seine hülflosen Füße in einer Linie mit seinen zusammengesunkenen Schultern ausgestreckt und den Hut über die Augen gezogen. Neben ihm auf einer schmalen hölzernen Bettstelle lag Johnny, dicht in eine Wolldecke eingewickelt, welche mit Ausnahme eines Streifchens Stirn und einiger von Schweiß nassen Locken Alles verbarg. Dick Bullen that einen Schritt vorwärts, zögerte und blickte über seine Schultern in die verlassene Stube zurück. Alles war ruhig. Mit einem plötzlichen Entschluß strich er sich seinen ungeheuren Schnurrbart mit beiden Händen zurück und neigte sich über den schlafenden Knaben. Aber gerade als er das that, fegte ein boshafter Windstoß, der auf der Lauer gelegen, den Schornstein herunter, blies den Herd wieder an und erleuchtete die Stube mit einer schamlosen Gluth, vor welcher Dick mit schämigem Schrecken entfloh.
Seine Gefährten warteten bereits auf ihn am Kreuzwege. Zwei von ihnen arbeiteten sich in der Dunkelheit mit einem seltsamen, häßlichen Dinge ab, welches, als Dick näher kam, die Gestalt eines großen gelben Gaules annahm.
Es war die Stute. Sie war kein hübsches Bild. Von ihrer krummen Nase bis zu ihren hervortretenden Hanken, von ihrem gewölbten Rücken, der durch die steifen Machillas des mexikanischen Sattels verborgen wurde, bis zu ihren dicken, geraden, knochigen Beinen war an ihr keine Linie von der Anmuth des Pferdegeschlechts. In ihren halb blinden, aber ganz boshaften weißen Augen, in ihrer vorstehenden Unterlippe, in ihrer ungeheuerlichen Farbe war nichts als Häßlichkeit und Laster.
»Na jetzt,« sagte Staples, »weg aus dem Bereich ihrer Hacken, Jungens, und aufgestiegen mit Dir. Verfehle Deinen ersten Griff nach ihrer Mähne nicht und gieb Acht, rasch in den Steigbügel. Fertig!«
Es folgte ein Sprung, ein Griff und Kampf, ein mächtiger Satz, ein toller Rückzug der Menge, ein Kreis von flüchtigen Hufen, zwei matte Sprünge, mit denen das Pferd den Erdboden streifte, ein rasches Arbeiten und Klirren von Sporen, ein Satz abwärts – dann hörte man irgendwo in der Finsterniß die Stimme Dicks: »Alles in Ordnung!«
»Schlag auf dem Rückweg nicht die untere Straße ein, wenn Du nicht von der Zeit hart gedrängt bist. Halt sie bergab nicht kurz im Zügel. Wir wollen um fünf an der Furt sein. Vorwärts nun. Hussa! Mula! He!«
Ein Aufspritzen, ein Funke aus der Kiesleiste in der Straße, ein Getrappel in dem felsigen Aushau weiterhin, und Dick war fort.
*
Singe mir, Muse, den Ritt von Richard Bullen! O sing mir, Muse, von ritterlichen Männern, vom geheiligten Auszug, den lobebaren Thaten, der Prügelei gemeiner Lümmel, dem furchtbaren Ritt und den grausamen Gefahren, welche die Blüthe von Simpsons Bar bestand! O weh, sie ist zimperlich, diese Muse! Sie will nichts wissen von diesem bockenden Vieh und seinem taumelnden, zerlumpten Reiter, und ich muß ihm wohl oder übel in Prosa und zu Fuße folgen!
Es war ein Uhr, und doch hatte er erst den Klapperschlangenberg erreicht. Denn inzwischen hatte Jovita ihm alle ihre Unvollkommenheiten wiederholt gezeigt und alle ihre Laster spielen lassen. Sie war drei Mal gestolpert. Zwei Mal hatte sie ihre Römernase in eine gerade Linie mit den Zügeln gebracht und, Gebiß und Sporn widerstehend, den Weg wie toll quer durchs Land eingeschlagen. Zwei Mal war sie zurückgefahren und beim Zurückfahren auf das Hintertheil gefallen, und zwei Mal hatte der gewandte Dick unverletzt seinen Sitz wiedergewonnen, bevor sie sich wieder auf ihre mangelhaften Beine erhob. Und eine Meile vor ihnen, am Fuß eines langgestreckten Hügels, war der Klapperschlangenbach. Dick wußte, daß hier das Hauptkreuz und die Hauptprobe seiner Befähigung zur Durchführung seines Vorhabens lag, biß grimmig seine Zähne zusammen, drückte ihr seine Knie tüchtig in die Flanken und vertauschte seine defensive Taktik mit flotter Aggression. Eingeschüchtert und toll gemacht begann Jovita den Weg thalabwärts. Hier that der pfiffige Richard, als wollte er sie mit großprahlerischen Scheltworten und gutgeheuchelten Alarmrufen zu langsamer Gangart bringen. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, daß Jovita sofort durchging. Auch habe ich nicht nöthig, die Zeit anzugeben, in welcher die Strecke thalabwärts zurückgelegt wurde; sie steht in der Chronik von Simpsons Bar verzeichnet. Genug, daß sie, wie es Dick vorkam, im nächsten Augenblick in den überschwemmten Ufern des Klapperschlangenbachs herumpatschte. Wie Dick erwartete, trieb sie der Schuß, in den sie gerathen war, über die Stelle hinaus, wo sie hätte zurückscheuen können, und indem er sie zu einem mächtigen Sprunge zusammenhielt, setzten sie mitten in die rasch fließende Strömung hinein. Ein paar Augenblicke Ausschlagen nach hinten, Waten und Schwimmen, dann that Dick einen langen Athemzug auf dem jenseitigen Ufer.
Die Straße vom Klapperschlangenbach nach dem Rothen Berge war leidlich eben. Entweder hatte der Sprung in den Klapperschlangenbach ihr böses Feuer gedämpft, oder die Kunst, die zu demselben führte, hatte ihr gezeigt, daß ihr Reiter ihr an Bosheit überlegen war; denn Jovita verschwendete ihren Ueberschuß an Energie nicht mit eitlen Tücken. Einmal bockte sie, aber es war die Kraft der Gewohnheit, einmal scheute sie, aber es war vor einem neuen, frisch angestrichnen Meetinghause an der Kreuzung der Grafschaftsstraße. Vertiefungen, Gräben, Kiesaufschüttungen, Flecke frisch aufsprießenden Grases flogen unter ihren trappelnden Hufen dahin. Sie fing an, unangenehm zu riechen, ein oder zwei Mal hustete sie leicht, aber ein Nachlassen ihrer Kraft und Eile war nicht zu merken.
Um zwei Uhr hatte er den Rothen Berg passirt und begann in die Ebene hinabzureiten. Zehn Minuten später wurde die schnelle Pionierkutsche überholt, und ein »Mann auf einem Pinto-Gaul« jagte vorüber – ein Ereigniß von hinreichender Bedeutung für eine Bemerkung. Um halb Drei hob Dick sich mit einem lauten Jubelschrei in den Bügeln. Sterne glänzten durch die zerrissenen Wolken, und vor ihm aus der Ebene erhoben sich zwei Kirchthürme, ein Flaggenmast und eine zerstreute Linie schwarzer Gegenstände. Dick ließ seine Sporen klingeln und schwang seine Riata, Jovita jagte in Sprüngen vorwärts, und im nächsten Augenblicke fegten sie in Tuttleville hinein und hielten vor der hölzernen Piazza des »Hotels aller Nationen«.
Was sich diese Nacht in Tuttleville begab, ist nicht gerade ein Kapitel dieses Berichts. In der Kürze darf ich indeß erzählen, daß, nachdem Jovita einem schläfrigen Hausknechte übergeben worden, dem sie sofort durch einen Tritt unangenehm sein Bewußtsein wiedergab, Dick mit dem Schenken zu einer Tour durch die schlafende Stadt hinauseilte. Lichter strahlten noch aus einigen Tanzsälen und Spielhäusern, aber sie hielten, indem sie diese vermieden, vor verschiedenen geschlossenen Läden, weckten durch beharrliches Pochen und wohlberechnete Ausrufe die Besitzer aus ihren Betten und bewogen sie, ihre Ladenthüren aufzuriegeln und ihre Waaren zu zeigen. Manchmal begegneten sie Flüchen, aber häufiger dem Interesse und der Theilnahme an ihren Nöthen, und die Begegnung wurde unabänderlich mit einem Schluck abgeschlossen.
Es war drei Uhr, als dieses Vergnügen aufgegeben wurde und Dick, einen kleinen wasserdichten Sack von Gummi über die Schultern geschnallt, in das Hotel zurückkehrte. Aber hier lauerte ihm die Schönheit auf – die Schönheit reich an Reizen, überreich gekleidet, gewinnend durch ihre Rede, spanisch in ihrer Aussprache. Umsonst wiederholte sie ihre Einladung, mit in den Tanzsaal »Höher hinaus!« zu kommen, der glücklicherweise von allen Alpen erklimmenden Jünglingen mit Verachtung angesehen und auch von diesem Sohn der Sierras zurückgewiesen wurde – eine Zurückweisung, die in diesem Falle durch ein Lachen und sein letztes Goldstück gemildert wurde. Und dann sprang er in den Sattel und jagte hinaus in die einsame Straße und die noch einsamere Ebene, wo bald die Lichter, die schwarze Linie der Häuser, die Kirchthürme und der Flaggenmast hinter ihm in die Erde versanken und in der Ferne sich verloren.
Das stürmische Wetter hatte sich verzogen, die Luft war frisch und kalt, die Umrisse der benachbarten Landmarken waren deutlich zu sehen, aber es war halb fünf, bevor Dick das Meetinghaus und die Kreuzung der Grafschaftsstraße erreichte. Um das Ansteigen der Abflachung zu vermeiden, hatte er einen Umweg gemacht, in dessen klebrigen Koth Jovita bei jedem Sprunge bis an die Fesseln einsank. Es war eine schlimme Vorbereitung für ein fortdauerndes Steigen von fünf Meilen mehr, aber Jovita nahm die Beine unter sich zusammen und machte die Sache mit ihrer gewohnten blinden, an nichts denkenden Furie, und nach einer weiteren halben Stunde erreichte sie die lange Fläche, die nach dem Klapperschlangenbache führte. Noch eine halbe Stunde, und er konnte am Bache sein. Er warf die Zügel leicht auf den Hals der Stute, bearbeitete sie mit den Bügeln und begann zu singen.
Plötzlich scheute Jovita mit einem Sprung, der einen weniger geübten Reiter aus dem Sattel geworfen hätte. An ihrem Zügel hing eine Gestalt, die über den Graben herübergesprungen war, und zu gleicher Zeit erhob sich vor ihr auf der Straße der Schatten eines Pferdes und seines Reiters. »Die Hände in die Höhe!« befahl diese zweite Erscheinung mit einem Fluche.
Dick fühlte, wie die Stute unter ihm zitterte, zuckte und augenscheinlich sinken wollte. Er wußte, was es bedeutete, und war vorbereitet.
»Zurück, Jack Simpson, ich kenne Euch, Ihr verdammter Spitzbube. Laßt mich vorbei, oder –«
Er vollendete den Satz nicht. Jovita erhob sich mit einem furchtbaren Satze kerzengerade in die Luft, schleuderte die Gestalt an ihrem Gebiß mit einem einzigen Ruck ihres tückischen Kopfes weg und stürzte sich mit tödtlicher Bosheit auf das Hinderniß vor ihr los. Ein Fluch, ein Pistolenschuß, Roß und Räuber wälzten sich übereinander auf der Straße, und im nächsten Augenblicke war Jovita hundert Schritte davon. Aber der gute rechte Arm ihres Reiters hing, von einer Kugel zerschmettert, hülflos an dessen Seite herab.
Ohne seine Eile zu mäßigen, nahm er die Zügel in die linke Hand. Aber einige Augenblicke später war er genöthigt, Halt zu machen und den Sattelgurt zu spannen, der bei dem Ansprung gerutscht war. Dies erforderte bei seiner krüppelhaften Lage einige Zeit. Er fürchtete keine Verfolgung, aber indem er emporblickte, sah er, wie die östlichen Sterne bereits erbleichten, und wie die entfernten Gipfel ihre gespenstige Weiße verloren hatten und sich jetzt schwärzlich von dem lichteren Himmel abhoben. Der Tag war ihm auf den Fersen. Dann von einer einzigen Idee ganz in Anspruch genommen, vergaß er den Schmerz seiner Wunde und jagte, nachdem er wieder aufgesessen, auf den Klapperschlangenbach zu. Aber jetzt wurde der Athem Jovita's durch Keuchen unterbrochen, Dick taumelte in seinem Sattel, und lichter und immer lichter wurde der Himmel.
Reite, Richard! Lauf, Jovita! Zögere, o Tag!
Die letzten paar Ruthen brauste es ihm in den Ohren. War es Erschöpfung vom Blutverlust oder was? Es war ihm schwarz vor den Augen, ihn schwindelte, und er erkannte seine Umgebung nicht, als er thalabwärts fegte. Hatte er eine falsche Straße eingeschlagen, oder war dies der Klapperschlangenbach?
Er war's. Aber der murmelnde Bach, den er vor wenigen Stunden durchschwommen, war jetzt um mehr als das Doppelte seiner Wassermasse gestiegen und rauschte nun als rascher, Alles fortreißender Fluß zwischen ihm und dem Klapperschlangenberge. Zum ersten Mal in dieser Nacht sank Richard der Muth. Der Fluß, der Berg, der lebendig werdende Osten verschwamm vor seinen Augen. Er schloß sie, um seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Während dieser kurzen Zwischenzeit stiegen durch einen phantastischen Geistesproceß der kleine Verschlag und die Gestalten des schlafenden Vaters und Sohnes vor ihm auf. Er öffnete wild seine Augen, warf Rock, Pistol, Stiefeln und Sattel hin, band sein kostbares Packet sich dicht an die Schultern, faßte die nackten Flanken Jovita's kräftig zwischen seine entblößten Knie und stürzte sich mit einem lauten Aufschrei in das gelbe Wasser. Ein Schrei erhob sich vom andern Ufer, als der Kopf eines Mannes und eines Pferdes einige Augenblicke gegen die wirbelnde Strömung kämpften und dann inmitten von entwurzelten Bäumen und strudelndem Treibholz fortgerissen wurden.
*
Der Alte Mann fuhr zusammen und erwachte. Das Feuer auf dem Herde war erloschen, die Kerze in der äußern Stube flackerte in ihrer Tülle, und jemand pochte an die Thür. Er öffnete sie und fuhr zurück vor der triefenden, halbnackten Gestalt, die gegen die Thürpfoste taumelte.
»Dick?«
»Bst! Ist er schon wach?«
»Nein – aber Dick? –«
»Maul halten, Du alter Narr! Gieb 'nen Tropfen Whiskey her, rasch!«
Der Alte Mann flog fort und kam zurück – mit einer leeren Flasche! Dick würde geflucht haben, aber seine Kraft versagte ihm dazu den Dienst. Er wankte, griff nach der Thürklinke und winkte dem Alten Mann.
»Da ist was in meinem Sack hier für Johnny. Nimm mir's ab. Ich kann nicht.«
Der Alte Mann machte die Riemen des Sacks los und legte ihn vor den erschöpften Mann hin.
»Mach auf, rasch!«
Er that es mit zitternden Fingern. Der Sack enthielt nur ein paar ärmliche Spielsachen – wohlfeil und barbarisch genug, Gott weiß es, aber glänzend von Farbe und Flittergold. Ein Stück davon war zerbrochen, ein anderes, fürchte ich, unheilbar verdorben durch Wasser, und auf dem dritten – o weh! – saß ein grausamer Blutstropfen.
»Es sieht nicht nach viel aus, das muß wahr sein,« sagte Dick bedauernd ... »Aber 's ist das Beste, was wir leisten konnten ... Nimm sie, Alter Mann, und stecke sie ihm in seinen Strumpf, und sag ihm – sag ihm, weißt Du – halte mich, Alter Mann!« – Der Alte Mann griff nach seiner sinkenden Gestalt. »Sag ihm,« sagte Dick mit einem matten Lächeln, »sag ihm, der Sante Claus wäre gekommen.«
In Amerika heißt der Heilige Christ wie in den westlichen Gegenden Deutschlands Sante Claus, und die Bescheerung erfolgt, indem man den Kindern die betreffenden Weihnachtsgeschenke des Nachts in ihre Strümpfe steckt, wo sie dieselben am Morgen beim Ankleiden finden.
D. Uebers.
Und so kam denn richtig, besudelt, zerlumpt, unrasirt und ungeschoren, den einen Arm hülflos an der Seite herabhängend, Santa Claus in Simpsons Bar an und fiel ohnmächtig auf der ersten Thürschwelle nieder. Der Weihnachtsmorgen dämmerte dann langsam auf und übergoß die ferneren Berggipfel mit der rosigen Wärme unaussprechlicher Liebe. Und er blickte so zärtlich auf Simpsons Bar, daß das ganze Gebirge, wie über einer großherzigen That betroffen, bis in die Himmel hinauf erröthete.